Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth


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Hörnern, aber am Ende, kurz vor Tagesanbruch, vermag sie sich nicht mehr zu widersetzen: „Le loup se jeta sur la petite chèvre et la mangea.“90 Ob der kleine Alli in späteren Jahren die Moral der Geschichte, sich nicht ohne Not mit den überlegenen Kräften des Bösen auseinanderzusetzen, beherzigen würde?

      Zweieinhalb Jahre nach der gemeinsamen Französischlektion trennten sich die Wege der Brüder Reiswitz. Fünf Jahre lang hatten Alli und Rolf, der am 30.11.1893 in Breslau geboren worden war, mit den Eltern in der Schweiz, am Luganer See, gewohnt. Dort war Alli am 08.07.1899 geboren worden. Im Jahre 1904 zog die Familie nach Berlin um. Ab dem Herbst 1909 besuchte Alli dort das Bismarck-Gymnasium. Für das Winterhalbjahr 1913/1914 schickten seine Eltern ihn auf das Alumnat im schlesischen Niesky. Kurz vor Kriegsbeginn 1914 nahm Johann Albrecht vom 04.–09.07. in Dänemark an einem Sommerlager des der Wehrerziehung verpflichteten Jungdeutschland-Bundes teil.91 Nach dem Kriegsausbruch wurde der frischgebackene Abiturient Rolf Soldat und fiel als Leutnant des 1. Garde-Ulanenregiments am 02.05.15 an der Ostfront, nahe dem Dorf Staszkowka, am ersten Tag der Schlacht bei Gorlice-Tarnów. Unter dem Kommando des späteren Generalfeldmarschalls August von Mackensen (1849–1945), welcher viele Jahre später zu Reiswitz als Kunstschützer in Belgrad Kontakt aufnehmen sollte, unternahm hier in Galizien die neuaufgestellte 11. Armee einen erfolgreichen Vorstoß gegen russische Kräfte, der an sich nur geringe deutsche Verluste mit sich brachte: „In großer Zahl warfen die Russen ihre Waffen fort und ergaben sich.“92 Zwei Jahre später starb Allis Vater in der Charlottenburger Wohnung, am 09.04.17, zwei Tage, nachdem er zum dritten Mal einen Schlaganfall erlitten hatte. Doch weder der Tod des Bruders noch der des Vaters, durch welchen seine Mutter und Schwester ohne erwachsenen männlichen Schutz zurückblieben, ließen Alli daran zweifen, dass auch er nun seinen Dienst am Vaterland zu verrichten hatte. Am 02.05.17 kommentierte er den Tod von Rolf mit den Worten: „Heute vor 2 Jahren fiel Rolf in Galizien! … Der glückliche!“

      Alli selbst rückte am 30.07.17, drei Wochen nach seinem 18. Geburtstag, als Fahnenjunker in das 1. Garde-Feld-Artillerie-Regiment ein, kaserniert zunächst in Berlin. Am ersten Tag machte er sehr positive Erfahrungen. Er bekam eine nagelneue Ausstattung, das Exerzieren sei „ganz nett“, das Essen „schmeckte herrlich“ und die Unterhaltung auf der Stube drehte sich „unmoralisch über Weiber und Prostituierte“. Die Wanzen im Bett allerdings trübten den Eindruck.93 Zeit seines Lebens sollte Alli großes Interesse am weiblichen Geschlecht haben.94

      Doch schnell verblasste das malerische Bild vom Soldatensein, und schon am 02.09.17 stellte der junge Reiswitz fest: „Gott, ich verdumme ja vollkommen! Es ist zum verrückt werden, jeder Tag an dem ich nichts lese, ist ein verlorener Tag.“95 Auch am Sinn des Krieges an sich begann er zu zweifeln: „Was wird das denn für ein Sieg, für den wir kämpfen? Wahnsinn! Verfluchter Wahnsinn einiger überspannter Köpfe ist der Krieg.“ Er stellte fest, dass Deutschland schuldlos, geleitet aber von „Idiotendiplomaten … gegen eine Welt von Feinden seinen Verzweiflungskampf führt“, und sah voraus, dass Deutschland „nie aufhören wird zu siegen“ – aber schließlich „dennoch verlieren wird“.

      Nach Beendigung seiner Schießausbildung in der Artillerieschule Jüterbog südlich von Berlin ging es für ihn am 22.01.18 an die Westfront. Nahezu hymnisch beschwingt blickte er seiner Feuertaufe entgegen: „Jetzt fahre ich hinaus, die Frucht zu ernten, trenne mich von der Stätte, wo ich die Kunst suchte und fand. Mit Hilfe der göttlichen Kunst wurden mir meine Inlandssoldatenzeit, meine Lehrjahre leicht.“ Er schien die Absicht gehabt zu haben, den Krieg als Möglichkeit zu nutzen, „das Wesen [m]eines Volkes noch tiefer [zu] ergründen.“ Sein – bis dahin in lateinischer, danach in deutscher Schrift geführtes – „Tagebuch eines Fahnenjunkers“ beendete er mit den Worten: „Sonnenschein liegt über Berlin, ich öffne das Fenster – etwas wie Frühling liegt in der Luft!!!“96

      Nach zwei Monaten in der Etappe an der Westfront nahm er ab dem 21.03.18 an der letzten deutschen Großoffensive teil, dem „Unternehmen Michael“. Am 01.04. äußerte er sich noch zuversichtlich. Die Versorgungslage sei wegen der vielen Hals über Kopf von der Zivilbevölkerung verlassenen Dörfer gut und „der Hauptstoß im Westen wird ja auch wohl noch glücken“.97 Einen Tag später fiel seiner Einheit ein englisches Proviantdepot in die Hände: „Wir … trinken den ganzen Tag köstlichen Burgunder … und Bordeaux“.98 Am 05.04. dann aber wurde er bei Hargicourt in der Nähe von St. Quentin schwer durch einen Kopfschuss verwundet. Mit einem Munitionszug erfolgte der Rücktransport in Richtung Heimat. Am 08.04. wurde er in Valenciennes operiert und blieb dort bis zum 19.04. Seit dem 13.04. bekam er bereits keine Schmerzmittel mehr, „es muss und wird auch so gehen“.99 Zwei Tage später beruhigte er seine Mutter, die innerhalb von drei Jahren mit Rolf erst den ältesten Sohn und dann den Ehemann verloren hatte, mit dem Hinweis darauf, dass er „genügend verpflegt“ werde, sogar „Kakao, Keks und andere Herrlichkeiten … in Hülle und Fülle“ bekomme. 100 Dann ging es weiter ins St.-Joseph-Hospital nach Köln-Kalk, wo er bis zu seiner Verlegung ins Berliner Elisabeth-Krankenhaus bis zum 07.05.18 rekonvaleszierte.

      Zwar sollte Reiswitz den Rest seines Lebens unter verminderter Sehfähigkeit und häufigen Kopfschmerzen leiden, doch lässt sich der nun fast Neunzehnjährige nicht beirren und erhält schon im Oktober 1918 sein Reifezeugnis im Rahmen der Notabiturregelungen. Dem Tagebuch zufolge entließ ihn die Prüfungskommission mit den Worten: „Denken Sie nicht etwa, dass deswegen, weil wir Ihnen die Reife geben, wir etwa glauben, Sie seien schon reif.“ Selbstkritisch bestätigte Reiswitz im Tagebuch diese Beurteilung: „Bon, man hat es mir geschenkt, ich weiß auch, dass es wahnsinnige Faulheit und großes Glück waren, die mir 1 Jahr vor normaler Zeit das Examen verschafften, aber ich weiß auch ich habe … 6 Wochen unter beschwerendsten Umständen gearbeitet.“101

      Für ein Mitglied des deutschen Adels war sein Leben bis zum Ende des Krieges nicht untypisch verlaufen. Ohne besonders wohlhabend zu sein, führte Reiswitz bis zum Ableben seines Vaters ein materiell recht sorgenfreies Leben. Sein Fronteinsatz war kurz, aber dennoch mit lebenslangen gesundheitlichen Beeinträchtigungen verknüpft.

      Bevor er sich aber an der Berliner Universität einschreiben konnte, hatte der politische Umsturz in Deutschland begonnen, gefolgt von der deutschen Kapitulation am 11.11.1918. Bereits einen Monat vor Kriegsende zeigte sich Reiswitz desillusioniert, sowohl angesichts der militärischen Lage, als auch mit Blick auf die politischen Zustände in Deutschland: „Endlich, mich völlig kaputt machend, mich zum Wahnsinn bringend, ist die politische Lage. Man bedenke: Nach Westen standen wir auf siegreichem Vormarsch im Feindesland, im Osten haben wir den Feind völlig besiegt und Serbien, Montenegro, Rumänien besetzt. Überall sind wir Sieger. Und da verdirbt uns die veraltete Form unseres Regimes, an dessen Spitze ein völlig unfähiger Kopf als I.M. [Ihre Majestät] steht, unfähige Personen erzeugend alle Siege. Durch den von Wahnsinn grüßenden Größenwahn unseres Kaisers und die völlige Unfähigkeit unserer maßgebenden Politiker fällt Bulgarien ab, rüstet Rumänien von Neuem zum Kriege, fällt in Folge dessen die mazedonische, fällt die Palästinafront, können nicht völlig in unsere Hand gegebene Gegner sich wieder gegen uns rüsten, und beginnt unsere Westfront zu wanken.“ Er stellte sich die Frage: „Wie konnte das kommen?“ und hat auch eine Antwort parat: „Sehr einfach, durch unser veraltetes Regime. Also, fort mit ihm. Über Nacht bekommt Deutschland die parlamentarische Verfassung. Gut, dreimal gut. Es war die einzige noch mögliche Rettung. Hoffen wir, dass es nicht zu spät sei.“102

      Zwei Tage zuvor, am 03.10.18, hatte Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) den liberalen Prinzen Max von Baden (1867–1929) zum Reichskanzler ernannt, und es waren Sozialdemokraten ins Kabinett eingetreten. Für Reiswitz war das kaiserliche Regime und das damit verbundene Demokratiedefizit maßgebend verantwortlich für den Kriegsverlauf: „Hätten wir diese Verfassung gehabt, 10 Jahre vor dem Kriege, oder wenigstens zu Beginn dieses Krieges, so würde Friede wieder herrschen und überall wären wir Sieger geblieben.“103

      Doch lediglich eine Verfassungsänderung konnte die deutsche Niederlage nun nicht mehr verhindern, da die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) dem Kabinett Max von Badens unterbreitete, von Erich Ludendorff (1865–1937), dem stellvertretenden


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