DUNKLE ZEITEN. Dane Hatchell

DUNKLE ZEITEN - Dane Hatchell


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Briefmarke auf den Umschlag zu kleben, dann wäre alles erledigt gewesen, ein für alle Mal.

      Seine wahre Bestimmung war nun einmal kein Ort auf einer Karte. Rico würde erkennen, dass er sie gefunden hatte, wenn es dazu kam. Er spürte, dass sich die Ketten seines Lebens in Killeen immer straffer spannten, je weiter er die Straße entlangfuhr. Der Wind pfiff durch sein Haar und seine Berge von Problemen schrumpften im Rückspiegel zu kleinen Hügeln. Bald schon würden sie nichts weiter sein als Kiesel, die er für immer aus seinem Weg treten konnte.

      Die Lenkstange, festgehalten mit beiden Händen, geleitete ihn in die Zukunft. Die Nadel des Tachometers zeigte fünfundsiebzig Meilen die Stunde an. Er wünschte sich jetzt, den Schlussstrich schon vor langer Zeit gezogen zu haben.

      Was er brauchte, war ein Neustart, vor allem nach den Ereignissen vor einem halben Jahr. Von allem, was ihm nachts den Schlaf raubte – seine Ex, der Job, die Wiederauferstehung der Toten – setzte ihm der Kampf in der Kneipe immer noch am schwersten zu. Die Schüsse … sie dröhnten jedes Mal wieder in seinem Kopf, wenn er lange genug in sich ging, um daran zu denken. Egal wie oft er glaubte, es endlich weggesteckt zu haben. Die Bilder drängten sich stets wieder in ihm auf. Aus diesem Grund war er jetzt auf der Flucht. Er musste sich einfach von jener Stadt entfernen … er musste seine geschiedene Frau zurücklassen … und er musste endlich mit jener Nacht abschließen.

      Ein älterer Ford Ranger näherte sich ihm auf der Gegenspur und fuhr an ihm vorbei. Der Pick-up röhrte aus dem letzten Loch, und Rico fragte sich, wie weit ein Auto in einem derart schlechten Zustand wohl noch kommen würde, bevor es komplett auseinanderfiel. Der Motor des Fahrzeugs stotterte und hatte eine Fehlzündung nach der anderen; er knallte wie eine doppelläufige Flinte. Das ließ Rico auf seinem Sitz zusammenzucken, weil ihm spontan wieder der Moment einfiel, als er seine Pistole auf die Leiche gerichtet und abgedrückt hatte, um ihr endgültig die Lichter auszublasen. Der laute Schuss, der Treffer ins Auge, die Knochensplitter und die Hirnmasse, die aus dem Hinterkopf gespritzt war, als die Kugel ihn durchgeschlagen hatte. Seine Kugeln hatten das Fleisch verheert, es mochte totes Fleisch gewesen sein, aber nichtsdestotrotz Fleisch.

      Während seiner Dienstzeit war es über die Jahre hinweg üblich gewesen, dass Beamte, die auf Menschen geschossen oder diese getötet hatten, mit dieser seelischer Belastung klarkamen. Teufel auch, mancher traf sich sogar versehentlich selbst, oder Polizeihunde waren an der Auseinandersetzung beteiligt … Zur Therapie wurde zwar immer geraten, und bisweilen durfte man seine Arbeit sogar nur wiederaufnehmen, wenn man sich behandeln ließ, aber das gab den anderen Cops immer Anlass zum Spott. Selbst Rico erinnerte sich daran, dass er ein paar Kollegen deshalb schikaniert hatte. Heutzutage würde er sich das Ganze verkneifen, denn erst jetzt hatte er begriffen, wie dringend notwendig es war, sich zu öffnen und seine wahren Gefühle hinauszulassen. Ihm war bewusst geworden, dass man die Saat des Unheils nur auf eine einzige Weise am Aufgehen hindern konnte, nämlich indem man frei, unverblümt und aufrichtig mit sich selbst und seinen Mitmenschen umging.

      Der Auspuff des Pick-ups knallte erneut, während er sich entfernte.

      Rico musste auf seine Hände achten, um das Motorrad unter Kontrolle halten zu können. Seine Gedanken schweiften erneut zu dem Monster zurück, das Pop bekämpft hatte, und zu der Kugel aus seiner Pistole, der es letztlich erlegen war. Er nahm das Gas ein bisschen zurück und ließ sich bis auf sechzig Meilen pro Stunde ausrollen.

      Bald darauf verschwand der Ford. Er war weg, genauso wie seine Erinnerung.

      Jetzt gab es nichts mehr außer der leeren Fahrbahn … auch keine Ortsgebundenheit mehr.

      Rico mochte dieses Gefühl. Mit der Straße vor sich hoffte er, jene schrecklichen Eindrücke von gestern durch die Freiheit eines besseren Morgens ersetzen zu können.

      Er würde sein Ziel vielleicht weder innerhalb eines Tages noch einer Woche finden, doch eines war gewiss: Über kurz oder lang würde er es erreichen!

      Die Sonne neigte sich zusehends dem Horizont entgegen, glühend wie ein vollkommen rundes Stück Kohle. Die Hitze der trockenen Luft und des schwarzen Asphalts wich den ersten Stößen kühler Nachtluft. Der Temperaturabfall tat seiner Haut gut, die heute zu viel Licht und Wind abbekommen hatte.

      Als sein Handy in der Hosentasche vibrierte, gab er seiner Neugier nach. Er griff hinein und fummelte das Gerät heraus. Ein kurzer Blick auf das Display, und er sah die Nummer der letzten Person auf Erden, mit der er im Moment ein Wort hätte wechseln wollen.

      Es war Mary Ettas Anwalt. Rico verdrehte die Augen, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Straße. Eine Kette hielt ihn offenbar immer noch an Killeen fest, und das regte ihn auf. Er schnaubte wie ein Stier, der gleich lospreschte, als er seinen letzten Streit mit dem Wichser noch einmal Revue passieren ließ. Seine Hand ums Telefon verkrampfte sich, und er hätte es am Liebsten zerdrückt. Es hatte endlich zu vibrieren aufgehört, fing aber bereits drei Sekunden später wieder an. »Fick dich!«, schrie Rico in den Wind hinaus. Er warf das Handy kurzerhand vor seine Harley und versuchte, mit beiden Reifen darüberzufahren. Wenn ich alles hinter mir lassen will, dann muss es auch wirklich alles sein.

      Beim Weiterfahren auf dem Highway bereute er seine Entscheidung, das Gerät wegzuwerfen, nach wenigen Meilen bereits, aber jetzt war das Kind eben in den Brunnen gefallen. Ein Neuanfang für Rico würde eben auch ein neues Telefon und eine neue Nummer mit sich bringen. Bald darauf fühlte er sich sogar noch befreiter, so als sei jene letzte Kette, die ihn noch an die Vergangenheit gefesselt hatte, ebenfalls gesprengt worden.

      Er setzte seinen Weg fort, während das Brausen der Maschine von den Mesquitebäumen zurückgeworfen wurde, die sich wie Mauern zu beiden Seiten der Fahrbahn entlang reihten.

      Zu diesem Zeitpunkt, als der letzte Sonnenstrahl auf den texanischen Asphalt des Highways 105 fiel, war Rico bereits meilenweit von seiner alten Heimat entfernt.

      Ob er die Stadt Killeen je wiedersehen würde?

      Kapitel 6

      Die Sterne am Himmel funkelten wie winzige Diamanten, verstreut auf schwarzem Samt, als Rico beschloss, haltzumachen und es für heute gut sein zu lassen. Vermutlich wäre er sogar noch weitergefahren, doch die Tankanzeige des Motorrads holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Unter dem weiten Himmel von Texas lässig durch die kühle Dunkelheit zu fahren, vermittelte ihm einen jenseitigen Eindruck. Sein Frontscheinwerfer schien ein Wurmloch im Gefüge von Raum und Zeit zu öffnen. Obwohl er natürlich wusste, dass er den Planeten nicht verlassen hatte, wollte er die Welt gern durch neue Augen betrachten und frühere Fehler nicht wiederholen.

      Hätte er seinen Verstand nicht mit Gedanken an – unter anderem – die Geisterstunde belastet, wäre ihm vielleicht bewusst gewesen, wo er eigentlich war. Was die Strecke anging, erinnerte er sich nur noch daran, größtenteils auf dem Highway 105 geblieben zu sein, bevor er auf eine interessant aussehende Schnellstraße abgebogen war, die man anscheinend erst kürzlich neu asphaltiert hatte. Dort fuhr es sich entspannter, wodurch er sich nur noch weiter in seine Grübeleien vertieft hatte. Hätte er schätzen müssen, würde er sagen, dass er sich höchstwahrscheinlich weit südlich von Huntsville befand.

      Nicht eine Ausfahrt mit Tankstellenschild bewog ihn dazu, auf seine Kraftstoffanzeige zu schauen und kurz haltzumachen, sondern ein Streckenkreuz, wo zuerst ein Wagen zu seiner Rechten ankam. Er wartete darauf, dass der Fahrer wieder Gas gab, wobei sein Blick unwillkürlich auf die Armatur fiel, denn die Nadel stand bereits kurz vor dem roten Bereich. Er konnte von Glück reden, dass nur ein kleines Stück weiter eine kleine Tankstelle mit angegliedertem Restaurant und Motel lag.

      Als ein Auto vorbeifuhr, drückten zwei kleine Jungen auf der Rückbank ihre Gesichter gegen die Scheibe und winkten ihm. Rico zeigte ihnen einen ausgestreckten Daumen und hupte zwei Mal kurz hintereinander. Er konnte sich noch gut an seine Kindheit erinnern, als er auch immer von Motorrädern und deren Fahrern fasziniert gewesen war.

      Nachdem er heruntergeschaltet hatte, ließ er die Kupplung langsam kommen und legte das kurze Stück bis zur Tankstelle zurück. Ein Schild an der Straße warb mit dem billigsten Sprit im ganzen Ort. So wie die Anlage aussah, konnte man das sowohl im gemeinten Sinn von


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