Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
erwiderte ich fest und ignorierte das Kribbeln im Bauch, „noch mehr Platon geht nicht. Glaub mir, zwischen uns herrscht null sexuelle Spannung, wir sind einfach nur Freunde.“
„Hm.“ Wirklich überzeugt klang Kim nicht. „Ich weiß nicht, eine Freundschaft zwischen Männern und Frauen, ist das überhaupt möglich?“
„Natürlich“, antwortete ich überzeugt, „das geht. Warum denn nicht? Verspürst du bei jedem Mann, den du zu Gesicht bekommst, das Bedürfnis, ihm die Kleider vom Leib zu reißen und ihn mit ins Bett zu nehmen?“
„Nein, nicht bei jedem, aber ich wundere mich doch sehr über deine Zurückhaltung. Ich meine, wie lange hast du keinen Sex mehr gehabt, über ein Jahr? Und bisher hast du nur mit einem Kerl geschlafen oder hab ich was verpasst?“
„Nein“, murmelte ich verlegen. „Also, ja, es gab bisher nur Timo. Und ja, ich hab schon lang nicht mehr. Über ein Jahr ...“
Kim schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ich frage mich, wie du das aushältst. Ich meine, Sex ist doch so was von geil. Findest du nicht? Falls du anderer Meinung bist, hat der gute Timo was falsch gemacht, dann muss ich mal ein Hühnchen mit ihm rupfen.“
„Nein, Kim, untersteh dich!“, rief ich erschrocken und lief rot an. „An Timo liegt es wirklich nicht. Zwischen uns war alles prima, der Sex war sehr schön und ... ja, den vermisse ich. Ein bisschen wenigstens. Aber ich bin Single, da gestaltet sich das schwierig.“
„Na, dann such dir doch einen Freund“, rief Kim ungeduldig, als läge es glasklar auf der Hand, dass ich das tun musste. „Du bist jung, frei, schön und ungebunden, du lebst in einer der vier größten Städte Deutschlands, da wird sich ja wohl einer finden lassen.“
„Ich kann mich nicht auf Knopfdruck verlieben“, meinte ich unbehaglich.
Kim schnaubte. „Wer redet denn vom Verlieben? Babe, du brauchst einfach jemanden, mit dem du’s mal so richtig treiben kannst, damit du wieder lockerer wirst und dich besser fühlst.“
Also wirklich, manchmal war Kim echt unmöglich!
Ich wickelte mir eine Haarsträhne um den Finger, während ich geduldig die alte Leier aufsagte: „So bin ich nicht, Kim. Ich kann nicht einfach mit irgendjemandem ins Bett steigen, der mir nichts bedeutet. Dazu bin ich zu verklemmt.“ Ich schob die Erinnerung, wie Chris und ich eines Nachts in Barcelona nackt baden gegangen waren, weit von mir. In jener Nacht hatte ich mich verwegen, heiß und unwiderstehlich gefühlt, kein bisschen entblößt oder unwohl. Chris’ Augen auf meinem nackten Körper hatten mir wohlige Schauer beschert und ich hatte es genossen, ihn zu betrachten, auch wenn ich in der Dunkelheit nicht allzu deutlich sehen konnte. Mir entging allerdings nicht, dass er zwischen den Beinen eine Menge zu bieten hatte. Mehr als Timo.
Allein beim Gedanken daran zog sich da unten alles sehnsuchtsvoll zusammen. Ich seufzte und holte tief Luft. Währenddessen hielt Kim mir eine ihrer berühmten Reden über das Leben und den Sinn des Lebens und die Tatsache, dass das Leben kostbar war und man nicht alles auf die lange Bank schieben sollte, dass man das Spontansein erlernen könne und ich nur keine Lust hätte, mich darauf einzulassen. Erleichtert erblickte ich Marlenes roten Opel, der in die Auffahrt rollte, die Scheinwerfer blendeten mich kurz, ehe sie ausgingen.
„Kimmi, ich muss leider los, Marlene ist grad gekommen“, erklärte ich meiner besten Freundin ohne großes Bedauern. „Ich melde mich wieder, ja?“
„Gut. Und, Edda?“
„Ja?“
„Versuch’s wenigstens mal mit dem One-Night-Stand. Wenn du dich mit jemand Fremdem nicht traust, mach’s doch mit Chris. Ihn kennst du und er hat sicher nichts dagegen. Mit ihm bleibt es auch garantiert unverbindlich.“
„Du bist echt unmöglich“, lachte ich, doch Kim blieb ernst.
„Das war kein Witz, Edda. Ich mache mir Sorgen um dich. Nicht, dass du dich einsam und allein in deinem Zimmer in Köln zu Tode langweilst. Du musst wieder rauf auf die Piste, Süße. Die Jagd auf die Junggesellen ist eröffnet.“
„Keine Sorge, Kim“, erwiderte ich patziger als beabsichtigt, „ich werde schon nicht als einsame, alte Jungfer sterben. Aber das ist eh nicht dein Problem, genieße du mal dein Leben in Bayreuth. Tschüss.“
„Edda ...“, setzte sie besänftigend an, doch ich drückte sie weg, legte das Telefon auf die Kommode und holte mit geschlossenen Augen tief Luft. Manchmal machte Kim mich wahnsinnig, vor allem, wenn sie auf diesem Sexthema herumritt. Ich hatte momentan eben keinen Sex und ich würde mich sicher nicht aus Verzweiflung auf irgendeinen Wildfremden einlassen, das war unter meiner Würde und zu riskant. Ich wollte weder Mutter mit 19 werden, noch irgendeine Geschlechtskrankheit bekommen. Wer wusste schon, ob so ein Kondom immer seinen Zweck erfüllte? Wenn das dumme Ding riss, schaute man blöd aus der Wäsche.
Die Türklingel schrillte und ich zuckte leicht zusammen, obwohl ich wusste, dass Marlene da war. Ich warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, besah mein Outfit ‒ enge dunkelgrüne Hose, schwarze Turnschuhe, bunter Wollpulli mit Rollkragen, das rote Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ich hatte Wimperntusche, Kajal und ein wenig Lipgloss aufgetragen und entschied, dass ich für einen Abend im dunklen Kinosaal hübsch genug war.
Hastig schlüpfte ich in meine schwarze Lederjacke, schnappte mir meine Handtasche und rief „Tschüss, Papa!“ in Richtung Wohnzimmer. Die Worte verhallten ungehört. Seit zwei Stunden lag mein Vater schnarchend auf der Couch, vor ihm auf dem Tisch eine leere Flasche Wein, die er ganz allein getrunken hatte. Meine Mutter war ausgegangen mit einer Freundin, sie hatte sich total aufgebrezelt, trug reichlich Make-up, knallroten Lippenstift und ein kurzes taubenblaues Kleid mit Seidenstrumpfhose darunter. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, dass sie sich zum Stelldichein mit einem Liebhaber traf, doch das war natürlich ausgeschlossen. Meine Mutter würde meinen Vater niemals betrügen.
Bei meiner Rückkehr hatte ich gemerkt, dass sich das Verhältnis meiner Eltern verändert hatte. Sie hatten sich irgendwie voneinander entfernt. Beklommen sah ich dabei zu, wie jeder sein Leben lebte, wie sie sich entfremdeten. Sie waren nicht mehr eine Einheit wie früher, schienen einander nicht mehr zu verstehen. Sie stritten auch nicht miteinander, wie sie es früher getan hatten, sondern schwiegen sich an, nahmen die Fehler des anderen mit einer Gleichgültigkeit hin, als wäre es ihnen egal, was er tat oder nicht tat.
Ich hatte keine Zeit, mich auch noch darum zu kümmern, ich hatte mit meinem eigenen Leben mehr als genug zu tun. Aber ich war nicht blind, mir entging nicht, dass es mit ihrer Ehe offensichtlich abwärtsging. Momentan brachte ich jedoch nicht den Elan auf, mir darum Gedanken zu machen.
Einen Moment lang vermisste ich mein Leben, wie es früher gewesen war, mit glücklichen Eltern, die sich auch nach vielen Jahren Ehe noch gegenseitig ihre Liebe zeigten, und Flocke, der munteren Hündin, die immer an meiner Seite gewesen war. Doch meine Eltern waren nicht mehr glücklich miteinander und Flocke war gestorben, bevor ich von meiner Reise zurückgekehrt war. Sie war vor ein Auto gelaufen.
Es klingelte erneut, ich riss die Tür auf und blickte auf Marlene hinab, denn diese war winzig klein, zart und zierlich, sodass ich mir neben ihr immer schrecklich plump und wie ein Trampeltier vorkam, obwohl ich selbst auch nicht viel auf den Rippen hatte.
„Hi Marlene.“ Ich beugte mich zu ihr hinab und umarmte sie, ehe ich die Haustür abschloss. Dann gingen wir, beieinander untergehakt, zu ihrem Wagen.
Es war recht frisch draußen, ein kühler Wind wehte und ich fröstelte. Bald sollte ich mir meine Winterjacke vom Speicher holen.
Nach einem heißen Sommer mit Rekordhitzewerten und einem anfangs recht warmen Oktober waren die Temperaturen jetzt gegen Ende des Monats doch ziemlich kalt, es regnete häufig. Für die Natur war es gut, dass nach der Hitzeperiode endlich wieder Regen fiel, doch ich fand es schade, dass wir einen solch verregneten Herbst hatten. Der Herbst war meine Lieblingsjahreszeit. Wenn die Bäume ein buntes Blätterkleid trugen, man Kastanien, Eicheln und Bucheckern sammeln konnte, wenn die Kartoffelfeuer