Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell

Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell


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den Mund und begann zu schluchzen. Ihre Schultern bebten heftig.

      Rasch senkte ich den Blick. Ich hatte meine Mutter bisher selten weinen sehen und wie jedem Kind zerriss es auch mir fast das Herz, sie so verzweifelt und traurig zu sehen. Wir Kinder waren es so sehr gewöhnt, von den Eltern beschützt und getröstet zu werden, dass wir aus allen Wolken fielen, wenn sie mal von uns Schutz und Trost brauchten.

      Ich hatte nicht gewusst, dass Papa pleite war. Oder dass es so schlimm war mit der Trinkerei. Ich hatte nichts von Mamas Verzweiflung geahnt. Wie musste es sein, in einer so ausweglosen Situation zu stecken? Was, wenn man zu schwach war, um zu gehen, aber zu stark, um zu bleiben?

      In meinem Kopf drehte sich alles und mir war klar, dass ich hier rausmusste, wenn ich nicht den Verstand verlieren wollte. Ich wirbelte herum und huschte an Mama vorbei. Im Vorbeigehen berührte ich kurz ihre Schulter. „Mach dich nicht kaputt“, flüsterte ich tonlos, dann rannte ich in den Flur, schlüpfte in meine Turnschuhe, schnappte mir den Autoschlüssel und stürmte ins Freie. Endlich konnte ich wieder durchatmen.

      Wie in Trance fuhr ich zum Kindergarten, stellte mich schräg auf zwei Parkplätze, machte den Motor aus und lehnte mich erschlagen gegen die Rückenlehne. Das musste ich alles erst mal sacken lassen. Mein Elternhaus brach in sich zusammen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis lediglich ein Haufen Schutt und Asche übrig blieb. Gab es die Option, dass die beiden sich wieder zusammenrauften?

      Sie waren ihr halbes Leben lang ein Paar. Sie kannten einander besser als irgendwer sonst. Würde das ausreichen, um ihre Liebe zu retten? Was war mit diesem Paul? War er nur ein Trostpflaster für meine Mutter, ein rettender Anker auf stürmischer See? Oder war er ihre neue Liebe, jemand, mit dem sie gerne ihr restliches Leben verbringen würde?

      Mir war schlecht und ich hatte Bauchschmerzen, Tränen lauerten hinter meinen Lidern und drohten überzulaufen. Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt. Konnte ich nach Australien gehen, wenn bei meinen Eltern alles zusammenbrach? Konnte ich sie im Stich lassen, jetzt da sie mich brauchten?

      Als ich daran dachte, Australien sausen zu lassen, liefen die Tränen über, rannen mir heiß über die Wangen und rissen die Wimperntusche mit. Australien war für mich, was Paul für Mama war. Der Fels in der Brandung. Der Anker. Das, was mich aufrecht hielt. Was mich durchhalten ließ.

      Seit Kim und Chris weg waren und Timo und ich getrennt, gab es in dieser Stadt niemanden mehr, mit dem ich mich verbunden fühlte. Marlene hatte inzwischen einen neuen Freund und verbrachte ihre gesamte Zeit mit ihm, außerdem hatte sie ein paar Ansichten, die ich absolut nicht vertreten konnte. Und sie war der Meinung, ein chaotisches Leben ohne Plan wäre nur halb so viel wert wie ein durchorganisiertes, geordnetes. Es machte keinen Spaß, außerhalb eines Kinos Zeit mit ihr zu verbringen, weshalb dieser Kontakt ziemlich eingeschlafen war.

      Kim und Timo waren während der gesamten Schulzeit meine engsten Freunde, die engsten Vertrauten gewesen. Wir waren meist unter uns geblieben und die Leute, mit denen ich sonst hin und wieder etwas unternommen hatte, waren lediglich Bekannte, aber keine Freunde. Ihnen konnte ich mein Herz nicht ausschütten.

      Zu Miriam und Philipp, die ich in Neuseeland kennengelernt hatte, hatte ich nur noch sporadisch Kontakt, Tayo und ich hatten schon seit Monaten nichts mehr voneinander gehört.

      Im Februar dieses Jahres war ein neues soziales Netzwerk online gegangen ‒ Facebook. Ich hatte mich sofort angemeldet, weil es eine Chance bot, mit den Menschen in meinem Leben Kontakt zu halten ‒ mit Tayo in Südafrika, Philipp und Miriam in Duisburg, Chris in Berlin und Kim in Bayreuth. Auch mit Timo war ich auf Facebook befreundet, aber wir hatten noch nie miteinander geschrieben. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass Timo nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Er hatte, wie ich über die Angabe des Beziehungsstatus auf seiner Facebookseite herausgefunden hatte, eine neue Freundin namens Valentina, die ich nicht kannte, die aber wohl noch zur Schule ging, und zwar auf jenes Gymnasium, das ich vor knapp zwei Jahren verlassen hatte. Ihn konnte ich also auch nicht kontaktieren.

      Kim war so sehr mit Leon, dem Studium und ihrem eigenen Leben beschäftigt, dass ich sie mit meinen Problemen nicht langweilen wollte, sie schien ohnehin in letzter Zeit gelangweilt von mir zu sein. Nie hatte ich was Spannendes zu berichten, nichts über neue Freunde oder heiße Nächte, nur über überlaufende Windeln und Rotznasen konnte ich Geschichten erzählen.

      Plötzlich dachte ich an Chris und in meinem Inneren wurde es wohlig warm. Chris war mein Fels in der Brandung. Ihm konnte ich mich anvertrauen. Warum war mir das nicht früher eingefallen? Hastig zückte ich mein Handy und durch den Schleier meiner Tränen hindurch tippte ich eine SMS.

      Hallo Chris! Ich hoffe, dir geht’s gut. Mir geht’s leider gar nicht gut, es gibt Probleme mit meinen Eltern und überhaupt erscheint mir mein ganzes Leben momentan so sinnlos ... Können wir reden? Kannst du mich in meiner Mittagspause anrufen? 12-13 Uhr? Ich brauche jemanden, der mir zuhört, und das kann keiner so gut wie du. Danke!

      Ich versendete die Nachricht, förderte aus dem Handschuhfach ein Päckchen Taschentücher zutage und putzte mir die Nase, anschließend behob ich den Schaden in meinem Gesicht, hoffte, dass meine Haut nicht allzu fleckig und meine Augen nicht allzu glasig aussahen, stieg aus dem Auto und betrat die Höhle der Kleinkinder.

      Ich schleppte mich durch den Vormittag, hörte mir im Sitzkreis die Wochenendgeschichten der Kinder an, die allesamt spannender waren als meine, las Bücher vor, malte, trocknete Tränen, schlichtete Streits, kuschelte mit besonders liebesbedürftigen Kindern und versuchte, mir meine eigenen Sorgen und Probleme nicht anmerken zu lassen.

      Gegen Mittag half ich den Kleineren beim Anziehen der Gartenschuhe, ehe ich mich mit den Größeren daran machte, Blumentöpfe aus Ton mit Serviettentechnik, Perlen, Farben und Glitzerstiften zu verzieren. Später würden wir Blumen hineinpflanzen, ein Schleifchen drumherum binden und es wären tolle Geschenke für die Eltern.

      Die Kids hatten ihren Spaß, ließen ihrer Kreativität freien Lauf, malten, schnippelten und klebten. Ich half, so gut ich konnte, verzierte meinen eigenen Blumentopf und sehnte die Mittagspause herbei. Während ich meinen Pinsel in die weiße Farbe tauchte und damit den Topf bestrich, stellte ich mir vor, wie ich mir alles von der Seele redete, und fühlte mich gleich besser.

      Als es endlich so weit war, verzog ich mich mit meinem Handy in die Tiefen des Personalraums, in dem sich an diesem sonnigen Maitag keiner außer mir aufhielt, und wartete, ob Chris sich meldete.

      Um fünf nach zwölf klingelte mein Handy, ich las seinen Namen auf dem Display, lächelte und ging ran. „Hey, Chris. Schön, dass du anrufst.“

      Seine Stimme klang zärtlich und fürsorglich. „Hi Rotschopf. Schieß los, was ist passiert?“

      ***

      Chris: „Alter, das ist echt so was von krass. Das ist doch Wahnsinn, Mann! Bist du dir auch ganz sicher, dass du das willst?“

      „Ja, du Schwachkopf.“ Marvin warf mir einen bösen Blick zu. „Laura ist die Frau meines Lebens

      und heute wird sie meine Frau werden. Davon hab ich die letzten Monate geträumt.“

      Er hatte seltsame Träume, mein bester Kumpel. Ich zog und zerrte an meiner Krawatte herum und war zunehmend genervt, weil ich es einfach nicht hinbekam, sie richtig zu binden. Ich fühlte mich ganz und gar unwohl in dem steifen Anzug, ich war nun mal kein Anzugträger. Dabei war es ein wirklich schickes Exemplar von Hugo Boss, bestehend aus grauer Hose, schwarzem Hemd, schwarzer Krawatte und grauem Sakko mit nur einem Knopf etwa in Höhe des Bauchnabels. Dennoch kam ich mir verkleidet vor und die Krawatte trieb mich in den Wahnsinn.

      „Komm, ich mach das, das kann man ja nicht mit ansehen.“ Marvin kam mir zu Hilfe, mit wenigen Griffen hatte er die Krawatte ordentlich gebunden und zurechtgerückt. Er klopfte mir auf die Schulter und grinste. „Das hätten wir. Hast du die Ringe?“

      Ich befühlte die rechte Sakkotasche mit der Hand, ertastete die kleine, viereckige Schachtel und beschloss, meinem besten Kumpel einen Streich zu spielen, das Schauspielern fiel mir nicht mehr schwer.

      Ich


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