Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
wie stellst du dir das alles vor?«, fragte er, als sie die Treppe hinunterstiegen. »Wir sind verantwortungslos. Wie können wir dem Kind etwas versprechen, was wir nicht halten können? Morgen wird alles noch schlimmer für Nina sein.«
»Ich weiß, dass du dich in Lucy Snyder verliebt hast und sie sich in dich«, antwortete Linda beklommenen Herzens. »Ich weiß auch, dass ich verspielt habe.«
»Was sagst du da?« Peter sah sie betroffen an.
»Tonio sagte es mir.«
»Was sagte er dir?«
»Dass Lucy Snyder und du …«
»Was für ein Unsinn«, unterbrach er sie fast grob. »Lucy und ich sind gute Freunde. Sie ist ein reizendes Mädchen und hat das Herz auf dem rechten Fleck. Zugegeben, sie hat mir viel geholfen. Aber ich liebe sie nicht.«
»Du liebst sie nicht?« Lindas Wangen überzogen sich mit sanfter Röte. In ihren blaugrünen Augen leuchtete es hellauf. »Aber ich dachte …«
»Linda, du weißt, was ich damals zu dir sagte, als du dich für Tonio entschieden und uns seinetwegen verlassen hattest.«
»Stehst du denn auch heute noch dazu?«
»Ja, Linda. Schon Ninas wegen. Nina sagte vorhin etwas erstaunlich Altkluges für ein neunjähriges Mädchen.« Er wiederholte sinngemäß ihre Worte.
»Nina war schon immer sehr klug und hat sich viele Gedanken über alles gemacht.«
»Ich weiß das erst seit heute. Ich habe viel zu wenig Zeit für sie gehabt – und auch für dich, Linda. Vielleicht wäre sonst alles anders gekommen, vielleicht wäre dann das alles nicht geschehen.«
»Bestimmt wäre das dann nicht geschehen, Peter.«
»Linda, ich habe mich entschlossen über Nacht hierzubleiben, damit Nina uns beide morgen früh noch vorfindet. Komm«, bat er und fasste sie bei der Hand. »Mir ist nach einem Spaziergang zumute. Ich glaube, wir haben viel zu besprechen.«
Der zärtliche Druck seiner Hand ließ ihr Herz schneller schlagen. Eine heiße Welle schoß durch ihren Körper. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als seien die letzten Wochen ausgelöscht, als habe es niemals Kummer und Leid zwischen ihnen gegeben.
Peter hängte sich draußen bei ihr ein. Einen Augenblick schmiegte sie sich an ihn. »Peter, wirst du das alles jemals vergessen können?«, fragte sie zaghaft.
»Linda, erst einmal musst du mir erzählen, was geschehen ist und warum du Tonio verlassen hast. Oder hast du ihn gar nicht verlassen?«
»Doch, ich habe ihn verlassen. Ich weiß jetzt, dass ich ihn niemals geliebt habe. Es war für mich wie ein Rausch, aus dem ich jetzt mit Kopfschmerzen erwacht bin. Zurückgeblieben ist ein schaler Geschmack auf der Zunge und das Bewusstsein, dass ich versagt habe. Heute weiß ich, dass ich mich Stunde für Stunde nach euch gesehnt habe, dass es nichts gab, was mir über meine Sehnsucht hinweghalf. Ich bin eine Frau, die beschützt sein will. Aber Tonio ist in erster Linie Künstler und ein Egoist, der glaubt, dass sich die ganze Welt um ihn drehen müsse. Ich habe bei ihm das Lachen verlernt.«
»Linda, ich …«
»Bitte, Peter, lass mich ausreden. Ich muss mir einfach alles von der Seele reden. Ich werde mich auch nie wieder vernachlässigt fühlen, wenn du mal keine Zeit für uns hast. Wichtig ist nur, dass ich weiß, dass du heimkommst, dass du dann bei mir sein wirst. Peter, ich habe keine Stunde aufgehört, dich zu lieben. Trotzdem weiß ich, dass es zu viel verlangt wäre, zu erwarten, dass du so schnell vergessen kannst. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Schatten der Vergangenheit endgültig verschwunden sind.«
»An mir soll es nicht liegen, Linda. Wir sind schließlich erwachsene Leute. Außerdem werde ich täglich mit den menschlichen Schwächen konfrontiert.« Er blieb stehen und zog sie an sich. »Linda, ich bin bereit, noch einmal neu anzufangen.«
»Ich auch, Peter.«
Als er sie küsste, spürten beide, dass es nicht mehr so war wie früher. Würde es jemals wieder so werden? fragten sie sich insgeheim.
Der Mond stieg hinter dem Wald hoch. Sein Licht hüllte die Landschaft in ein gespenstisches Licht. Linda fröstelte plötzlich. »Wir müssen ins Haus zurück. Ich habe meine Tasche in der Halle liegenlassen. Außerdem müssen wir Bescheid sagen, dass wir in einem Gasthof übernachten und morgen früh wieder hier sind.«
»Gut, Linda.« Peter legte seinen Arm um ihre Taille, als sie die Freitreppe hinaufstiegen. Plötzlich wusste sie, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis Peter und sie wieder eins sein würden.
Frau Rennert hatte auf die beiden gewartet. Nun erst erinnerte sich Peter auch wieder an Lucy. Er fragte nach ihr.
»Fräulein Snyder ist schon lange fort. Sie hat sich ein Taxi bestellt, um nach Frankfurt zurückzufahren. Auch Frau von Schoenecker konnte nicht mehr länger warten. Sie lässt Sie herzlich grüßen. Ich habe inzwischen zwei Fremdenzimmer für Sie herrichten lassen. Nicht wahr, Sie bleiben doch über Nacht hier?«, fragte sie.
»Sehr gern. Wir nehmen Ihre Einladung dankend an.« Peter lächelte die Heimleiterin freundlich an. Er empfand es als große Erleichterung, dass Lucy fort war. Auch ahnte er, was sie nach Frankfurt getrieben hatte.
»Ich habe einen kleinen Imbiss für Sie vorbereiten lassen«, erklärte Frau Rennert noch. »Bestimmt sind Sie hungrig.«
»Das bin ich!«, rief Peter in bester Laune.
»Auch ich habe plötzlich Hunger«, rief Linda fröhlich.
Frau Rennert führte die Gäste in den Speisesaal. Linda und Peter waren entzückt von der Gastfreundschaft in Sophienlust. Die Heimleiterin und ihr Sohn Wolfgang, der als Musik- und Hauslehrer in Sophienlust angestellt war, leisteten ihnen beim Abendessen Gesellschaft.
Später zeigte Else Rennert den Gästen ihre Zimmer. Sie lagen nebeneinander, aber die Verbindungstür war geschlossen.
Als Linda allein war, verließen sie ihre Nerven. Sie weinte leise vor sich hin. Als ihre Tränen versiegt waren, legte sie sich nieder. Sie hörte Schritte im Nebenzimmer und wünschte sich sehnlichst, dass Peter zu ihr käme. Dann aber schlief sie ein.
Peter konnte dagegen nicht einschlafen. Immer wieder stand er auf. Dann aber hielt er es nicht mehr aus und schloss die Verbindungstür auf.
Ein heller Streifen fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen auf Lindas Bett.
»Linda«, flüsterte Peter zärtlich. »Linda!«
Sie drehte sich im Schlaf um und lächelte.
»Linda«, wiederholte er.
Endlich schlug sie die Augen auf. »Peter, ach, Peter, ich habe so sehr auf dich gewartet«, sagte sie glücklich und streckte ihm die Arme entgegen.
*
Lucy erreichte Frankfurt gegen neun Uhr abends. Sie entlohnte den Taxifahrer vor dem Haus, in dem sich Tonios Atelier befand. Dann läutete sie, denn das Haustor war bereits abgeschlossen. Erregt wartete sie. Nichts rührte sich. Enttäuscht drückte sie noch einmal auf den Klingelknopf.
Als es dann surrte, stieß sie gegen die Tür. Licht flammte im Treppenhaus auf.
Lucy stieg die Stufen hinauf. Tonio stand oben vor der Tür und blinzelte sie verschlafen an. Sein schwarzes Haar war zerzaust, auch sah er recht mitgenommen aus.
»Du?«, fragte er böse. »Was willst du hier?«
»Tonio, bitte …«
»Geh zu deinem Peter. Ich hasse euch alle!«, rief er unbeherrscht.
»Tonio, du bist ja betrunken.«
»Und wenn schon. Geht’s dich was an?«
»Tonio, komm zu dir.« Lucy nahm seinen momentanen Zustand nicht allzu tragisch. Sie kannte ihn immerhin schon so gut, dass sie wusste, dass er oft Dinge sagte, die er gar nicht so meinte.