Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
„Komm, Flocke“, lockte ich die Hündin leise, machte die Haustür auf und pfeilschnell schoss sie an mir vorbei nach draußen, wobei sie mich um ein Haar umrannte. Ich warf einen kurzen Kontrollblick aufs Gartentor, um sicherzustellen, dass es geschlossen war, dann sank ich auf den Treppenstufen, die hinauf auf die Veranda führten, zusammen, ließ den Kopf zwischen meine Knie sacken, gähnte und schloss die Augen. Fast wäre ich eingeschlafen, doch als ich spürte, wie ich nach vorn kippte, riss ich die Augen auf und hievte mich in eine aufrechte Position. Schon wieder musste ich gähnen, mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft von dem ganzen Alkohol.
Die Nacht war mild, die Luft frisch und klar und ich sog sie gierig in meine Lungen. Die Morgendämmerung war bereits vorüber, der Himmel hatte sich von tiefschwarz zu babyblau verfärbt und am Horizont ging golden die Sonne auf. Lächelnd überlegte ich, wann ich zuletzt einen Sonnenaufgang miterlebt hatte. Das musste schon ewig her sein, ich erinnerte mich nicht mal mehr. Dabei gehörten Sonnenaufgänge, genau wie Sonnenuntergänge, zweifellos zu den schönsten Naturerlebnissen überhaupt.
Es raschelte in den Büschen und kurz darauf tauchte Flocke wieder auf, schwanzwedelnd und mit zerzaustem Fell, sie wirkte um einiges ruhiger als vorher, was mir verriet, dass sie ihr Geschäft erledigt hatte. Erleichtert stand ich auf, voller Vorfreude auf mein Bett. Endlich ein paar Stunden Schlaf. „Na komm, Süße.“ Ich pfiff leise durch die Zähne, um Flocke anzulocken. „Lass uns in die Heia gehen, wenigstens für ein paar Stunden.“ Doch mit einem Mal änderte sich etwas. Flocke blieb wenige Meter von mir entfernt wie angewurzelt stehen und spitzte die Ohren. Aus ihrer Kehle drang ein tiefes, fast schon Furcht einflößendes Knurren. Beunruhigt blickte ich umher, meine Beine zitterten wie Wackelpudding, ich umklammerte das Treppengeländer.
„Flocke?“, rief ich halblaut, als meine Hündin sich von mir abwandte. Ein letztes tiefes Knurren, dann raste sie in einem Affenzahn los, laut bellend und knurrend, in Richtung Zaun. Was sollte denn das jetzt? Hatte sie ein Eichhörnchen gesehen?
Sie bellte wie verrückt und ich geriet in Sorge, sie könnte meine Eltern oder gar die Nachbarn wecken. Taumelnd, stolpernd und schimpfend rannte ich ebenfalls zum Gartentor, strauchelte, fand jedoch im letzten Moment mein Gleichgewicht wieder.
„Flocke!“ Energisch packte ich sie am Halsband, zog sie zurück. Beinahe hysterisch sprang sie am Gartenzaun hoch, bellte immer lauter und lauter. Entschlossen hielt ich ihr die Schnauze zu. „Jetzt ist es aber gut“, zischte ich böse. „Halt die Klappe, Flocke! Du weckst noch alle auf.“
Sie sah mich aus ihren braunen Augen beinahe flehend an, knurrte, wobei ihre Schnauze in meiner Hand vibrierte. Ich fragte mich, was sie so aufregte ... bis ich den Kopf drehte und die Gestalt auf dem Bürgersteig erspähte. Torkelnd und wankend, eindeutig betrunken. Meine Hand schloss sich um Flockes Halsband, ängstlich sah ich hinüber zu dem Suffkopf. Es musste nicht sein, dass er uns sah.
„Lass uns reingehen“, raunte ich meiner Hündin zu und wollte sie mit mir ziehen, doch in diesem Moment stolperte die betrunkene Gestalt über ihre eigenen Füße und stürzte der Länge nach auf den Gehsteig. Ohne, wie es eigentlich reflexartig geschehen sollte, die Arme nach vorn auszustrecken und den Sturz abzufangen. Die Person knallte volle Pulle aufs Gesicht. Ich meinte, ein lautes Stöhnen zu vernehmen, dann war es still. Totenstill.
Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf den am Boden Liegenden, auf seine schwarze Hose, das zerrissene Hemd, die dunklen Schmalzlocken. Er lag vollkommen regungslos da. Ich kam mir vor wie in einem Horrorfilm, Gänsehaut überzog meine Arme. Flocke knurrte, war unruhig und mir wurde allmählich klar, dass ich nicht einfach ins Haus und schlafen gehen konnte. Das hier war keineswegs eine harmlose Situation. Wenn dieser Mensch da auf der Straße ernsthaft verletzt war und ich nichts unternahm, wäre das unterlassene Hilfeleistung. Ich biss mir fest auf die Unterlippe. Ich hatte Angst, ja, aber gleichzeitig war da ein Gefühl in mir, das mich dazu drängte, sofort zu dem Verletzten zu rennen, zu sehen, was ich für ihn tun könnte.
Tief durchatmend wandte ich mich an meine Hündin. „Flocke, sitz!“, befahl ich. Sie gehorchte nicht. Also setzte ich meine herrische Stimme ein. „Sitz!“ Widerwillig führte sie den Befehl aus, winselte leise.
Ich stieß das Gartentor auf, ließ es einen Spaltbreit offen, sodass sie mir zu Hilfe eilen konnte, falls es nötig sein sollte. Flocke und ich waren ein eingespieltes Team, keine würde die andere jemals hängen lassen. Meine Hündin würde alles tun, um mich zu beschützen, das wusste ich. Notfalls würde sie sogar für mich sterben. Aber so weit würde es hoffentlich nicht kommen.
Ich kratzte meinen ganzen Mut zusammen, schlüpfte durch das Tor und überquerte die Straße. Ich warf einen Blick zurück. Flocke war aufgestanden, lauerte dicht am Tor, verließ aber nicht den Garten. Ich hob beruhigend eine Hand und rief: „Bleib, Flocke, alles gut. Braves Mädchen.“
Noch zwei Schritte, dann stand ich direkt vor der gestürzten Person. Es war ein Mann, ein junger Mann in modernden, völlig zerfetzten Klamotten.
Ich ging vor ihm in die Hocke, streckte die Hand aus, berührte seine Schulter. „Hallo?“, sagte ich schüchtern. Keine Reaktion. „Hallo?“ Ich rüttelte ihn fester, mein Puls war mittlerweile auf 180. Was, wenn er bewusstlos war? Musste ich dann eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen? Was, wenn er sich dabei übergab?
Oh Gott, das war mir alles zu viel. Mein Kopf war vollkommen leer, ich fühlte mich heillos überfordert und war den Tränen nahe. Warum passierte so was eigentlich immer mir? Und nicht den Leuten, die jeden Tag andere wiederbelebten?
„Hallo?“ Meine Stimme klang hörbar verzweifelt, als ich den Kerl erneut mit aller Kraft an der Schulter rüttelte. „Hören Sie mich? Hallo? Hallo?“
Er stöhnte.
Na, immerhin lebte er noch!
Erleichtert über dieses Lebenszeichen, packte ich ihn mit festem Griff an den Schultern und drehte ihn herum, sodass sein Gesicht nicht mehr auf dem Asphalt klebte. Oh mein Gott ... Ich schnappte entsetzt nach Luft. Der Anblick war echt nichts für schwache Nerven. Sein Gesicht war angeschwollen und sah aus wie eine zermatschte Pflaume, aus seiner Nase liefen Rinnsale hellroten Blutes, seine Lippe war aufgeplatzt, über seiner rechten Augenbraue befand sich ein unschöner, ziemlich tief aussehender Kratzer. Sein linkes Auge lief bereits blau an. Ein sehr schönes Veilchen!
Das, was mich an all dem jedoch am meisten schockierte, war die Tatsache, dass es sich hierbei um keinen Geringeren handelte als um ...
„Chris?“, stieß ich fassungslos hervor. „Christopher Waldoff?“
„Ja. Der bin ich“, lallte er, kniff die Augen zusammen und versuchte offensichtlich, sich zurechtzufinden, herauszubekommen, wie er in diese missliche Lage geraten war.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich, nach wie vor nicht ganz Herrin der Lage, und half ihm ungeschickt dabei, sich aufzusetzen, wobei ich beinahe auf ihn fiel. Er war ziemlich schwer, hatte ordentlich Muskelmasse. Dem Fitnessstudio sei Dank.
„Ich ... äh ... hab keine Ahnung“, nuschelte er, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und betrachtete interessiert die Blutspur auf seiner Hand. Ich unterdrückte einen Würgereiz, der Anblick von Blut hatte mir noch nie behagt. „Ich hab mich wohl verlaufen“, murmelte er und versuchte sich aufzurichten, schwankte aber nur wie die Titanic nach der Begegnung mit dem Eisblock und plumpste wieder auf den Hosenboden.
„Warte, ich helfe dir“, sagte ich eilig, griff nach seinem Arm, legte eine Hand auf seinen Rücken und gab ihm den Halt, den er brauchte, um halbwegs sicher auf seinen Beinen stehen zu bleiben.
„Danke, eh“, murmelte er und fuhr sich durch die Haare. Dann sah er sich um, doch das Licht der Straßenlaternen schien ihn zu blenden, denn er bedeckte seine Augen. „Scheiße, eh, wo bin ich hier nur?“, murmelte er verwirrt.
Bereitwillig nannte ich ihm den Namen der Straße, woraufhin er mich ansah, als wäre ich ein Außerirdischer.
Fast hätte ich „Ich komme in Frieden, Erdling“ ausgerufen, doch ich hielt mich zurück. Das