Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Nina fuhr verschlafen hoch, als Barri ihr übers Gesicht leckte und sich wie toll gebärdete.
»Da ist Nina ja!«, rief Pünktchen glücklich.
Peter war stumm vor Glück, als er seine Tochter erblickte.
»Vati, du bist da?«, fragte Nina und fing an zu weinen. »Aber wo ist Mutti? Ich habe mir doch so sehr gewünscht, dass Mutti mich auch sucht.« Nina weinte nun haltlos. Die Aufregungen der letzten Stunden waren zu viel für sie gewesen.
Schwester Regine, Denise und Lucy stiegen schnell aus dem Wagen aus, als sie die Kinder vor der Scheune stehen sahen.
»Sie haben Nina gefunden!«, rief Lucy voller Freude, als Peter mit seiner Tochter aus der Scheune kam.
»Gott sei Dank«, sagte Denise und schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel.
Schwester Regine nahm die weinende Nina bei der Hand. »Ich bringe Sie und das Kind auf dem schnellsten Weg mit dem Auto nach Sophienlust zurück, Herr Doktor. Nina, mein Kleines, hör doch zu weinen auf«, bat sie weich.
»Meine Mutti ist nicht gekommen«, schluchzte die Kleine verzweifelt. »Dabei habe ich es mir doch so sehr gewünscht. Mutti! Liebe, liebe Mutti!«, rief sie laut.
»Ich fahre«, erklärte Denise und setzte sich schon ans Steuer. »Ich schicke euch den Wagen gleich zurück!«, rief sie den Kindern noch zu. »Zuerst muss Nina ins Bett. Sie ist ganz erschöpft.«
»Gut, Mutti, wir gehen den Waldweg entlang. Und sag doch Magda, sie soll für Barri einen besonders großen Knochen vorbereiten. Den hat er sich verdient. Ich gehe sowieso mit dem Hund zu Fuß heim«, fügte Nick noch erklärend hinzu.
»Ich komme mit dir.« Pünktchen sah ihn bittend an.
»Ich auch!«, rief Henrik sogleich.
»Bist du denn nicht müde, du Knirps?«, fragte sein großer Bruder besorgt.
»Ich und müde? Was denkst du denn von mir? Außerdem kann ich es nicht leiden, dass du mich immer Knirps nennst. Wenn ich erwachsen bin, werde ich sowieso größer sein als du, weil mein Vati größer ist als deiner. Ätsch!«
Nick hielt es unter seiner Würde, darauf zu reagieren. Er durfte nicht vergessen, dass Henrik noch zu klein war, um wirklich klug zu sein. Versöhnlich nickte er und sagte: »Gut, mein Kleiner, dann komm mit.«
»Und ich schließe mich euch an«, erklärte Lucy fröhlich. »Sonst wird es zu voll im Auto. Bis nachher, Peter.«
Nina saß mit dick verschwollenen Augen zwischen ihrem Vati und Schwester Regine hinten im Wagen. Irmela saß vorn neben Denise.
»Ich bin so unglücklich«, jammerte Nina leise vor sich hin. »Ich möchte zu meiner Mutti. Ich habe so große Sehnsucht nach ihr.«
In diesen Minuten fasste Peter einen schweren Entschluss. Was für einen Sinn hatte es, Nina gewaltsam bei sich zu behalten, wenn sie sich derart nach Linda sehnte? Er würde das Kind Linda überlassen.
Aber noch schwieg er darüber, denn noch hatte er die Hoffnung, dass vielleicht alles zwischen ihnen wieder gut werden würde, nicht ganz aufgegeben. Zugleich sagte er sich aber, dass er ein hoffnungsloser Träumer war, obwohl diese Eigenschaft schlecht zu einem guten Strafverteidiger passte.
Frau Rennert und Schwester Regine bemühten sich sogleich um Nina, als der Wagen in Sophienlust eintraf. Die Heimleiterin flüsterte Denise noch schnell etwas zu. Überrascht blitzte es in den dunklen Frauenaugen auf. »Damit hätte ich gewiss nicht gerechnet«, flüsterte Denise zurück.
»Bitte, Fräulein Snyder und Dr. Hille, entschuldigen Sie mich für einen Augenblick«, bat sie und eilte ins Haus.
Als Denise das Biedermeierzimmer betrat, erblickte sie Linda, die zusammengekauert auf einem Sessel saß und leise weinte.
»Guten Tag, Frau Hille«, begrüßte Denise die verzweifelte junge Frau. Sie reichte ihr die Hand.
»Guten Tag.« Linda trocknete sich die Augen. »Haben Sie Nina gefunden?«, fragte sie angstvoll.
»Ja, wir haben sie gefunden. Die Kinderschwester und Frau Rennert bringen sie ins Bett. Nina muss stundenlang herumgeirrt sein. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten.«
»Aber warum ist sie nur fortgelaufen?«, fragte Linda unglücklich. »Warum nur?«
»Warum? Ich glaube, den Grund zu kennen. Nina hat damit erreichen wollen, dass sich ihre Eltern wieder aussöhnen.«
»Ich glaube, das ist unmöglich.« Mutlos sah Linda Denise an. Doch in den gütigen Frauenaugen las sie tiefes Verständnis und Mitleid. Da sagte sie spontan: »Frau von Schoenecker, ich brauche einen Menschen, mit dem ich offen über alles sprechen kann. Ich hoffe, dass Sie mich nicht mehr verurteilen werden, wenn Sie mich angehört haben.«
»Ich habe Sie nicht verurteilt.«
»Wirklich nicht?« Linda erwiderte ihren Blick leicht irritiert. »Aber ich bin doch in Ihren Augen eine gewissenlose Mutter, die ihr Kind preisgegeben hat, um einem anderen Mann zu folgen.«
»Bitte, liebe Frau Hille, erzählen Sie mir alles«, bat Denise weich. »Ich glaube, das wird Ihnen helfen.«
»Es hat damit angefangen, dass mein Mann oft bis spät abends fort war. Obwohl er sich bemühte, lieb zu mir zu sein, spürte ich doch, wie müde er immer war. Kein Wunder bei seinem anstrengenden Beruf, denn seine Klienten sehen in ihm so etwas wie einen Halbgott und vertrauen ihm restlos. Nur selten ist es ihm nicht gelungen, einen seiner Klienten freizubekommen.
Tonio war dagegen fast jeden Tag bei uns. Tonio Bertoldi ist Kunstmaler und hat es eigentlich auch meinem Mann zu verdanken, dass er so bekannt geworden ist. Doch ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen, weil ich sein Vertrauen nicht missbrauchen möchte«, warf sie hastig ein. »Darf ich rauchen?«, fragte sie dann und nahm bereits eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Sie zündete sie an und sprach dann weiter: »Ja, da war Tonio. Er war immer fröhlich, gut gelaunt und zu jedem Unsinn aufgelegt. Nina liebte ihn sehr. Aber das wird wohl jetzt vorbei sein, nachdem sie weiß, dass Tonio und ich ...« Sie unterbrach sich mit einem matten Lächeln. »Sei es, wie es sei«, fuhr sie fort. »Tonio liebte mich von Anfang an. Ich habe das nicht wahrhaben wollen. Und dann wurde ich seine Geliebte aus einem Gefühl der Verlassenheit heraus. Ich fühlte mich in seinen Armen ... Verzeihen Sie, so weit wollte ich nicht mit meinen Ausführungen gehen«, unterbrach sie sich und errötete bis unter die Haarwurzeln. »Tonio gestand mir, dass er mich schon immer geliebt habe. Und ich war in dieser Zeit sehr empfänglich für zärtliche Worte. Aber leider ist es mir nicht gegeben, ein Doppelleben zu führen. Von jeher habe ich für gerade Linien in meinem Leben gesorgt. Ich legte Peter ein Geständnis ab und sagte ihm, dass ich ohne Tonio nicht leben könne. Zu spät erkannte ich, wie weh ich ihm damit getan hatte. Heute weiß ich, dass ich Peter noch immer liebe, dass ich immer nur ihn geliebt habe. Aber nun ist es zu spät.«
»Zu spät ist nichts, solange man die Möglichkeit hat, etwas wiedergutzumachen, Frau Hille.«
»Ich glaube, auch diese Möglichkeit dürfte verpasst sein.« Linda erzählte Denise nun, wie verfahren die Situation war. »Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Peter sich in Lucy Snyder verliebt hat. Tonio liebt aber die Amerikanerin ebenfalls. Und ich habe beide verloren.« Um Lindas Fassung war es nun endgültig geschehen.
Denise ließ sie weinen. Währenddessen schmiedete sie Pläne. Schon manchmal hatte sie schlichtend in ein Ehedrama eingegriffen. Auch diesmal wollte sie das tun. Denn sie hatte nicht den Eindruck, dass Peter Hille und Lucy Snyder mehr als nur Freundschaft füreinander empfanden.
»Ich lasse Sie für einen Augenblick allein, Frau Hille«, sagte Denise gütig. »Ich bringe Ihnen einen Kognak, der Ihnen in Ihrem momentanen Zustand gewiss guttun wird.«
»Sie sind so lieb.« Aus tränenfeuchten Augen lächelte Linda sie an.
Denise war mehr denn je überzeugt, dass Linda Hille kein schlechter Mensch war. Sie hatte sich nur in eine Situation verrannt, aus der sie einfach keinen