Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
bedeutete für Fremde eine Überraschung. Im allgemeinen stellten sie sich auch unter der Besitzerin eines Kinderheimes eine gänzlich andere Frau vor als sie es war.
Nick zog sich zurück, wenn auch ein wenig zögernd. Am liebsten hätte er am Gespräch der Erwachsenen teilgenommen. Aber seine Mutter gab ihm mit den Augen einen Wink, dem er sich fügen musste. Dadurch festigte sich seine am Morgen geäußerte Vermutung, dass es mit Antjes Eltern eine besondere Bewandtnis haben müsse.
»Ich hoffe, Sie hatten eine glatte Fahrt«, sagte Denise indessen. »Es tut mir leid, dass Sie für Ihre schöne Reise einen so betrüblichen Anlass haben, liebe Frau Martell. Ich hoffe zuversichtlich, dass Sie sich gründlich ausruhen und erholen können. Sie dürfen versichert sein, dass wir Antje liebhaben werden.«
»Wo steckt unsere Tochter eigentlich?«, ließ sich der Professor vernehmen.
»Die Kinder wollten ihr das Zimmer, in dem sie schlafen wird, zeigen. Ich bin froh, dass sie gleich mitgegangen ist, Klaus. Das erspart uns manchen Kummer.«
»Es ist das erstemal, dass Sie sich von Antje trennen?«, warf Denise verständnisvoll ein.
»Ja. Es fällt mir wirklich nicht leicht«, gab Hanna offen zu. »Andererseits sehe ich ein, dass ich diese Reise dringend benötige. Die Zeit geht ja vorüber.« Sie unterdrückte einen Seufzer.
Klaus Martell nahm die Hand seiner Frau. »Es ist für ein Kind von Vorteil, wenn es einmal für eine Weile auf sich selbst gestellt ist. Antje findet hier Geborgenheit und einen Kreis von netten Kindern. Es wird ihr bestimmt an nichts fehlen.«
»Hin und wieder lebt sich ein Kind schwer ein. Doch ich kann sagen, dass das die Ausnahme ist. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, liebe Frau Martell. Falls Antje Lust hat, kann sie auf unseren Ponys reiten lernen und sich ein wenig mit dem Landleben vertraut machen. Für Stadtkinder bedeutet das meist eine große Attraktion. Außerdem haben wir in Bachenau bei meiner verheirateten Tochter noch etwas Besonderes zu bieten.«
»Das Tierheim?«, warf Hanna lebhaft ein. »Die Kinder meiner Freundin sollen von nichts anderem erzählt haben.«
»Mein Schwiegersohn ist Tierarzt. Meine Tochter hat das Tierheim auf dem großen Gelände des Gartens angelegt. Inzwischen hat es schon einige Berühmtheit erlangt. Für unsere Kinder ist es jedes Mal ein Ereignis, wenn sie meine Tochter besuchen dürfen, wobei man schwer entscheiden kann, ob es das Tierheim oder Andrea’s Apfelkuchen ist, der die größere Anziehungskraft ausübt.«
»Eine verheiratete Tochter hätte ich Ihnen beim besten Willen nicht zugetraut«, meinte der Professor kopfschüttelnd.
»Andrea ist meine Stieftochter. Sie und ihr Bruder Sascha stammen aus der ersten Ehe meines Mannes. Auch ich war verwitwet, als ich meinen Mann kennenlernte. Daraus erklärt sich Nicks Doppelname. Nick ist, genaugenommen, ein Wellentin.«
»Es ist schön, wenn sich alles so glücklich fügt«, versetzte Hanna sehr leise.
»Henrik ist unser Jüngster«, ergänzte Denise ihren Bericht. »Er ist ein Schoenecker und gleicht seinem Vater. So ist für uns ein Wunsch offengeblieben.«
»Uns ist …, ist die Hoffnung auf ein zweites Kind nicht erfüllt worden«, brachte Hanna mühsam hervor.
»Aber Sie haben ja Antje. Ich freue mich darauf, Ihr Töchterchen kennenzulernen. Ich meine auch, dass die erlittene Fehlgeburt Sie nicht entmutigen sollte, Frau Martell. Die Wege unseres Schicksals sind oft verschlungen. Doch am Ende lernen wir meist zu begreifen, dass nichts ohne Sinn geschieht, selbst dann nicht, wenn es uns schmerzlich erscheint.«
Hanna sah Denise mit einem seltsamen Blick an und schwieg. Denise konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass diese sympathische junge Frau ihr etwas verschwieg. Sie lenkte auf allgemeinere Themen über und fragte nach besonderen Wünschen der Eltern in Bezug auf ihre Tochter. Gar bald waren alle wesentlichen Punkte geklärt. Denise schlug vor, einen kurzen Rundgang durch Sophienlust zu machen und zum Tee nach Schoeneich zu fahren.
Sie trafen Antje im Kreis der Kinder bei den Ponys. Denise umarmte ihren neuen Schützling. »Ich freue mich, dass du ein Weilchen bei uns bleiben willst, Antje. Wenn du magst, kannst du mich Tante Isi nennen. So rufen mich alle unsere Kinder.«
Antje blickte in die dunklen Augen, die Wärme und Herzensgüte ausstrahlten. »Es gefällt mir in Sophienlust, Tante Isi«, erklärte sie freimütig. »Darf ich wirklich reiten auf den kleinen Pferdchen?«
»Natürlich darfst du. Die Ponys sind für euch da.«
»Gibt es das Tierheim Waldi & Co. wirklich? Oder hat Henrik das bloß so erzählt?«
Denise strich über Antjes krausen Scheitel. »Warum sollte Henrik dich beschwindeln? Du wirst staunen, wenn du zum erstenmal nach Bachenau zu Tante Andrea kommst.«
»Henrik sagt, sie hat schon ein Baby. Er ist ein richtiger Onkel des kleinen Buben. Das glaube ich einfach nicht.«
»Es stimmt, Antje. Meine große Tochter Andrea ist verheiratet und hat ein Söhnchen. Henrik ist der Onkel des kleinen Peterle.«
Der Professor interessierte sich währenddessen für den landwirtschaftlichen Betrieb von Sophienlust. Nick, der rundum gut Bescheid wusste, erzählte ihm bereitwillig, dass sein Vater das Gut zusammen mit Gut Schoeneich bewirtschaftete.
Klaus Martell legte den Arm um Hannas Schultern. »Ich wünschte, ich wäre als Junge auch mal in einem solchen Heim gewesen. Großartig finde ich es. Wir werden wahrscheinlich später unsere liebe Not haben, Antje von hier wegzuholen.«
Antje, die diese Worte hörte, lachte. »Wenn ihr zurückkommt, möchte ich wieder nach Hause. Aber solange unser Haus leer ist, bleibe ich lieber in Sophienlust.«
Wenig später erfolgte ein Aufbruch nach Schoeneich.
Als Hanna ihr Töchterchen zum Wagen rief, erlebte sie eine kleine Überraschung. »Nick und Henrik haben mir verraten, dass es hier heute Schokoladentorte gibt, Mutti«, sagte Antje. »Bist du böse, wenn ich nicht mitfahre?«
Hanna sah Denise von Schoenecker ein bisschen hilflos an. Diese nickte ihr zu. »Lassen Sie die Kleine nur zurück, Frau Martell. Die Schokoladentorte unserer Köchin ist durch nichts in der Welt zu übertreffen. Meine Söhne jedenfalls lassen sich diesen Festschmaus gewiss nicht entgehen.«
Antje seufzte erleichtert auf und ging mit den Kindern in den Speisesaal.
*
»Es hat etwas Besonderes, dieses Sophienlust«, erklärte der Professor eine halbe Stunde später in Schoeneich am gemütlichen Kaffeetisch.
»Das ist der Verdienst meiner lieben Frau«, erwiderte Alexander von Schoenecker. »Es weht eine besondere Luft in diesem alten Herrenhaus. Unser Nick nennt es deshalb das Haus der glücklichen Kinder. Tatsächlich ist es eine erstaunlich harmonische und heile Welt, die da entstanden ist.«
»Ich glaube, es ist der Geist der Sophie von Wellentin, Alexander. Ohne ihr Testament wäre das Heim niemals entstanden.«
»Meine Frau stellt ihr Licht stets unter den Scheffel«, beklagte sich Alexander.
Als Denise die Tassen zum zweitenmal füllte, fuhr draußen ein Wagen vor. Am Arm ihres Mannes betrat kurz darauf eine bildhübsche Frau mit dunklem Haar die Wohnhalle.
»Das ist unsere Andrea. Darf ich bekannt machen? Dr. von Lehn, unser Schwiegersohn. Prof. Martell und seine Frau, deren Tochter Antje seit ein paar Stunden in Sophienlust ist.«
Andrea von Lehn ließ sich von ihrem Vater umarmen und küsste ihre Mutter. Es wurden neue Teetassen gebracht und zwei weitere Stühle in den Kreis gerückt.
Hanna fragte sofort nach dem Tierheim, von dem Andrea, die begeisterte Tierliebhaberin, nur zu gern berichtete.
»Meine Antje liebt Tiere über alles, Frau von Lehn. Sie wird sicher oft bei Ihnen auftauchen.«
»Das tun die meisten Kinder aus Sophienlust. Ich bin froh darüber. Auf diese Weise verliere ich den Kontakt nicht. In gewisser Weise