Mord mit Absicht. Peter Eckmann
Sitzgelegenheiten bis auf die Bürgersteige erweitert. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, die ihn an die Straßencafés in München erinnert.
Er entdeckt eine Gaststätte, die direkt am Ostertorsteinweg liegt. Sonnenschirme sind neben den Tischen auf dem Bürgersteig aufgestellt, sodass er draußen sitzen und beim Essen das gute Wetter genießen kann. Die eigentlichen Räume der Gaststätte sind nicht so freundlich, wie die bunten Sonnenschirme vermuten lassen. Drinnen wirkt es düster und unordentlich, das Essen ist dagegen ohne Tadel.
Er kommt nicht umhin, die Toilette zu benutzen. Hier ist offenbar schon länger nicht richtig sauber gemacht worden, dicker Staub liegt auf dem Wasserkasten.
Aus der Kabine nebenan ertönt plötzlich Lärm, jemand stößt gegen die Trennwand, laut dringen Männerstimmen zu ihm herüber.
Jetzt schreit ein Mädchen. Ein Mädchen – auf dem Herrenklo? „Au, ihr Schweine! Lasst mich los!“
„Halt endlich still, du Schlampe!“
Das war ein Mann. Alexander Finkel beschließt, sich das näher anzusehen. Der schmerzhafte Schrei des Mädchens hat ihn aufgeschreckt. „Jeden Tag eine gute Tat“, der Satz von seinem Freund Rüdiger, fällt ihm wieder ein. Er verlässt seine Kabine und rüttelt an der Tür nebenan. „Was ist da los? Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!“
Die Tür gibt nach, jemand drückt von innen, sie war nicht verschlossen und schwingt jetzt nach außen auf. Drei Personen sind in dem kleinen Raum. Es ist keine Toilette, sondern ein Abstellraum, hier werden Putzmittel, Besen, Schrubber und andere Geräte aufbewahrt. Auf dem Boden liegt ein Mädchen, ein junger Mann hält ihre Arme, der andere Mann hat dem sich heftig wehrenden Mädchen die kurze Hose ausgezogen. Sie strampelt mit den Beinen und windet sich mit aller Kraft, doch den beiden Männern ist sie nicht gewachsen.
„Hallo! Lassen Sie das Mädchen sofort los!“ Die beiden drehen sich kurz zu ihm um, grinsen frech und lassen sich nicht stören, das Mädchen weint und wehrt sich mit Händen und Füßen, aber gegen zwei Männer hat sie keine Chance. Alexander überlegt fieberhaft, was er tun kann, er ist geschwächt, auf ein Handgemenge mit den Männern kann er sich nicht einlassen. „Ich hole die Polizei!“, ruft er, fischt sein Handy aus der Hemdtasche und beginnt, den Vorgang zu filmen. Kurz blinkt das Einstelllicht und irritiert die Männer.
„Scheiße, Tobias, der Alte macht ernst!“, schreit einer der beiden, ein eher kleiner junger Mann mit schwarzem, sehr kurzem Haar.
„Nimm ihm doch das verdammte Handy weg!“, erwidert der andere, ein blonder Hüne mit tätowiertem Hals.
„Wieso ich?“
„Ach Scheiße!“
Sie lassen das Mädchen los, springen auf und drängeln sich an Alexander vorbei, sie rempeln ihn dabei so heftig an, dass er beinahe stürzt, sein Handy fällt auf den gefliesten Boden. Die Rüpel sind fort, er blickt zu dem Mädchen hinunter, die hockt auf den Knien und versucht sich aufzurichten.
„Hier bitte, halten Sie sich an meiner Hand fest.“
Sie greift danach, weicht jedoch seinem Blick aus, richtet sich auf und zieht den Schlüpfer und ihre schwarzen Hotpants hoch.
Als sie fertig ist, läuft sie wortlos an ihm vorbei. Etwas gekränkt blickt er ihr hinterher. Er hat keinen überschwänglichen Dank erwartet, aber wenigstens ein knappes Wort wäre doch wohl drin gewesen. Na gut, dann nicht. Er zuckt mit den Schultern und geht wieder nach draußen, sein Nachtisch wartet auf ihn.
Nur wenige Minuten später, er lehnt sich gerade entspannt zurück und beobachtet das Treiben auf der Straße und dem Bürgersteig, kommt das Mädchen aus dem Lokal heraus und setzt sich ein paar Tische entfernt auf einen Stuhl. Sie sieht die ganze Zeit auf ihr Handy, offenbar hat sie ihn nicht bemerkt. Jetzt legt sie ihr Telefon hin und sieht auf, kurz treffen sich ihre Blicke.
Er nippt an einem Espresso, als sie sich unerwartet an seinen Tisch setzt. „Ich bekomme noch Geld von dir.“
Alexander ist nicht wenig erstaunt. „Ich denke, ich sollte von Ihnen ein Dankeswort bekommen, und überhaupt: Warum duzen Sie mich?“
Sie blickt nervös auf die Tischdecke, dann sieht sie ihm ins Gesicht. „Ich sollte von den Jungs Geld kriegen, das hast du vermasselt.“
„Ich denke, ich habe Sie vor einer Vergewaltigung bewahrt, stimmt das etwa nicht?“
„Nicht ganz.“ Die Sache ist ihr offenbar peinlich. „Ich sollte von den beiden Typen hinterher bezahlt werden, zwanzig Euro pro Person waren abgemacht.“
Ihm fällt beinahe der Unterkiefer runter. Das Mädchen scheint demnach so etwas wie eine Prostituierte zu sein. „Aber wieso haben Sie geschrien und um Hilfe gerufen?“
„Ja, also – die Jungs waren schon fertig, beide nacheinander. Plötzlich wollten sie ein Sandwich mit mir machen. Also, das kommt für mich nicht infrage. Anal geht gar nicht, ich habe auch meine Prinzipien.“
Er muss grinsen, eine Nutte mit Prinzipien! „Wie alt sind Sie?“
„Warum willst du das wissen? Das kann dir doch scheißegal sein!“
„Warum sind Sie denn so unfreundlich zu mir?“ Beinahe bereut er es, dass er ihr vermeintlich geholfen hat.
Sie holt Luft. „Leute wie du sitzen auf dem hohen Ross, haben Kohle ohne Ende, keine Probleme und unsereiner muss sehen, wie er zurechtkommt! Dann bekommt man mal Hilfe, muss dafür aber bis ans Lebensende dankbar sein.“ Sie presst ihre Hände zusammen, stützt ihre Ellenbogen auf den Tisch und beginnt zu weinen, erst leise, dann immer heftiger.
Sie berührt ihn in ihrer Hilflosigkeit, wer weiß, was das Mädchen alles durchgemacht hat. Vielleicht sollte er doch versuchen, ihr zu helfen. Das ist die Gelegenheit, gut zu machen, was bei seinen eigenen Kindern falsch gelaufen ist. Früher hat es ihm an der nötigen Geduld und an Empathie gefehlt, er hatte kein Interesse daran, sich mit dem Seelenleben seiner Kinder auseinanderzusetzen. Gegenüber seiner Frau ist es auch nicht anders gewesen. Alexander sieht das Mädchen nachdenklich an. Jetzt ist alles anders, er hat jede Menge Zeit und es ist ihm ein Bedürfnis, die Fehler aus seinem früheren Leben zu korrigieren. Er legt eine Hand auf die des Mädchens. „Ich will Ihnen ehrlich helfen. Ich schlage vor, Sie erzählen mir, was Sie bedrückt. Dann können wir überlegen, ob und wie ich Ihnen helfen kann.“
Sie schnauft laut, dann beginnt sie leise, mit stockender Stimme zu erzählen. Ihre Mutter arbeitet als Prostituierte, ihren Vater hat sie nie kennengelernt. „Der ist mir auch scheißegal, was soll ich mit einem Vater, der nur zum Vögeln bei meiner Mutter war. Dass er dabei ein Kind gezeugt hat, war dem doch völlig egal.“ In der Schule stellte sie sich bald als sehr intelligent heraus, sie hat sogar ein paar Jahre das Gymnasium besucht. In der elften Klasse musste sie die Schule verlassen. Das Geld, das die Mutter verdiente, hat vorn und hinten nicht gereicht. „Sie hat vom Strich nicht mehr genug nach Hause gebracht, der Lack ist ab, jetzt reicht das Geld der Freier nicht mehr für uns beide“, erklärt das Mädchen. Mit sechzehn hat sie die ersten Erfahrungen auf dem Strich gemacht, zuerst nur gelegentlich. „Es müssen aber schon ein bis zwei Freier am Tag sein, sonst reicht es nicht fürs Essen und mein Zimmer, für etwas Speed hier und da muss auch noch was da sein.“ Sie sagt das, als spreche sie über den Einkauf von Kartoffeln.
„Nehmen Sie Rauschgift?“, fragt er irritiert.
Sie schüttelt heftig den Kopf, zu heftig für seinen Geschmack. „Nein, ich schniefe nur ab und zu etwas Speed, wenn ich mit Freunden am Wochenende mal abhänge. Ich kann jederzeit damit aufhören, wenn ich will.“
Na klar. Den Satz kennt Alexander. Das ist genau das Argument, mit dem Süchtige sich einreden, dass sie eben nicht abhängig sind. Alexander mustert sie nachdenklich. Sie sitzt zusammengesunken auf dem Stuhl, sie ist schlank, fast mager. Ihre schwarzen Haare sind kurz, fast wie ein Bürsten-Schnitt. Das Gesicht ist hübsch, wird aber durch zwei Piercings in der rechten Seite der Unterlippe entstellt.
„Sie wohnen also nicht mehr bei Ihrer Mutter?“
„Nee,