Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
Die Türkei fiel nach Bulgarien ab. Heute ist der Waffenstillstand unterzeichnet und die Türkei nebst Dardanellen ausgeliefert der Entente. Bulgarien ist Republik. Die Alliierten haben es besetzt. Serbien ist wiedererobert. Die Alliierten nähern sich der Save und Drina. Österreich ist von uns durch den Verrat des Kaisers Karl abgefallen, auseinandergefallen. Ungarn ist selbständig und wird die Alliierten durchmarschieren lassen. … Die Balkanfrage ist für uns verloren … Wilson zieht den Frieden hin, auf den wir bedingungslos einzugehen scheinen … Im Deutschen Reichstag fordert Polen Danzig, will Elsass-Lothringen an Frankreich. Von innen heraus droht die Anarchie durch Polen und Bolschewikis.“
Neben dem von Reiswitz bereits im Oktober ausgemachten Hauptschuldigen an der deutschen Niederlange, dem Kaiser und der dahinter stehenden monarchischen Verfassung, drohte Deutschland also nun auch Ungemach durch die Bestrebungen des polnischen Nationalismus einerseits und durch kommunistische Umsturzversuche andererseits. Doch auch Anfang November war für Reiswitz weiterhin klar, dass die Niederlage programmiert war: „Da nutzt keine Regierung etwas, und sei sie noch so tüchtig, hier rächt sich das ancien régime deren, deren Folge alle diese diplomatischen débacles waren und sind, die unsere Siege verdarben und verderben.“ Doch war er zu diesem Zeitpunkt keinesfalls Befürworter einer bedingungslosen Kapitulation: „[Der SPD-Politiker und Staatsminister ohne Portefeuille unter Max von Baden, Philipp] Scheidemann beantragt Abdankung des Kaisers. S.M. [Seine Majestät] … bei Nacht und Nebel ins Große Hauptquartier, nachdem er vorher dumm genug war, [am 26.10.18] Ludendorff zu entlassen“, welcher die Kriegshandlungen nun doch fortsetzen wollte.
Als die Novemberrevolution Berlin erreichte, verrichtete Reiswitz Dienst in der Kaserne seines Regiments in der Kruppstraße in Moabit, rund vier Kilometer zu Fuß von der Familienwohnung entfernt. Er war von den neuen politischen Gegebenheiten nicht angetan: „Tatsache aber ist seit Donnerstag, dass die Flotte die rote Fahne gehisst hat, dass Offiziere erschossen, erhängt und gefangen gesetzt wurden, dass Hamburg, Bremen, Hannover, Kiel, Swinemünde von Arbeiter- und Soldatenräten regiert werden, kurz an der Küste völlige Anarchie herrscht.“ Am 09.11.18 war er im Begriff, nachmittags nach Dienstschluss die Kaserne zu verlassen und sah sich folgender Situation gegenüber: „Da kamen sie schon jenseits der Straße in die Südkaserne. ‚Brüder, kein Blutvergießen‘ stand auf einem Plakat, das sie voraus trugen, und ich sah, wie die Südkasernenmannschaften die Kokarden abrissen, die Waffen ablieferten, usw. Sah’s von meinem Fenster aus. Jetzt schienen sie auch die Kruppstraße entlang zu kommen. Ich setzte meine freche blaue Offiziersmütze auf, zog mir meinen extra Mantel an, und kenntlich vor allen als preußischer Fähnrich im ersten Garde Feldartillerie Regiment, Albrecht Freiherr von Reiswitz und Kaderžin ging ich, den Revolver in der Tasche hinaus“. Doch alleine konnte der Fahnenjunker nichts gegen die Revolutionäre bewirken. Die Artillerieabteilung des Regiments weigerte sich, auf die Demonstranten zu schießen: „Die Tore wurden geöffnet. 14- und 16-jährigen Bengels in Zivil, Fahnenflüchtigen … mit roter Fahne übergaben die alten Krieger die bis … 4 Jahre im Feuer gestanden hatten, die sich das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse erworben hatten, die schwere Wunden, unmenschliche Strapazen ertragen hatten, man höre: 14- und 16-jährigen Bengels übergaben sie ihre Waffen!!! Ich sah Offiziere, sah Mannschaften, sah vor allem manchen gebräunten und weißbärtigen Wachtmeister Tränen, heiße Tränen vergießen, und ich selbst: ich habe geheult vor Wut!!“104
In dieser unübersichtlichen Situation hatte Reiswitz zwar kein Verständnis für die Revolution der Straße, jedoch durchaus Respekt vor den neuen Machthabern der Mehrheitssozialdemokratie, die es seines Dafürhaltens nach zumindest schafften, die kommunistische Bedrohung in Schach zu halten. Einen Tag später, am 10.11.18, kam er auf der Tauentzienstraße mit Offizierskameraden zusammen, von denen einer ihn galgenhumorig mit „Genosse Reiswitz“ ansprach. Für Reiswitz war in diesem Moment klar, dass „die Vernunft der Mehrheitssozialdemokratie, gestützt auf den sehr rechts stehenden Soldatenrat siegte und die völlige Anarchie“ bzw. der „Spartakus Wahnsinn“ verhindert wurde. Die Ebertregierung [Friedrich Ebert (1871–1925) stand seit dem 10.11.18 der Interimsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, vor] habe zwar den „schmählichsten Waffenstillstand“ unterzeichnet und auch die Bildung der Arbeiterund Soldatenräte, eine laut Reiswitz „bolschewistische Institution“, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Doch andererseits bescheinigte er Ebert und Scheidemann (1865–1939), den „Ursozialdemokraten“, dass sie für Deutschland „das beste“ wollten. Sein Verständnis für die SPD-Führer mündete aber keinesfalls darin, dass er sich selber als einen Sozialdemokraten sah. Nicht ohne Humor bekundete er: „Ich stehe auf Seiten der deutsch demokratischen Volkspartei. Ein Egoist auf Seiten der reinen Egoisten gegen die größten Egoisten.“ 105
Seine Antipathie gegenüber den linksradikalen Kräften zeigte sich dann besonders während des Spartakusaufstandes im Januar 1919 in Berlin. Am 12.01.19 schrieb er an seine Mutter: „[Karl] Liebknecht ist nach der Schweiz durchgebrannt. Radek, Ledebour106, Rosa Luxemburg sind verhaftet. Schade, dass sie die Kerle nicht gleich an die Wand stellen, sondern verhaften. 400 Tote sind bereits überschritten und über 1000 Verwundete gezählt, und das alles so nahe von einem.“107 Bei der angeblichen Flucht von Liebknecht (1871–1919) in die Schweiz handelte es sich um ein in der Presse kolportiertes Gerücht, ebenso wie bei der Verhaftung von Rosa Luxemburg (1871–1919). Liebknecht und Luxemburg wurden dann allerdings tatsächlich drei Tage später, keine halbe Stunde zu Fuß von Reiswitz’ Wohnung entfernt, in der Mannheimer Str. 43, von Angehörigen einer Wilmersdorfer Bürgerwehr aufgegriffen.
Doch Reiswitz’ deutliche Ablehnung der Spartakisten führte nicht zu seiner Hinwendung zum anderen politischen Extrem.108 Im selben Brief machte er sich lustig über den „deutsch nationalen Sturm“, dem er sich durch gewisse Bekannte nun ausgesetzt sah, weil er das Verteilen von Flugblättern für die „Deutsch Nationale Partei … diplomatisch abgelehnt“ hatte.109 Vor allem war er nicht bereit, sein Leben für das besitzende Bürgertum zu opfern. In einem rückblickenden Tagebucheintrag vom 28.01.19 meinte er sarkastisch: „Es schien, als sollte Spartakus siegen, aber noch einmal gelang es, die Sache ins Reine zu bringen. Bürgerjugend und Offiziere retteten den Kurfürstendamm und in zweiter Linie sich selbst.“ Er erwähnte, dass den „Kämpfern gegen Spartakus“ pro Kopf 18 Mark geboten wurden, woraufhin „die Jugend des Mittelstandes als ‚Gediente‘ kämpfte für die Bourgeoisie des Kurfürstendamm“. Diese „Jugend“ – darunter laut Reiswitz auch viele Juden – identifizierte er als „die guten Elemente, die wieder einmal dumm genug gewesen waren sich für die feiste Bourgeoisie aufzuopfern.“ Er, als jemand, der sich keineswegs als Verfechter der alten, den verlorenen Krieg zu verantwortenden, monarchischen Ordnung ansah, sondern Verständnis für die gemäßigte neue sozialdemokratische Staatsführung aufbrachte, begrüßte zwar die rigorose Niederwerfung der Spartakisten, wollte sich aber andererseits nicht der entstehenden Freikorpsbewegung anschließen, die er als Büttel des Besitzbürgertums betrachtete: „Ich wurde auch oft gefragt, warum ich nicht mitkämpfte. Ich habe geschwiegen.“ Und dies, obwohl Reiswitz eigentlich der Prototyp eines Freikorpsangehörigen war, „who had come of age in a bellicose atmosphere saturated with tales of heroic bloodshed“, der aber wegen seines nur kurzen Frontaufenthaltes „missed out on first-hand experience of the ‚storms of steel‘“.110 Reiswitz erging es nicht wie der Hauptfigur in Joseph Roths Roman „Das Spinnennetz“ aus dem Jahre 1923, Theodor Lohse, dem es seine weiblichen Familienangehörigen übelnahmen, dass er nicht den Heldentod gestorben war und nun als demobilisierter junger Leutnant, als wehrloses Opfer der Revolution seiner Mutter und Schwester zur Last fiel.
Damit ist in mancher Hinsicht sein Weg zum Jungkonservatismus111 vorgezeichnet: „Es wird noch eine furchtbare Auseinandersetzung geben zwischen feister Bourgeoisie und Proletariat, zwischen dem Gelde und der Dummheit. Wir werden wie stets unschuldig mitleiden.“112 Reiswitz’ Distanz gegenüber der ökonomisch dominanten oberen Mittelklasse und seine Offenheit für politisches Gedankengut, welches das Schwergewicht auf die Gemeinschaft – sei es im völkischen oder sozialdemokratischen Sinne – legt, fand ihren Ausdruck im Gedankengut vieler Jungkonservativer. So war auch der später von den Nationalsozialisten ermordete Edgar Jung (1894–1934), streng „antikapitalistisch“113 ausgerichtet.114 Auf den jungen Reiswitz traf ironischerweise genau das zu,