Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
der Laura studierte.
Überrumpelt hatte ich dagestanden und nach Worten gesucht. Marvin aber hatte mir eine elfenbeinfarbene Einladung in die Hand gedrückt und verkündet, ich könnte gerne eine Begleitung mitbringen, es sei sogar erwünscht. Ich hätte ja reichlich Auswahl.
Ich hatte nicht lange überlegen müssen, wen ich mitnahm. Ich wollte nicht mit einer hirnlosen Sexbombe dort auftauchen, die mich vielleicht sogar noch blamieren würde. Außerdem war ich in letzter Zeit in Bezug auf Frauen vorsichtiger geworden, ich ließ mich nicht mehr sofort auf jede ein. Die meisten wollten nämlich nur mit mir schlafen, um hinterher überall herumerzählen zu können, dass sie mit mir im Bett gewesen seien. Eine Frau hatte sogar mal Fotos von uns beim Knutschen geschossen, keine Ahnung, wie sie das hinbekommen hatte, ohne dass ich es bemerkte, und diese Fotos anschließend einer Zeitschrift verkauft. Die reißerische Schlagzeile lautete: Ist DAS Christophers Mädchen?
Joachim war alles andere als begeistert gewesen. „Du musst ein bisschen aufpassen, Chris“, hatte er gesagt. „Im Netz kursieren auch schon die wildesten Gerüchte. Wenn du nicht aufpasst, wirst du in der Presse bald als männliche Schlampe verbraten.“
Was leider gar nicht mal so weit an der Wahrheit vorbeizielte ...
Wie dem auch sei, seitdem hielt ich mich zurück. Was mir bei dem ein oder anderen hinreißenden Geschöpf doch ziemlich schwerfiel. Was sollte ich sagen, es gab eben viele Versuchungen ...
Ich hatte Edda angerufen und sie gefragt, ob sie mit mir auf die Hochzeit meines besten Freundes gehen wollte. Ihr ging es gerade nicht so gut, ihre Eltern hatten wohl ziemliche Probleme und Edda, einfühlsam, wie sie war, nahm sich das sehr zu Herzen, obwohl es sie eigentlich gar nicht betraf. Ein bisschen Abwechslung und Ablenkung, um sie auf andere Gedanken zu bringen, konnten also nicht schaden. Es gefiel mir nicht, wie piepsig und erschöpft ihre Stimme klang, wann immer ich mit ihr telefonierte. Sie wirkte mutlos, entkräftet.
Als sie mich gefragt hatte, ob sie das Au-pair-Jahr in Australien absagen sollte, um ihren Eltern beizustehen, war ich richtig wütend geworden. „Lass nicht zu, dass sie dir das kaputt machen“, hatte ich aufgebracht ausgerufen. „Sie sind erwachsen, Ed, sie müssen ihre Probleme alleine auf die Reihe kriegen, sie hätten dich da gar nicht mit reinziehen dürfen. Außerdem glaube ich kaum, dass es etwas an der Situation ändern wird, wenn du bleibst, außer vielleicht dass es dir dann noch schlechter geht.“
„Es geht hier aber nicht nur um mich“, hatte sie verzweifelt ausgerufen. „An erster Stelle geht es um meine Eltern, Chris. Sie brauchen mich jetzt, besonders Papa. In letzter Zeit geht es ihm richtig beschissen, er trinkt zu viel, neulich wäre er fast die Treppe runtergefallen. Er hat niemanden außer mir, nur ich kann mit ihm reden, mir vertraut er sich an, auf mich hört er. Er hat seinen Job verloren, seine Ehe ist kaputt, er steht praktisch vor dem Nichts.“
„Das ist nicht dein Problem“, hatte ich lapidar erwidert, „an erster Stelle in deinem Leben solltest immer du stehen, Edda, niemand sonst. Du musst dich in erster Linie um dich kümmern. Das tut nämlich sonst keiner.“
„Es kann nicht jeder so gefühllos sein wie du“, hatte sie verärgert ausgerufen. „Und überhaupt, du hast ja keine Ahnung, wie das ist, wenn man seinen Eltern nahesteht. Wir waren all die Jahre eine intakte, glückliche Familie, ich lasse nicht zu, dass meine Eltern das wegschmeißen. Nur weil du ein schlechtes Verhältnis zu deinem Vater hast, heißt das nicht, dass ich es auch so halten muss. Schon klar, dass du dich ein Leben lang nur für dich selbst interessiert hast, du egoistischer Mistkerl, aber bei mir ist das anders.“
Dann hatte sie aufgelegt und ich war dagestanden mit dem Telefonhörer in der Hand, bebend vor Zorn. Wie konnte sie es wagen? Sie hatte keine Ahnung, was mein Vater mir angetan hatte. Keine Ahnung, dass ich ohne Mutter aufgewachsen war. Sie wusste nichts über meine Kindheit, nichts über die Trauer und Verzweiflung, die ich damals empfunden hatte, weil ich nicht wie all die anderen Kinder um mich herum ein sorgloses Leben führen konnte.
Ich hatte sie zurückgerufen, einmal, zweimal, dreimal. Jedes Mal hatte sie mich weggedrückt. Ich hatte dem Drang, etwas zu zerstören, nachgegeben und mein Zimmer komplett verwüstet. Als ich wieder zur Besinnung kam, schwer atmend und mit aufgeschürften Fingerknöcheln, sah ich mich in dem von mir angerichteten Durcheinander um, wischte mir erschöpft den Schweiß von der Stirn und dachte, dass es allmählich an der Zeit wäre, jemandem von meinem Vater zu erzählen. Davon, wie er damals mit mir umgegangen war. Ich wollte endlich loswerden, dass meine Mutter mich verlassen hatte, als ich zehn war, dass ich nur deshalb ein egoistischer Mistkerl geworden war, um mich zu schützen. Dass ich nicht verstehen konnte, warum Edda ihren Eltern beistehen wollte, weil ich vor meinem Vater immer nur weglaufen wollte. Mir war egal, was aus ihm wurde. Wenn ihn damals jemand umgebracht hätte, wäre ich ihm vermutlich sogar dankbar dafür gewesen. Das klang schrecklich, war aber so. Ich wollte jemandem erklären, warum ich manchmal so schnell aggressiv wurde, warum ich mich früher so oft geprügelt hatte und warum ich keinen anderen Weg fand, um meiner Wut Luft zu machen. All das wollte ich Edda sagen, doch ich war so wütend auf sie, dass ich sie in diesem Moment vermutlich nur angeschrien und beleidigt hätte. Außerdem ging sie ohnehin nicht ans Telefon.
Später am Abend meldete sie sich bei mir, sie klang zerknirscht und war reumütig. „Was ich gesagt hab, tut mir leid, Chris“, sagte sie mit zitternder Stimme, „und ich nehme alles zurück, ich hab’s nicht so gemeint. Tut mir leid. Bitte sei mir nicht mehr böse.“
„Bin ich nicht“, hatte ich sofort gesagt und ihr augenblicklich verziehen, weil ich nicht wollte, dass sie noch mehr litt. „Und? Kommst du mit mir zu der Hochzeit?“
Diese Frage schien sie zu überraschen, sie stockte, zögerte, räusperte sich. „Ich kenne das Brautpaar doch gar nicht.“
„Dann lernst du die beiden eben kennen“, meinte ich unbekümmert. „Marvin, mein bester Freund, würde sich freuen, dich mal kennenzulernen, und mit Laura, der Braut, wirst du dich sicher gut verstehen. Sie ist ... sehr nett.“ Tja, entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber egal.
„Wann findet die Trauung denn statt?“, wollte sie wissen.
„16. Juli“, antwortete ich.
„Da muss ich arbeiten“, seufzte sie resigniert, „es wird also nichts draus.“
„Du könntest dir freinehmen“, meinte ich achselzuckend. „Der 16. Juli ist ein Freitag, das heißt, du könntest übers Wochenende bei mir bleiben und ich könnte dich auf andere Gedanken bringen. Du hast noch zwei Monate Zeit, um diesen Tag zu blocken und deinen Kolleginnen mitzuteilen, dass sie an dem Freitag auf dich verzichten müssen. Also? Bitte, Ed! Ich weiß nicht, wen ich sonst mitnehmen soll.“
„Och, da sitzen bestimmt schon einige Kandidatinnen in den Startlöchern, oder?“, erwiderte sie, doch ich merkte, dass ihr Widerstand bröckelte. Ich würde nicht mehr viel Überredungsarbeit leisten müssen.
„Komm schon, Ed“, bat ich flehend. „Ich will keine andere mitnehmen, sondern dich. Du bist die Erste, die ich frage, weil du meine erste und einzige Wahl bist. Wenn du nicht mitkommst, bin ich aufgeschmissen. Dann muss ich sicher neben irgendeiner alten, sabbernden Tante sitzen, die nach Mottenkugeln und Flieder riecht, mir die ganze Zeit die Hand tätschelt und mir von ihren sieben Katzen erzählt. Bitte, das kannst du mir nicht zumuten.“
Sie musste lachen. „Du bist echt unmöglich“, verkündete sie.
„Ich weiß.“ Ich grinste verschlagen. „Also? Begleitest du mich?“
„Na gut. Könnte ja ganz lustig werden.“
Juhu! Ich klopfte mir im Geiste selbst auf die Schulter und meinte in schmeichlerischem Tonfall: „Wenn wir beide zusammen sind, ist es doch immer lustig, oder? Weißt du noch damals, als wir Absatzschuhe für dich kaufen wollten?“
„Oh Gott, erinnere mich nicht daran ...“
„Marvin ist ein einziges Nervenbündel“, raunte ich Edda zu, als wir den schmalen Flur entlang in Richtung Badezimmer gingen, wo die Braut sich noch immer aufhielt, in