Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth


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diese es nicht „sich dienend der proletarischen Bewegung einzuordnen“ und ihr „revolutionärer Anstoß mit seinen romantischen Rückständen“ artete schlussendlich in eine „Hilfestellung an den Kapitalismus“ aus.115 Vielleicht noch passender auf Reiswitz ist die Selbstreflexion des jungkonservativen Publizisten Max Hildebert Boehm (1891–1968), der in einem Privatbrief aus dem Jahr 1919 sich folgendermaßen beschrieb: „Ich gehöre zu dem Teil der rechtsstehenden Jugend, die nicht eine Liberalisierung des Konservatismus will, … sondern eine organische Verschmelzung konservativ-aristokratischer und sozialistischer Tendenzen.“116

      Nach Beendigung der revolutionären Wirren in Berlin kehrte „Genosse Reiswitz“ schon bald dem Militär den Rücken. Noch vor seiner offiziellen Entlassung am 01.03.19 hatte er bereits am 02.11.18, also nur einen Tag nach der bestandenen Abiturprüfung, einen Gasthörerschein der Universität Berlin ausgestellt bekommen. Von November 1918 bis Februar 1919 konnte er als Externer nun Vorlesungen hören, unter anderem bei den jüdischen Professoren Ludwig Geiger (1848–1919) und Max Dessauer (1867–1947). Geiger, der sich 1873 bei Leopold von Ranke (1775–1886) – derjenige unter den deutschen Historikern, welcher auf Reiswitz selbst den nachhaltigsten Einfluss haben sollte117 – habilitiert hatte, lehrte Reiswitz über den „Deutschen Roman im 19. und 20. Jahrhundert“ und „Deutsche Kriege und Deutsche Dichtung“, Dessauer las eine „Einleitung in die Philosophie“. Ferner hörte Resiwitz bei Alois Riehl (1844–1924) „Nietzsche und seine Umwertung aller Werte“, bei Adolph Goldschmidt (1863–1944) eine Vorlesung über Architekturstile und bei einem gewissen „Dr. Hermann“ über den jungen Goethe.118

      Ab dem 29.01.19 war Reiswitz dann als ordentlicher Student in Berlin eingeschrieben und studierte acht Semester – zum Teil handelte es sich um „Zwischensemester“ – lang vornehmlich Philosophie, aber auch Literatur, Kunstgeschichte, Psychologie und Medizin sowie Biologie. In seinem Nachruf auf Reiswitz hält dazu der Historiker und spätere Kollege von Reiswitz, Georg Stadtmüller (1909–1985), fest: „Seine Studien waren nicht von praktischen Berufszielen, sondern ausschließlich von inneren Neigungen bestimmt.“119 Demgemäß reichten Reiswitz’ „Neigungen“ von der Tierphysiologie, über welche er im Wintersemester 1921/22 ein Praktikum bei Wolfgang von Buddebrock-Hettersdorf (1884–1964) absolvierte bis hin zu Veranstaltungen bei Hugo Karl Liepmann (1863–1925) über Sexualpsychologie und die Psychologie der Frau, die er ein Jahr zuvor belegt hatte.120 Sicherlich stellte das Studium für Reiswitz die Fortsetzung seiner vor dem Krieg so herausgestrichenen Beschäftigung mit der „göttlichen Kunst“ dar.

      Schon am 06.03.22 reichte er seine Dissertation unter dem Titel „Das A-Historische, das Historische und das Anti-Historische in der Philosophie Arthur Schopenhauers“121 ein. Das A-Historische in der Philosophie Schopenhauers liege darin, dass er die „Welt kritisch transzendental als nur Erscheinung betrachtete“122, „historisch“ sei Schopenhauer „von jenem Blickpunkte aus, der dieselbe Welt als Objektivation eines metaphysischen An sich auch empirisch real wertete.“123

      Das „Anti-Historische“ bei Schopenhauer schließlich versuchte Reiswitz dadurch nachzuweisen, dass er darlegte, dass Schopenhauer ein großer Gegner des „Historismus“ gewesen sei. Unter Historismus ist die Konzeption zu verstehen, nach der jedes geschichtliche Ereignis, jede Epoche für sich stehe. Sowohl eine moralische Beurteilung der Vergangenheit aus gegenwärtiger Perspektive sei abzulehnen, als auch die teleologische Extrapolation der Zukunft aus geschichtlichen Befunden. Auf der anderen Seite aber sei das menschliche Bewusstsein historisch determiniert. Jede Epoche sei das Produkt der vorangehenden oder dabei aber einem festen Plan oder Muster zu folgen. Ex-post der Vergangenheit übergestülpte Kategorien wie „Fortschritt“ seien folglich inadäquat. Der Historiker müsse sich mit dem objektiv Greifbaren, das heißt den Quellen befassen, und sich diesen unvoreingenommen aber kritisch nähern. Einer der bekanntesten Vertreter der historistischen Schule war niemand anderes als der Historiker Leopold von Ranke. Reiswitz aber hatte zumindest zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Doktorarbeit noch wenig übrig für den Historismus, obwohl er später selbst zu einem großen Bewunderer Leopold von Rankes werden sollte. In seiner Doktorarbeit selbst mokierte er sich: „Vom kommandierenden General bis in die höhere Töchterschule hinein schwimmt alles in flachem, wurzellosen Bildungshistorismus.“124 Nach Reiswitz fanden sowohl Konservative und Liberale, als auch naturwissenschaftliche Materialisten und die „Feinde der bestehenden Staatsformen“125 – also Marxisten –, ihre jeweiligen beliebigen Anknüpfungspunkte in der historistischen Denkweise.

      Schopenhauer hingegen sprach der Geschichte überhaupt den Rang einer Wissenschaft ab: „Traum ist die Geschichte!“126 Schopenhauer hatte sogar Skrupel, überhaupt eine „Geschichte der Philosophie“ zu verfassen, da er es vorzog, dass sich potentielle Leser mit den „selbsteigenen Werken“ der Philosophen befassten. Eine „Geschichte der Philosophie“ zu lesen sei, so Schopenhauer, „wie wenn man sich sein Essen von einem Andern kauen lassen wollte.“127

      Reiswitz’ Doktorvater Troeltsch teilte diese Kritik Schopenhauers an historisierenden Sichtweisen, insbesondere bezogen auf ein rein kognitives Prinzip beim Weltverständnis. In einem im Juni 1922 erschienenen Aufsatz unter dem Titel „Die Krisis des Historismus“ geißelte er das Alleinstellungsmerkmal des Geschichtlichen: „Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in dem Fluß des historischen Werden aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich“128 Die Betonung liegt sicherlich auf dem „nur“. Denn, wenn alles menschliche Wirken, so Troeltsch, lediglich als rational fassbarer Teil einer historischen Kette eingestuft werde, festige dies auch in unangemessener Form die „Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, überindividuellen Zusammenhängen“.129

      Doch Reiswitz’ Gesamturteil über Schopenhauers Interpretation der Historie war keinesfalls positiv: „Schopenhauer war seiner Zeit gegenüber ein Gift, ein erst langsam, dann immer rascher sich ausbreitendes Gift“.130 Es wird nicht klar, worin dieses „Gift“, welches Reiswitz schon in seiner „Vorbemerkung“131 erwähnte, bestanden haben soll, zumal er auf jegliches Hinzuziehen von Sekundärliteratur vezichtete und lediglich aus den Werken Schopenhauers zitierte, was er damit – wenig überzeugend – rechtfertigte, dass „diese Untersuchung unter den erschwerendsten physischen Hemmungen aufgenommen und zum Ende geführt wurde, welche ich dadurch positiv zu werten suchte, dass grundsätzlich alle Auslegungen und Darstellungen der Philosophie Schopenhauers unberücksichtigt blieben, um ein vollkommen unbefangenes Ergebnis zu ermöglichen.“132 Vielleicht befand sich Reiswitz ja doch schon gedanklich auf dem Weg in die Schule Rankes.

      In ihren jeweiligen Gutachten trugen sowohl Troeltsch (30.04.22) als auch der Gestaltpsychologe Wolfgang Koehler (1887–1967) (20.05.22)133 den „physischen Hemmungen“ Rechnung. Troeltsch erwähnte expressis verbis den „Kopfschuss“ und Koehler wies auf die „schwere Schädigung“ hin, die der Verfasser „zu bekämpfen“ habe. Er schloss sich dem „Laudabile“-Urteil von Troeltsch an.134

      Während sich nun Reiswitz in Charlottenburg auf die mündliche Prüfung vorbereitete, wurde am 24.06.22, rund 5 km von der Carmerstraße entfernt, der Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867–1922) in Berlin-Grunewald ermordet. Reiswitz war entsetzt: „Himmel! Diese Irrsinnigen! Rathenau und [Hugo] Stinnes, das sind die beiden bedeutendsten Köpfe, die das heutige Deutschland besitzt. Und da schießen so ein paar törichte deutsch-völkische Lümmels Rathenau ab, anstatt auf den Knien dafür zu danken, dass es solche Menschen gibt in Deutschland.“135 Seine Empörung über den Mord an Rathenau, der in rechten politischen Kreisen als Sinnbild des „Erfüllungspolitikers“ galt, zudem als Jude den Hass antisemitischer Kreise auf sich zog, zeigt, dass Reiswitz’ jungkonservative Ausrichtung nicht die oft anzutreffende Komponente des Antisemitismus umfasste.

      Reiswitz’ mündliche Prüfung fand einen Monat später, am 20.07.22 statt. Bei Koehler und Troeltsch im Hauptfach Philosophie schloss er mit „gut“ ab, im Nebenfach Botanik erhielt er von Gottlieb Haberlandt (1854–1945) ein „im ganzen genügend“, und der Zoologe Karl Heider (1856–1935) zensierte ihn mit „befriedigend“. Mit dem Datum vom


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