Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
war selbst mir als Laie klar.
Ich kramte in meinem Kleiderschrank nach einem passenden Outfit für den heutigen Tag, suchte mir eine weite weiße Leinenhose und ein figurbetontes dunkelgraues Top aus, zog den Schlafanzug aus, frische Unterwäsche und die ausgewählten Kleidungsstücke an, schleppte mich zum Bad und stand vor verschlossener Tür. Dampfschwaden drangen darunter hervor.
Ich stöhnte genervt und hämmerte energisch gegen die Tür. „Mutter“, schnauzte ich. „Ich muss rein. Ich hab’s eilig.“ Wie üblich hörte sie nichts, weil sie irgendeine Melodie vor sich hin summte und, wie ich vermutete, die Ohren voller Badeschaum hatte.
Meine Mutter war seit Monaten abartig guter Laune, ständig strahlte sie von einem Ohr bis zum anderen, tippte in einem fort auf ihrem Handy herum, erhielt irgendwelche SMS und kicherte blöd. Papa kommentierte das nicht, starrte nur teilnahmslos auf seinen überladenen Teller und tat, als ginge ihn das alles nichts an.
Ich hielt es kaum noch aus, mit den beiden am Tisch zu sitzen in der Gewissheit, dass ihre Ehe immer mehr den Bach runterging und keiner den Mund aufmachte. Ein paarmal war ich kurz davor gewesen, etwas zu sagen, hatte mich dann aber dagegen entschieden, schließlich war ich nur das Kind und eh bald wieder weg. Ich verkniff mir also jegliche Bemerkung, auch wenn ich oft fast daran erstickte, und sah dabei zu, wie die Ehe der beiden in sich zusammenfiel wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen geholt und dann stehen gelassen hatte.
Meine Mutter hatte einen Lover, dessen war ich mir ziemlich sicher. Das würde ihre permanent gute Laune erklären. Und Papa war das vollkommen egal.
Ich war im April 20 geworden. Ich war also kein Kind mehr. Falls die beiden sich scheiden lassen wollten, würde mich das nicht allzu sehr beeinträchtigen. Ich überlegte mir oft, wie es wohl für mich wäre, wenn die beiden die Scheidung einreichen und von da an getrennte Wege gehen würden. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn sie an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Häusern leben würden, nur noch das Nötigste miteinander redeten und sich ansonsten aus dem Weg gingen. Oder würden sie Freunde bleiben so wie Timo und ich?
Eigentlich hatte ich kein Recht, von den beiden zu verlangen, für immer zusammenzubleiben. Wenn es sich nicht mehr richtig anfühlte, wäre es okay, wenn sie sich scheiden ließen. Alles andere würde sie nur kaputt machen. Mama könnte mit ihrer neuen Liebe glücklich sein und Papa könnte sein Alkoholproblem wieder in den Griff kriegen.
Andererseits war es bei ihnen anders als bei Timo und mir. Sie waren seit dreißig Jahren zusammen, seit zweiundzwanzig verheiratet und sie hatten sich zusammen ein Leben aufgebaut. Sie hatten ein gemeinsames Kind, nämlich mich, und Tausende Erinnerungen. Konnte man das wirklich so einfach aufgeben? Ich kannte die Antwort nicht, stellte mir aber vor, wie schwer es sein musste, plötzlich ohne jemanden leben zu müssen, mit dem man dreißig Jahre lang so gut wie jeden Tag verbracht hatte. Jemand, der so lange Zeit Teil des eigenen Lebens, beinahe Teil des eigenen Selbst gewesen war, konnte man einen solchen Menschen überhaupt verlassen?
Energisch klopfte ich erneut gegen die Tür. „Mutter!“, brüllte ich und rüttelte an der Türklinke. „Lass mich rein!“ Das Wasser wurde abgestellt, ich hörte sie pfeifend aus der Dusche kommen, ergriff meine Chance und schlug mit der Faust fest gegen die Tür. „Mama!“
„Moment noch, Liebes“, rief sie vergnügt, ich hörte ein Klappern und Scheppern, etwas fiel zu Boden, dann wurde die Tür geöffnet und Mama stand mir gegenüber, Dampfschwaden waberten um ihren Kopf, ihr Haar hing nass herab, sie war in ein übergroßes gelbes Handtuch gewickelt und lächelte mir zu. „Geduld ist eine Tugend“, sagte sie weise.
„Ja, ja, schön. Treue auch“, entgegnete ich spitz, schob sie genervt beiseite und knallte die Tür zu. Ich erstickte fast hier drin, es war stickig und unerträglich heiß. Ich riss das große Fenster sperrangelweit auf, beugte mich hinaus und schnappte hektisch nach Luft.
Mama stand hinter mir und sah mich erschrocken an. „Was willst du damit sagen?“, fragte sie, ihre Stimme zitterte leicht.
Ich füllte meine Lungen noch mal mit Sauerstoff, ehe ich mich mit gestrafften Schultern zu ihr umwandte. „Mama, ich bin nicht blöd“, sagte ich geradeheraus. „Denkst du, ich hab nicht kapiert, was hier läuft?“ Ich drängte mich an ihr vorbei zum Waschbecken. „Glaubst du, ich hab nicht längst geschnallt, dass du eine Affäre hast? Mit wem auch immer, es interessiert mich eigentlich gar nicht, ich finde es einfach nur ziemlich billig und geschmacklos, dass du Papa so was antust. Nach dreißig Jahren Beziehung beschmutzt du eure Liebe, indem du mit irgendeinem anderen ins Bett steigst. Warum machst du nicht vorher Schluss, bevor du was Neues anfängst?“ Ich schnappte mir die Wimperntusche und machte mich ans Werk, meine Hand zitterte ganz leicht.
Mama stand schweigend hinter mir und sah mir dabei zu, wie ich mich schminkte. Ihre Unterlippe zitterte leicht, ihr Gesicht war knallrot, ob von den Dämpfen oder aus Scham konnte ich nicht sagen. Aber sie stritt es nicht ab. Sie stritt nicht ab, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab, einen, mit dem sie schlief. Ich spürte, wie ich wütend wurde. Wütend auf sie, weil sie Papa betrog mit irgendeinem Wildfremden. Oder vielleicht war es auch kein Fremder? Wütend auf Papa, weil er sie nicht zur Rede stellte, sondern soff und schwieg. Und auch auf mich, vor allem auf mich, weil ich nicht einfach die Klappe gehalten hatte. Warum hatte ich mich nicht rausgehalten? Meine Eltern waren erwachsen. Sie waren erfahrener als ich, in jeder Hinsicht.
Mama räusperte sich, wollte etwas sagen, stockte. Ich griff zum Kajal, zum Lippenbalsam, zur Haarbürste, kämmte mir das Haar so grob, dass ich es mir büschelweise ausriss. Ich spürte den Schmerz kaum.
„Edda, das ist nicht so einfach“, sagte sie zögernd und strich sich eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr. War das nun ein Schuldeingeständnis? „Es ist ... weißt du, zwischen Papa und mir lief es schon lange nicht mehr rund, schon bevor du nach Südafrika gegangen bist, hat es gekriselt. Ich hab so gehofft, dass wir das wieder hinkriegen, weil ich deinen Vater liebe, wirklich, das tue ich und das werde ich immer. Peter wird stets ein Teil von mir sein. Aber wir kennen uns so lange, Edda, über dreißig Jahre, wir sind so lange zusammen, unser halbes Leben. Und wir haben uns beide bemüht, haben versucht, die Ehe zu reparieren. Wir wollten dir gute Eltern sein, Maus, und das haben wir geschafft. Nun bist du erwachsen und ziehst in die weite Welt hinaus und für uns gibt es nichts mehr zu tun als Eltern.“
„Ich brauche immer noch Eltern“, murmelte ich matt.
Mama seufzte leise, streckte die Hand aus, als wolle sie mich berühren, doch als sie meinen Blick im Spiegel auffing, brachte irgendwas in meinen Augen sie dazu, die Hand zu senken.
„Natürlich, Süße, entschuldige, das war unglücklich formuliert. Ich meine nur, du bist kein kleines Kind mehr, du stehst auf eigenen Beinen, machst dein Ding und wir sind beide wahnsinnig stolz auf dich. Ich hatte diese ... Sache nicht geplant, Edda, ehrlich. Es ist einfach passiert. Zwischen mir und Paul, das ist was Besonderes. Zumindest fühlt es sich besonders an. Dein Vater weiß nichts davon und ich würde dich darum bitten, ihm nichts zu erzählen. Ich will ihn nicht verletzen.“
Ich schnaubte. „Das hast du längst getan“, sagte ich bitter und band meine Haare zu einem Knoten zusammen, sie waren hoffnungslos zerzaust trotz der Kämmerei. „Warum sagst du ihm nicht einfach die Wahrheit? Sag ihm, dass du ihn nicht mehr liebst und die Scheidung willst.“ Meine Stimme klang so emotionslos, dass ich selbst erschrak.
Mama schluckte schwer, ehe sie sich verzweifelt zu erklären versuchte. „Edda, ich kann ihn nicht verlassen. Nicht jetzt! Hast du nicht mitbekommen, wie er drauf ist? Er ... er hat Alkoholprobleme, Edda, er ist jeden Abend so betrunken, dass er in einen komatösen Schlaf fällt. Er ist kurz davor, seinen Job zu verlieren, seine Firma steht vor dem Bankrott. Ich kann ihn nicht verlassen, das würde ihn umbringen. Er braucht mich jetzt. Außerdem ist da das Haus, es gehört uns beiden zusammen. Ich kann deinen Vater nicht auszahlen, falls er ginge, und er mich nicht, falls er bliebe. Wir lassen alles vorerst so, wie es ist. Aber ich brauche Paul in meinem Leben, Edda, ohne ihn halte ich es nicht mehr aus. Er bringt mich auf andere Gedanken, er bringt mich zum Lachen, er ist mein Fels in der Brandung.“ Eine kleine Träne kullerte ihr über die Wange, schnell wischte sie