Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
trank er unmäßig viel. Er saß auf der Couch und starrte vor sich hin. Der Aschenbecher vor ihm auf dem Tischchen war bereits bis zum Rand mit Zigarettenstummeln gefüllt. Im Atelier war eine Luft zum Schneiden.
Tonio goss den letzten Tropfen aus der Rotweinflasche ins Glas und leerte es auf einen Zug. Dann erhob er sich und wählte die Telefonnummer von Peters Villa. Er wünschte sich, dass Peter sich melde, damit er ihm die Meinung sagen könne. Aber Wally war am Apparat.
»Ich möchte Fräulein Lucy Snyder sprechen«, bat Tonio gereizt. »Hier spricht Tonio Bertoldi«, fügte er etwas freundlicher hinzu.
»Ach, Herr Bertoldi? Fräulein Snyder ist mit Herrn Dr. Hille nach Sophienlust gefahren«, erwiderte Wally.
»Ach so!«, rief Tonio und knallte den Hörer auf. »Genauso habe ich es mir gedacht. Also hat sie sich tatsächlich in Peter verliebt, in den bekannten Strafverteidiger!« Wütend fegte er mit der Hand über das Tischchen. Die leere Weinflasche stieß das Glas um.
Tonio gab dem Tischchen noch einen Fußtritt und lachte laut auf, als das Glas auf dem Boden zersplitterte. Dann zog er seine Wildlederjacke über und suchte nach seinen Autoschlüsseln. Auf unsicheren Beinen verließ er die Atelierwohnung
Unten auf der Straße wurde ihm auf einmal so schwindelig, dass er sich an die Hauswand lehnen musste, um nicht umzufallen. Glücklicherweise kam in diesem Augenblick ein Polizeistreifenwagen vorbeigefahren. Der Anblick des grünen Volkswagens brachte Tonio zur Vernunft. Nein, er konnte in diesem Zustand nicht nach Sophienlust fahren. Obwohl er im Augenblick mit Gott und der Welt verfallen war, hatte er doch keine Lust, einen Unfall herbeizuführen. Schließlich war er ein begabter Kunstmaler und hatte vor, noch viel zu malen.
Wie ein Blinder tastete Tonio sich die Stufen hinauf. Erleichtert atmete er auf, als er seine Atelierwohnung ungesehen wieder erreicht hatte. Er schloss auf und taumelte in die Wohnung. Im Atelier fiel er schwer auf die Couch und schlief sofort ein.
*
Nina hatte sich alles viel einfacher vorgestellt. Anfangs war sie voller Optimismus durch den Wald gelaufen und beim See stehengeblieben. Kurz entschlossen hatte sie sich ins Boot gesetzt und war losgerudert.
Am anderen Ufer war sie dann zögernd stehengeblieben, denn so weit hatte sie sich noch nie von Sophienlust entfernt.
Ängstlich blickte sie nun in den dichten Laubwald hinein. Vielleicht sollte sie doch wieder umkehren?, überlegte sie. Auch knurrte ihr Magen plötzlich ganz laut. Sie hätte zum Mittagessen doch mehr essen sollen. Aber da war sie viel zu aufgeregt gewesen, um auch nur einen Bissen herunterzubekommen.
Dann aber dachte Nina an das, was sie mit ihrer Flucht bezwecken wollte. Entschlossen setzte sie ihren Weg nach einem tiefen Atemzug wieder fort.
Ganz still war es im Wald. Der weiche Boden verschluckte ihre Schritte. Einige Wildtauben streiften über ihr durch die Kronen der riesigen Bäume, deren Äste ineinander verzweigt waren und nur wenig Licht durchließen.
Nina schluckte ihre Tränen hinunter und bekämpfte tapfer ihre Angst. Sie hatte keine Ahnung, wann der Wald zu Ende war, aber irgendwann musste er doch aufhören, dachte sie und lief weiter und weiter.
Plötzlich knackte es neben ihr im Gehölz. Entsetzt blieb sie stehen. Und dann sah sie einen Mann. Er war in Lumpen gekleidet und hatte einen Vollbart.
Kichernd kam er auf sie zu. »Na, was machst du denn hier, mein Kind?«, fragte er blinzelnd. »So allein im Wald ist es für ein kleines Mädchen gefährlich. Hast du Angst vor mir?« Er kam noch näher.
Nina war wie gelähmt. Ihre Füße schienen am Boden festgewachsen zu sein. Auch konnte sie keinen Ton über ihre Lippen bringen. Sie dachte mit Entsetzen an die vielen Verbrechen, von denen die Zeitungen immer berichteten. Erst vor einigen Wochen war ein sechsjähriges Mädchen ermordet worden.
Der Mann lachte laut. »Keine Angst, Mädchen, ich tue dir nichts. Ich bin zwar ein Gammler und habe auch nichts zum Beißen, aber ich lasse kleine Mädchen in Ruhe. Trotzdem solltest du vorsichtig sein. Wohin willst du denn gehen?«
Nina atmete beklommen auf. Noch traute sie diesem Mann nicht ganz.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie mit ganz kleiner Stimme.
»Dann bist du wohl durchgebrannt? Lebst du in dem Kinderparadies Sophienlust?«
Nina schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall durfte sie diesem Mann die Wahrheit sagen, sonst würde er sie bestimmt verraten.
»Schade. In Sophienlust leben noch Menschen mit goldenen Herzen. Die Köchin kenne ich gut. Sie gibt mir hin und wieder eine warme Suppe, eine Wurst oder ein Brot. Manchmal auch Schnaps.«
»Dann kennen Sie Magda?« Ninas Angst verflog nun endgültig. Erschrocken schlug sie sich zugleich auf den Mund, denn mit ihren Worten hatte sie sich verraten.
»Also doch eine Ausreißerin? Geh zurück, Mädchen. Wenn du willst, bringe ich dich zurück, damit dir nichts geschieht. Auf diese Weise kann ich etwas gutmachen.«
»Nein, nein, ich kann nicht zurück! Ich muss weiter!« Nina lief verzweifelt von ihm fort. Und dann erblickte sie einen Heuschober vor sich und dahinter eine große Wiese, von Häusern begrenzt.
Als sie feststellte, dass es schon zu dämmern begann, öffnete sie ängstlich das Scheunentor und blickte in die Scheune hinein. Auf einmal war sie so müde, dass sie das Verlangen sich für ein Weilchen auszuruhen, nicht unterdrücken konnte. Sie kroch ins Heu. Aufatmend streckte sie sich aus. Hier würde man sie bestimmt nicht so schnell finden, dachte sie noch, bevor sie einschlief.
*
Nick hatte Barri vorsichtshalber an die Leine gelegt, als der Hund Ninas Spur am gegenüberliegenden Seeufer wieder aufgenommen hatte.
Indessen war Schwester Regine mit dem Auto zurückgekehrt. Denise und Lucy waren zu ihr in den Wagen gestiegen. Langsam fuhren sie nun den Waldweg entlang. Von dort konnten sie Barri, die Kinder und Peter genau beobachten.
Der Hund blieb mit seiner Nase die ganze Zeit am Boden. Nick hatte Mühe, das kräftige Tier festzuhalten.
»Dass Nina so weit fortgelaufen ist, hätte ich nicht gedacht«, meinte Pünktchen. »Mir tun schon die Beine weh.«
»Barri wird immer aufgeregter!«, rief Fabian. »Seht doch, der Wald ist zu Ende. Und dort vorn ist eine Scheune!«
»Du, Pünktchen, da kommt ein Mann«, flüsterte Vicky mit großen ängstlichen Augen.
Erschrocken drehten sich die Kinder um.
»Ach, das ist doch nur der alte Kaspar, der von der Gemeinde und auch von Sophienlust durchgefüttert wird«, erwiderte Nick. Er ist ein Tagelöhner, der nichts von der Arbeit wissen will. Aber er ist harmlos. Hallo, Kaspar!«, rief er den Gammler an.
»Hallo, junger Herr!« Der alte Mann kam näher. »Sucht ihr jemanden?«, fragte er. »Vielleicht könnte ich euch etwas sagen.«
»Ja, wir suchen ein neunjähriges Mädchen.«
»Mit langen blonden Haaren und einer roten Jacke?«
»Lange blonde Haare hat sie. Ob sie die rote Jacke anhat, wissen wir nicht genau«, erwiderte Pünktchen.
»Aber sie besitzt eine rote Jacke!«, rief Irmela.
»Wo haben Sie das Kind gesehen?«
»Vor ungefähr einer Stunde mitten im Wald. Ich wollte sie nach Sophienlust zurückbringen. Zuerst hat sie abgestritten, dass sie zu euch gehört, aber dann hat sie sich verraten, indem sie eure Köchin Magda erwähnt hat. Das muss das Mädchen gewesen sein, das ihr sucht.«
Obwohl Nick meist sehr sparsam mit seinem Taschengeld war, gab er dem alten Mann einen Fünfeuroschein für diese Auskunft. Zugleich bellte Barri aufgeregt und zerrte an der Leine.
»Vielen Dank für deine Auskunft Kaspar«, sagte Nick noch, bevor er sich von dem Hund weiterziehen ließ.
Barri blieb vor der Scheune stehen. Peter atmete tief