Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
Flügel hast, das funktioniert so nicht. Du musst was reinstecken, damit was rauskommt, und ich habe den Verdacht, dass du bisher nur ein Prozent deiner zur Verfügung stehenden 100 genutzt hast. Du kannst das schaffen, Chris, ganz sicher! Jeder fängt mal klein an, aber du kannst es bis ganz nach oben schaffen, wenn du dich nicht aufgibst. Dadurch, dass du hier herumjammerst und dir selbst leidtust, wird es bestimmt nicht besser. So“, sie pustete eine rote Haarsträhne aus ihrem Gesicht und griff nach einer Brotscheibe, „und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn du mir auch noch etwas Brot übrig lassen würdest. Ich habe nämlich noch ziemlich viel Öl. Und du solltest vielleicht mal deine ganzen Krümel aufessen, hm?“
Sie zwinkerte mir zu, und als ich sie nur perplex angaffte, deutete sie mit dem Kinn auf die Brotbrocken, die vor mir lagen. Ich hatte, während ich ihr zuhörte, unbemerkt mein ganzes Brot zerpflückt. Langsam machte ich mich daran, die Brocken aufzuklauben und zu einer festen Masse zusammenzupressen. Sprechen konnte ich gerade nicht, mein Mund war ganz trocken. Die Wahrheit war, ich war baff. Absolut verblüfft von Eddas Ansage. Sie ging glatt als kleine Motivationsrede durch. So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen, schon gar kein Mädchen. Alle hatten mir immer gesagt, wie toll ich war, keine hatte sich je die Mühe gemacht, mir zu verklickern, dass ich besser sein könnte, wenn ich mich anstrengte.
Unsere Tapas kamen, dampfend und duftend, und mir lief das Wasser im Munde zusammen, mein Magen knurrte laut. Rasch schob ich mir den Brotklumpen in den Mund, rückte die Ölschüssel beiseite, um Platz für den vollen Tapasteller zu machen, und beobachtete Edda dabei, wie sie es mir gleichtat.
Nachdem wir wieder allein waren, räusperte ich mich. „Wow“, brachte ich schwach hervor, „das war mal ’ne Ansage. Du hast mir mächtig den Kopf gewaschen, weißt du das?“
„Na ja“, Edda zuckte lässig die Achseln und griff nach dem ersten Tapasspieß, „anders begreifst du es ja nicht.“ Sie lächelte mir zu und schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund. Kurz darauf wedelte sie heftig mit der Hand vor ihrem Mund herum und japste keuchend: „Himmel, ist das scharf, ich kann gleich Feuer spucken.“
„Soll ich Wasser holen? Oder Milch?“, fragte ich hilfsbereit und sah mich bereits nach einem der Kellner um.
Edda winkte bescheiden ab und tupfte sich den Mund mit einer Serviette sauber. „Danke, nicht nötig, schon gut. Herrje, sind diese Teile würzig. Willst du mal probieren?“
Als mir von ihren scharfen Kartoffeln die Augen tränten und das Fett meiner bestellten Nieren um ihren Mund herum verteilt war, fingen wir eine lockere, gesittete Unterhaltung an, ohne uns gegenseitig irgendwelche Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Ich erzählte ihr, wie ich wirklich entdeckt worden war, von meinem Geburtstag und dem vergangenen Jahr. Irgendwann kamen wir dann auf unsere Schulzeit zu sprechen, sie berichtete mir, wie sie mit diesem Timo zusammengekommen war und warum Olivia sie so abgrundtief hasste.
„Olivia kann niemanden leiden, der klüger ist als sie“, schloss sie ihren Bericht ab.
Ich zuckte die Achseln. „Dann hasst sie die ganze Welt. Dümmere Geschöpfe als Olivia wären kaum lebensfähig.“
Darüber lachte Edda sich kaputt, hielt sich regelrecht den Bauch vor Lachen und hing mit dem Oberkörper halb in den Tapas. Sie hatte Grübchen und unzählige Lachfältchen um die Augen, eine kleine Mulde am Kinn und ihre Augen blitzten, wenn sie so lachte. Das gefiel mir, sehr sogar. Sie war süß. Sie war klug. Und sie war gut darin, mich auf andere Gedanken zu bringen und mich aufzumuntern. Mit einem Mal fragte ich mich, wie der blöde Streit vorhin überhaupt zustande gekommen war, und es erschien mir geradezu lächerlich, sie einfach stehen zu lassen, sobald die Tapas verspeist waren. Nein, ich würde diesen Tag mit ihr verbringen ‒ wenn sie damit einverstanden war ‒ und mich überraschen lassen, was noch alles in ihr steckte. Ich mochte Mädchen, die vielseitig und nicht so leicht zu durchschauen waren. Sie war anders als all die anderen, mit denen ich bisher zusammen gewesen war. Ein echter Kumpeltyp.
„Sag mal“, ich leckte mir etwas Soße von der Unterlippe, „würdest du nachher gerne mit mir schwimmen gehen? Ich meine, es ist so heiß, was anderes als schwimmen macht kaum Sinn. Vielleicht gelingt es mir sogar, irgendwo ein Surfbrett aufzutreiben, dann könnte ich noch etwas üben. Was meinst du?“
Edda blinzelte verdutzt, sah aber alles in allem erfreut aus, wie ich begeistert feststellte. Ich hatte es mir also nicht endgültig mit ihr versaut.
„Also, an sich gerne, aber ich wollte heute eigentlich in den Park Güell, weißt du. Es ist unglaublich, dass ich schon seit zwei Wochen hier bin und es nicht geschafft habe, dahin zu gehen. Heute hatte ich mir das fest vorgenommen, sonst kommt mir doch immer wieder etwas dazwischen.“
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, ich wollte so gerne mehr Zeit mit ihr verbringen. Es war ein Gefühl in meiner Brust, das mir sagte, dass es mir guttäte, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Sie brachte mich auf den rechten Weg.
Nachdem ich ein großes Stück Niere runtergeschluckt hatte, räusperte ich mich und sagte: „Wie wäre es mit einem Kompromiss, erst gehen wir in den Park, in dem ich übrigens auch noch nie war, und dann schwimmen? Und eventuell windsurfen?“
Gespannt wartete ich auf ihre Antwort. Sie ließ sich Zeit damit, dachte lange darüber nach und ich befürchtete schon, dass sie Nein sagen würde, doch dann lächelte und nickte sie. „Gut, abgemacht. Erst Park, dann schwimmen. Klingt nach einem spaßigen Nachmittag.“
Ich grinste sie an. „Auf jeden Fall. Mit mir ist es immer spaßig, Ed.“
„Darauf verwette ich meinen rechten Arm, Waldoff.“ Sie grinste schelmisch zurück und deutete auf meinen leeren Teller. „Fertig?“
„Fertig.“ Ich zog schwungvoll meinen Geldbeutel aus der Hosentasche. „Ich zahle.“
Sie schmunzelte. „Das hätte ich jetzt auch erwartet.“
Ich wusste, dass es ein Scherz war. Aber ich zahlte gerne für sie.
Später an diesem heißen Nachmittag schlenderten wir gemeinsam, Seite an Seite, durch den wunderschönen Park Güell. Ich hatte Edda mein Jackett gegeben und sie hatte es sich um die Hüfte gebunden, weil ich der Meinung war, dass es bei Männern dämlich aussah, wenn sie eine Jacke um die Taille trugen. Edda machte das gerne für mich.
Wir hatten zuvor noch einen raschen Abstecher zur Sagrada Familia gemacht, um ein paar Fotos zu schießen, und auch wenn wir nicht im Inneren gewesen waren, weil die Schlange davor locker bis nach Madrid reichte, bot diese von Gaudi im Jahre 1882 erbaute römisch-katholische Basilika auch von außen einen umwerfenden Anblick. Trotz der vielen Baukräne und Gerüste rings ums Gebäude herum. Ich hatte mal gehört, die Basilika sollte planmäßig im Jahre 2026 fertiggestellt werden, pünktlich zum 100. Todestag des Bauherrn.
Nun liefen wir den von Bäumen, Palmen und bunten Blumen gesäumten Weg entlang, Edda hatte aus ihrer Handtasche einen kleinen Fotoapparat hervorgezaubert und knipste eifrig.
Wir kamen an einer Ansammlung von Männern vorbei, die auf ausgebreiteten Decken Hüte, Sonnenbrillen, Fächer oder selbst gemachten Schmuck verkauften. „Nur fünf Euro!“, riefen sie uns, natürlich auf Spanisch, zu und zeigten mit großer Geste auf ihre dargebotenen Schätze. „Fünf Euro! Eine Sonnenbrille, der Herr? Ohrringe für die schöne Frau?“
Edda knipste die Verkäufer mitsamt ihren Waren und ein großer, muskulöser Schwarzer mit unzähligen Lederbändern um Hals und Arme brachte sich grinsend in Stellung, posierte für sie und hielt seine unzähligen in allen Farben und Formen vorhandenen Sonnenbrillen hoch.
„Na, chica“, er grinste Edda gewinnend an, „wie wär’s?“
Edda gab nach, kniete sich hin und begutachtete die Brillen eingehend. Sie nahm einige in die Hand und setzte sie auf. „Wie sehe ich aus?“, fragte sie jedes Mal und holte sowohl meine als auch die Meinung des Verkäufers ein. Es gefiel mir, wie sie mit ihm Witzchen machte und herumalberte, ganz locker und wie selbstverständlich. Schließlich kaufte sie eine schwarze Brille mit runden Gläsern und Glitzersteinchen an den Bügeln. Er verlangte sieben Euro, Edda