DUNKLE ZEITEN. Dane Hatchell
ein paar kleinere, einen an meinem Ellbogen, den anderen auf einem Fingergelenk.«
»Bist du deshalb mal beim Arzt gewesen?«
»Natürlich. Die verdammten Wunden wollten einfach nicht heilen, also ging ich zu einer dieser Ambulanzen. Dort desinfizierte man die Kratzer, gab mir etwas Salbe und Tabletten. Geändert hat sich nichts. Sie sind immer noch da, aber das ist keine große Sache, stört mich auch nicht allzu sehr. Juckt bloß von Zeit zu Zeit.«
»Wie sieht es mit den anderen Symptomen aus, von denen die Leute berichten: Fieber, Durchblutungsstörungen, triefende Nase und tränende Augen?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Allergien, aber kein Fieber. Außerdem habe ich schon fast mein ganzes Leben lang Durchblutungsstörungen.« Pop hob seine Hände. »Mir ist klar, worauf du anspielst, aber ich denke, die Medien versuchen nur, aus einer Maus einen Elefanten zu machen. Dieses Jahr wird nicht gewählt, also suchen sie halt etwas anderes, um Schlagzeilen zu machen.«
»Ich bin unschlüssig, Pop. Ist es nur ein Zufall, dass diejenigen, die sich Schnitte oder Bisse zugezogen haben, als die Untoten angegriffen haben, alle unter den gleichen Krankheitszeichen leiden? Das gilt auch für alle, die Körperflüssigkeiten mit ihnen ausgetauscht haben. Ich habe gehört, laut einer vorsichtigen Schätzung mache die Zahl der Betroffenen fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus. Andere behaupten, es könnten sogar bis zu dreißig Prozent sein. Das bedeutet, Millionen von Menschen könnten die gleiche Krankheit haben, gegen die bisher niemand ein Mittel gefunden hat.«
»Na und? Erkältungen gehen seit Ewigkeiten um, und wir werden sie einfach nicht los. Man wird ein paar rezeptfreie Medikamente entwickeln, um die Symptome zu lindern. Die Pharmaindustrie wird Millionen verdienen.«
Rico hielt sich den Becher an seinen Mund. »Ich hoffe, du hast recht. Wirklich.« Das Ginger-Ale prickelte im Abgang, als er noch einen Schluck trank. Er hatte das Gefühl, die Wände des Lokals würden langsam immer näherrücken. Verblasste Erinnerungen an jene grauenvolle Nacht keimten in ihm auf, als Rico seinen Blick durch den Raum schweifen ließ – und jeden Augenblick halb damit rechnete, einen verschmierten Handabdruck am Fenster zu sehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit stellte er sich vor, wie sein Ginger Ale wohl mit ein, zwei Schuss Wodka schmecken würde.
»Hey Pop, denkst du noch häufig an jene Nacht zurück?« Er spürte, wie die schleichende Angst vor jenem realen Albtraum wieder zurückkehrte.
»Ich? Klar doch. Nun ja, in letzter Zeit nicht mehr so oft. Kurz, nachdem es passiert ist, musste ich die Geschichte jedem erzählen, der herkam. Der Betrieb nahm deutlich zu, weshalb ich sogar zusätzliches Personal einstellen musste. Ich glaube, als ich die Sache zum letzten Mal abgespult habe, habe ich behauptet, zehn Zombies mit einem Zahnstocher erledigt zu haben, an dem noch eine Olive aufgespießt war. Diese hätte ich dann gegessen, als der letzte von ihnen am Boden lag.
Rico kicherte. »Mann, du solltest dir den Scheiß mal anhören, den einige der Jungs auf der Wache verzapfen. Ein Mann-Armeen – jeder von ihnen.«
»Erinnerst du dich noch an den Baseballschläger? Schau mal hinter dich.«
Rico drehte sich im Sitzen um und sah das schmutzige verklebte Holz in einem rechteckigen Glaskasten an der Wand hängen. Auf einem gravierten Schild aus Messing stand »Denise«.
»Du hast dem Schläger einen Namen gegeben?«
»Ach weißt du, das verlieh der Geschichte irgendwie mehr Farbe – gehört zur Legendenbildung. Ich habe den Schläger nach der fiesesten Rothaarigen benannt, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe: Denise Wannamaker. An ihr hatte ich definitiv einen Narren gefressen.« James' entrückter Blick brachte Rico darauf, dass einem Verflossene irgendwie ewig nachhingen.
»Pop, es war großartig, sich mal wieder mit dir kurzzuschließen. Ich verlasse die Stadt jetzt für ein paar Wochen … ich nehme meinen ganzen Jahresurlaub auf einmal … einfach losfahren und dort bleiben, wohin es mich verschlägt.«
»Gut für dich. Was auch immer du im Leben suchst, ich hoffe, du findest es.«
»Ich auch, Pop, ich auch.« Rico rutschte nun vom Hocker herunter und hob seinen Rucksack auf. »Du bist also sicher, dass alles Okay ist mit dir? Kerngesund, wie du gesagt hast?«
»Mach dir bloß keinen Kummer meinetwegen. Ich bin fit wie ein Turnschuh, und eines steht fest. Mich trifft nicht die Schuld, mit irgendwem Körperflüssigkeiten ausgetauscht und die Person auch noch krank gemacht zu haben.« Der alte Mann war hartherzig, aber Rico liebte seinen trockenen Humor von jeher.
»Ach was? Warum denn nicht? Ruf doch mal deine holde Denise an. Jede Wette, dass sie diese rote Mähne immer noch auf dem Kopf hat.«
»Da könnte was dran sein, aber wenn ich an ihr jetziges Alter denke, glaube ich nicht, dass die Vorhänge noch zum Rest des Hauses passen.«
***
Sich mit Pop zu treffen war genau das, was Rico gebraucht hatte, um seinen Kopf freizubekommen, bevor er zu seinem – darauf baute er – größten Abenteuer aller Zeiten aufbrach. Er hatte keinen richtigen Plan und kam sich dämlich vor, wenn ihn seine Kollegen auf der Wache damit aufzogen, dass er nicht wusste, wohin er fahren wollte. Vergiss sie einfach, dachte er sich. Etwas in ihm drängte ihn zum Fliehen, so als erwarte ihn eine große Belohnung oder eine Erleuchtung in irgendeiner Form gleich hinter der nächsten Kurve. Der Nebel der Depression umwehte ihn immer, egal wohin er in Killeen ging, vor allem im Fitnessstudio, während er auf dem Laufband stand. Sie rührte in erster Linie von Mary Etta her, aber auch von den Niederlagen, die er im Laufe seines Lebens erlitten hatte. Und die vertuschten Dinge, die er getan hatte, ohne, dass jemand davon wusste, außer ihm selbst. Die Zukunft würde extreme Veränderungen für ihn mit sich bringen. Er konnte es spüren … und auch kaum erwarten, dass es dazu kam.
Der Feuereifer, mit dem er als Vertreter des Gesetzes gedient hatte, war ihm nahezu vollkommen abhandengekommen. Allein auf seinen gegenwärtigen Gefühlszustand und seine Scheidung ließ sich das jedoch nicht zurückführen. Es lag in Wirklichkeit viel tiefer begründet. Zumindest war er sich selbst gegenüber ehrlich geworden. So simpel es sich auch anhörte: Genau das hatte ihn überhaupt erst zum Umdenken bewogen – das und die »Geisterstunde«, wie der landläufige Name für die Nacht war, in welcher der außerirdische Erreger die Toten wieder zum Leben erweckt hatte.
Aber was bildete er sich ein? Praktisch jeder, der heil davongekommen war, ging das Leben nun mit einer anderen Einstellung an. Manche mussten es allerdings immer noch verarbeiten. Was Rico betraf, so hatte die Geisterstunde ein Verlangen in ihm geschürt, und das Einzige, was diesen Drang befriedigen könnte, waren ein Gasdrehgriff oder der Lenker eines Motorrads in seinen Händen, während es über einem Highway dahinjagte. Nun galt es, auszufliegen. Mary Etta und er waren nicht mehr Mann und Frau; dafür hatte sie bekanntlich gesorgt. Nach der Geisterstunde war sie fast zwangsläufig wild entschlossen gewesen, die Ehe so schnell wie möglich aufzulösen. Rico hatte insgeheim gehofft, sie werde sich eines Tages besinnen und zu ihm zurückgelaufen kommen, nachdem der Anstoß zur Trennung ja von ihr ausgegangen war, doch sie hatte eine Strategie der verbrannten Erde angewandt, um die Scheidung so schnell wie möglich durchzudrücken. Sie hatte in ihm nur einen Fettsack gesehen, der am Leben gescheitert war, und dieser hatte keinen Platz in ihren Plänen gehabt. Dafür hatte er sie zunächst verachtet, aber mittlerweile tat es gut, sie loszulassen. Denn genau das brauchte er letzten Endes, um als Mensch wachsen zu können. Ein wenig zurückgeschnitten zu werden tat vielleicht weh, doch die Triebe, die hinterher wachsen, sind stets kräftiger.
Rico musste sich unbedingt verändern. Er hatte seinen ganzen Schwung verloren, seinen inneren Antrieb zur Gewissenhaftigkeit, damit er stets alle Erwartungen erfüllte, die man auf der Arbeit an ihn stellte. Mit seiner momentanen Einstellung würde er vielleicht in heikle Situationen geraten und sich womöglich letzten Endes bei der Ausübung seiner Pflicht umbringen. Ein Held zu sein – danach strebte jeder Officer insgeheim, doch als Held zu sterben war einfach nur dumm. Zwei Monate nach der Geisterstunde hatte er deshalb ein Gesuch zur Entlassung aufgesetzt und bei seinem Chief eingereicht, der es ihm schließlich aber hatte ausreden können. Das Schreiben war bei Rico zu Hause auf einem Tisch