Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
in die Zukunft sehen könne. Und sie, Nina, hätte doch so gern gewusst, ob ihre Mutti bald wieder nach Hause kommen würde.
Nina lief den Korridor entlang. Um diese Zeit war es meist sehr still im Haus, denn die Kinder machten ihre Schulaufgaben. Auch Nina hätte Hausaufgaben machen müssen, aber sie war im Moment viel zu traurig, um sich darauf konzentrieren zu können. Sie durchquerte die Halle und lief dann die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Die Fenster standen weit offen. Auf dem Ast der alten Kastanie saß ein Eichhörnchen und lugte neugierig zu ihr herein.
»Du hast es gut«, flüsterte Nina. »Bestimmt lebt deine Mutti noch und ist lieb zu dir. Meine Mutti lebt auch noch, aber sie hat mich nicht mehr lieb.« Nina wandte sich nun dem Stoffaffen Fips und der neuen Puppe Claudia zu, die nebeneinander auf dem Bett saßen. »Seid nicht traurig«, sagte sie. »Ich komme bald wieder. Inzwischen wird sich Pünktchen um euch kümmern.« Sie küsste zuerst die Puppe und dann den Affen. Danach zog sie ihr rotes Wolljäckchen an. Nach einem letzten Blick in ihr Zimmer schloss sie leise die Tür hinter sich und schlich den Gang entlang. Auf der obersten Stufe der Treppe blieb sie stehen und lauschte.
Nichts rührte sich im Haus. Die Hausangestellten waren um diese Zeit meist in ihren Zimmern. Auch Frau Rennert zog sich nach dem Mittagessen in ihre Räume zurück, während Schwester Regine die Kinder bei den Hausaufgaben beaufsichtigte.
Ob man sie vermissen würde?, überlegte Nina. Wahrscheinlich. Deshalb musste sie sich beeilen.
Nina verließ das Haus durch das Portal. Auf der Freitreppe zögerte sie einen Augenblick, bevor sie nach einem tiefen Atemzug die Stufen hinunterlief und dann im Park verschwand.
Auf einmal hörte sie Schritte hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um. Es war Barri, der Bernhardiner.
»Geh fort!«, rief Nina. »Ich kann dich nicht mitnehmen.«
Aber der Hund stupste sie freundschaftlich an und fixierte sie vorwurfsvoll aus seinen bernsteinfarbenen Augen.
Nina schüttelte den Kopf. »Barri, das musst du doch verstehen. Ich muss alles tun, um meine Eltern wieder zusammenzubringen. Darum muss ich fortlaufen. Weit fort. Sei ein guter Hund und lauf ins Haus zurück.«
Der Bernhardiner sah sie noch einmal traurig an, dann machte er kehrt. Nina aber verließ durch das kleine Eisenpförtchen den Park und eilte weiter.
*
Dr. Peter Hille wollte gerade die Villa verlassen, um noch einmal in seine Kanzlei zu fahren, als das Hausmädchen ihn zurückrief.
»Was ist los, Wally?«, fragte er.
»Sie werden aus Sophienlust verlangt, Herr Doktor. Ich glaube irgendetwas ist mit Nina geschehen«, sagte sie erregt.
Peter wechselte die Farbe. »Mit Nina? Aber was?«
Das Mädchen zuckte die Achseln, und Peter eilte zum Telefon und meldete sich.
Denise war am Apparat. »Herr Dr. Hille, wir wissen uns keinen Rat mehr«, sagte sie verzweifelt. »Nina ist verschwunden. Sie muss gleich nach dem Mittagessen das Haus verlassen haben. Schwester Regine war bei den Kindern im Aufenthaltsraum, um sie bei ihren Hausaufgaben zu beaufsichtigen. Sie bemerkte zunächst gar nicht, dass Nina fehlte. Dann aber hat unser Hund Barri an der Tür gekratzt. Er lief zu Ninas leerem Platz und stupste dann meinen Sohn Nick an. Erst jetzt fragte Schwester Regine nach dem Kind. Pünktchen meinte, Nina sei schon den ganzen Tag so traurig gewesen und sei sicherlich auf ihrem Zimmer. Als wir sie dort nicht fanden, suchten wir sie im ganzen Haus, dann draußen im Park. Nick hat die halb angelehnte Eisenpforte entdeckt. Ich glaube, Nina befindet sich auf dem Weg nach Frankfurt. Sie wird sicherlich einen Wagen angehalten haben. Sollen wir auf alle Fälle die Polizei verständigen?«
»Ich komme sofort nach Sophienlust. Jetzt ist es drei. Gegen halb fünf werde ich bei Ihnen sein. Vielleicht auch früher. Das kommt auf den Verkehr an. Bestimmt wird Nina inzwischen zurückkommen«, fügte er leiser hinzu.
»Hoffentlich, Dr. Hille.«
Peter legte auf. Dann wählte er die Telefonnummer der Familienpension, in der Lucy nun wohnte.
Lucy war da. Als er sie fragte, ob sie ihn nach Sophienlust begleiten wolle, sagte sie sofort zu. »Peter, Nina ist bereits ein sehr vernünftiges Mädchen«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Sie wird nicht fortgelaufen sein. Sie hat sich bestimmt irgendwo versteckt.«
»Das hoffe ich auch. Ich mache mir nur Sorge, wenn sie per Anhalter nach Hause gefahren ist. Sie ist zwar erst neun, aber auch Mädchen in diesem Alter sind heutzutage gefährdet. Ich hole Sie in zehn Minuten ab, Lucy.«
Peter bat nun das Hausmädchen und die Köchin, sofort in Sophienlust anzurufen, wenn Nina eintreffen sollte. Dann verließ er die Villa.
Lucy wartete schon vor dem Haus auf ihn. Als sie neben ihm saß, fühlte er sich etwas ruhiger und war nun auch zuversichtlicher.
»Mir wird noch eine schwere Zeit mit dem Kind bevorstehen«, erklärte er, als er sich in den Verkehr der Hauptstraße einfädelte. »Nina kann es ganz einfach nicht verkraften, dass meine Frau uns verlassen hat.«
»Nicht wahr, morgen ist der Scheidungstermin?«
»Ja, Lucy, morgen. Am liebsten möchte ich ihn rückgängig machen.«
»Dann tun Sie es doch, Peter.«
»Auf alle Fälle wird es einen Versöhnungstermin geben. Vielleicht …« Er sprach nicht weiter, weil er selbst nicht daran glaubte, dass Linda die Absicht habe, zu ihm zurückzukehren. Sie liebte Tonio und würde ihn niemals verlassen.
Als Peter und Lucy gegen fünf Uhr in Sophienlust eintrafen, herrschte dort noch immer große Aufregung. Denn Nina war noch nicht zurückgekommen.
Denise sprach gerade mit Pünktchen, weil sie hoffte, dass diese ihr etwas mehr über Ninas seelischen Zustand erzählen könne. Die beiden Mädchen waren stets den ganzen Tag beisammengewesen und hatten sich auch noch am Abend im Bett miteinander unterhalten.
»Pünktchen, überlege doch mal ganz genau, ob Nina nicht irgendwelche Andeutungen gemacht hat über ihre Flucht.«
»Tante Isi, ich kann mich wirklich nicht … O doch, jetzt fällt mir etwas ein!«, rief Pünktchen erleichtert. »Vorgestern Abend hat sie gesagt, sie habe ihre Mutti noch immer lieb, obwohl sie ihr doch böse sein müsste. Und dann habe ich gesagt, bestimmt würden sich ihre Eltern wieder aussöhnen. Ja, und dann habe ich auch noch gesagt, dass wir schon mehrere Kinder hier hatten, deren Eltern sich scheiden lassen wollten oder schon geschieden waren. Aber die Kinder hätten sie wieder zusammengebracht. Dabei habe ich an den kleinen Ralph gedacht, der fortgelaufen ist. Sein Vater und auch seine Mutter sind dann doch gleich nach Sophienlust gekommen, um ihn zu suchen. Sie haben sich dann doch tatsächlich ausgesöhnt.«
»Aha.« Frau Rennert, die ebenfalls zugehört hatte, richtete ihren Blick nun ernst auf das zwölfjährige Mädchen. »Und was hat Nina darauf geantwortet?«, fragte sie gespannt.
»Eigentlich nichts. Sie hat mir nur ganz still zugehört, als ich ihr von dem kleinen Ralph erzählte.«
»Ja, Frau Rennert, das wird es sein. Dann kann Nina eigentlich nicht weit sein. Sie wird sich irgendwo verstecken, um ihre Eltern in Angst und Schrecken zu versetzen. Leider wird ihr Plan nicht aufgehen. Denn so, wie ich jetzt Frau Hille einschätze, wird sie wenig Interesse an Nina haben.«
»Das sagen Sie, Frau von Schoenecker? Ausgerechnet Sie? Sie glauben doch sonst immer nur an das Gute im Menschen«, wunderte sich die Heimleiterin.
»Frau Hille hat Nina bestimmt nicht mehr lieb«, meinte nun auch Pünktchen. »Eine richtige Mutter würde doch niemals ihr Kind im Stich lassen.«
»Eine liebevolle Mutter gewiss nicht, Pünktchen. Ich warte jetzt noch, bis Herr Hille da ist. Dann werde ich meinen Mann bitten, die Polizei zu verständigen.«
»Mutti, Herr Dr. Hille und Fräulein Snyder sind da!«, rief Nick in diesem Augenblick von der Tür her.
»Ich komme sofort.« Denise erhob sich und begrüßte kurz