Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
viele schöne Kindheitserinnerungen hoch. Wie ich mit meinen Großeltern einmal einen Drachen mit vielen bunten Bändern gebastelt hatte zum Beispiel oder wie wir eine Igelfamilie den ganzen Herbst hindurch mit Katzenfutter versorgt hatten und sie abends stundenlang im Garten beobachten konnten. Ich erinnerte mich ans Kürbisschnitzen, an das Schneidern der Halloweenkostüme und die Vorfreude aufs Erntedankfest.
Heute war der Himmel den ganzen Tag über mit dunklen, tief hängenden Wolken übersät gewesen, und als ich nun zu Marlene ins Auto stieg, tröpfelte es. Sie drehte den Zündschlüssel im Schloss, legte den ersten Gang ein und schaltete die Heizung an. Kurz darauf blies mir warme Luft entgegen, während wir zum Kino fuhren und uns gemeinsam auf den spannenden Film freuten.
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2004
Edda: Der Wecker ging um sieben Uhr morgens und ich hätte ihn am liebsten gegen die Wand gedonnert. Mit geschlossenen Augen tastete ich orientierungslos auf meinem Nachtkästchen herum, bis ich das lärmende Teil zu fassen bekam. Ich drosch zweimal
mit der flachen Hand darauf ein und atmete erleichtert auf, als das durchdringende, ohrenbetäubende Schrillen abrupt abbrach.
Ganz langsam machte ich ein verquollenes Auge auf, linste in Richtung Fenster. Schwach drangen die ersten Sonnenstrahlen durch den dünnen weinroten Vorhang, Vögel trällerten in den Bäumen ein fröhliches Morgenlied und ich hatte miese Laune. Es war Montag, eine neue Woche erstreckte sich scheinbar endlos vor mir, ohne irgendwelche Höhepunkte, sie würde ebenso langweilig und gewöhnlich werden wie all die anderen tristen grauen Wochen zuvor.
Ach, vielleicht würde mir heute wieder ein Kind das Shirt vollkotzen wie letzten Donnerstag oder Luca, dieser unerzogene Rotzlöffel, würde mich in die Hand beißen, sobald ich versuchte, ein Spielzeug aus seinen klebrigen, pummeligen Patschhändchen zu befreien. Oder Kevin würde mir seinen Frühstücksteller mit dem Marmeladenbrötchen darauf in den Schoß kippen und das Brötchen würde, welche Überraschung, mit der bestrichenen Seite nach unten auf meiner Hose landen. Ja, solch aufregende Dinge erlebte ich Tag für Tag mit den kleinen Rowdys.
Allein der Gedanke an den kommenden 1. September hielt mich aufrecht ‒ dann würde ich abfliegen. Nach Australien. Zu meiner Gastfamilie. Mittlerweile hatte sich bei dem Au-pair-Programm nämlich ganz schön was getan. Ich hatte zu mehreren Gastfamilien aus Australien, dem Land, für das ich mich entschieden hatte, Kontakt gehabt, alles Eltern, die sich meine Bewerbungsunterlagen und das kleine Vorstellungsvideo, das ich von mir gedreht und ebenfalls an die Vermittlungsagentur gesendet hatte, angesehen hatten und mich kennenlernen wollten. Wir hatten miteinander telefoniert, über Skype sowie per E-Mail Kontakt gehabt und von einigen Kindern hatte ich schon gemalte Bilder zugeschickt bekommen.
Von Anfang an hatte ich mich mit der Familie aus Sydney am besten verstanden, wir sprachen locker und zwanglos miteinander, die Worte kamen mir leicht über die Lippen und alle Familienmitglieder waren mir äußerst sympathisch. Schlussendlich entschied ich mich für diese Familie, obwohl ich noch zwei andere zur Auswahl gehabt hätte.
Er hieß Liam, sie Chloe und gemeinsam hatten sie drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Der Älteste der Rasselbande hieß Cooper und war zehn Jahre alt, Noah war sechs und die kleine Mia erst ein Jahr alt. Sie waren alle drei zuckersüß und unglaublich wohlerzogen und freundlich. Ich freute mich wahnsinnig darauf, sie bald richtig kennenzulernen, die ganze Familie Adams.
Aber jetzt war erst Mai, mir standen noch vier ätzend lange Monate bevor, ehe ich endlich die Biege machen konnte. Es nützte alles nichts, ich musste aufstehen, in einer Stunde musste ich im Kindergarten sein. Freispiel, Morgenkreis, noch mehr Freispiel, Frühstück, die Kinder für den Garten fertig machen, mit ihnen draußen spielen, wieder rein, Mittagessen, Nachmittagsprogramm ... es war immer dasselbe.
Ich wusste, dass ein geregelter Tagesablauf für Kinder wichtig war, sie brauchten Routine. Ich hingegen langweilte mich zu Tode. Immerzu dasselbe, tagein, tagaus.
Ich war unzufrieden mit meinem Leben und schämte mich dafür, da andere Leute es wesentlich schlimmer getroffen hatten als ich, aber mir ging es momentan einfach nicht gut. Es war, als wäre mein Leben zum Stillstand gekommen, nichts ging voran, alles schien ein einziger fetter Klumpen aus bedeutungslosen Ereignissen zu sein. So hatte ich mir mein Leben wirklich nicht vorgestellt. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Ein Praktikum im Kindergarten ... vielleicht hätte ich einfach zu studieren anfangen sollen, auch wenn ich nach wie vor nicht wusste, was eigentlich.
Lustlos schwang ich die Beine aus dem Bett und hievte mich in die Höhe. Kurz verharrte mein Blick auf den Fotos über meinem Bett. In einem weißen Rahmen zierte das Foto von Chris und mir Arm in Arm im Park Güell die Wand, daneben hing ein Bild, auf dem wir Blödsinn machten und wilde Grimassen schnitten. Es war an einem Abend in einer Bar aufgenommen worden, als Chris letzten Oktober für ein Fotoshooting in Köln gewesen war. Wir hatten uns, so oft es ging, getroffen und er hatte mich immer wieder aufs Neue zum Lachen gebracht. Zwar hatten wir auch über alles Mögliche gezankt, aber das gehörte bei uns einfach dazu.
Außerdem hing ein Zeitungsartikel an meiner Wand, es war ein Artikel über Chris aus einer kleinen Modezeitschrift. Eine Doppelseite, gespickt mit Fotos. Sie nannten ihn Newcomer und Good-looker und Bad boy with a good heart. Das mit dem guten Herzen spielte auf die Werbekampagne gegen Pelz an, die er im letzten Jahr abgedreht hatte, und auf seine Aussagen, dass er außer gegen Pelze auch noch gegen Massentierhaltung und Tierversuche war. Er hatte sich beim breiten Publikum als Tierfreund profiliert, und obwohl Chris mit Tieren eigentlich nicht viel am Hut hatte, wusste ich, dass er es nicht ertragen würde, ein Tier leiden zu sehen. Ich fand es gut, dass er seine steigende Bekanntheit dazu nutzte, die Gesellschaft auf das Negative aufmerksam zu machen. Vielleicht würden einige Mädchen, die in Chris verschossen waren, in Zukunft darauf verzichten, in echten Pelz gewandet herumzustolzieren. Vielleicht erinnerten sie sich an die Message der Werbekampagne: Keiner braucht den Pelz so sehr wie die Tiere selbst.
Chris’ Karriere war im letzten halben Jahr steil bergauf gegangen, er hatte einige Aufträge an Land gezogen, Plakate von ihm mit nacktem Oberkörper und selbstbewusstem Blick hingen überall in der Stadt. Er war umgeben von Tieren ‒ Kaninchen, Ziegen, Schafen und Lämmern, Rindern, Waschbären, Iltissen und Bibern, die natürlich nicht mit ihm zusammen posiert hatten, sondern im Nachhinein mit aufs Bild kopiert worden waren. Über allem prangte in riesigen Buchstaben:
Natürlich schön ‒ trag deine eigene Haut!
Chris erinnerte bei genauerem Hinsehen an Noah, nur ohne Arche, und manchmal musste ich schmunzeln, wenn ich durch die Stadt ging und sein Konterfei mir von einer Werbetafel entgegengrinste.
Aber er war auch in Katalogen abgebildet, wo er irgendwelche Klamotten präsentierte, neulich war er über den Catwalk in Berlin geschritten, er warb für Duschgel, Shampoo und alle möglichen Pflegeprodukte, für Pralinen und Bonbons und in einer Fernsehwerbung für Zahnpflegekaugummis hatte ich ihn erst kürzlich ebenfalls entdeckt. Auf dem Bildschirm wirkte er fast noch attraktiver als in echt, er strahlte Mut und Selbstbewusstsein aus und ich empfand Stolz, wenn ich ihn im Fernsehen sah und daran dachte, dass wir befreundet waren.
In größeren, für ihre Mode bekannten Städten Europas war er auch schon zugange gewesen, auf Modepartys, Shootings, Meetings mit irgendwelchen Stardesignern und so weiter ‒ Paris, Mailand, London und Antwerpen.
Wenn ich mit ihm telefonierte, klang er stets fröhlich und energiegeladen, meist war er gerade auf dem Sprung, weil er irgendwelche Termine hatte ‒ Castings, Interviews, Shootings.
Als ich einmal besorgt nachfragte, ob ihm das alles nicht zu viel wurde, meinte er nur: „Ach, Unsinn, Ed. Ich lebe meinen Traum, da kann es gar nicht zu viel werden. Du hast doch selbst gesagt, dass ich mich richtig reinhängen muss, wenn ich was erreichen will. Ich bin jung, ich bin gesund, ich steck das schon weg. Ich feiere nicht mehr so viel wie früher und ich trinke nicht mehr so häufig, muss auf mein Image achten. Keine Sorge, mir geht’s prima.“
Ich glaubte ihm. Er war auf dem Weg die Karriereleiter