Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth


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      Zunächst ging Reiswitz auf Reisen. Von August bis Dezember 1922 hielt er sich in Süddeutschland und Österreich auf. Viel Zeit verbrachte er mit seiner Freundin Auguste Sabine Lepsius (1899–?) und deren Schwester Sibylle (1902–?), den Töchtern des Malerehepaars Reinhold (1856–1922) und Sabine Lepsius (1864–1942). Im Salon der Lepsius’ verkehrten unter anderem der Soziologe Georg Simmel (1858–1918)136 und der Schriftsteller Stefan George (1868–1933). Die Erstausgaben seiner Werke durfte Reiswitz unter den „Bücherschätzen“ der Lepsius’ bewundern.137

      Auf weitere Bücher traf er in der Bibliothek von Schloss Zdechovice in Böhmen, wo Reiswitz im August 1923 Hannah von Mettal (1884–1966), Freundin der Familie und Übersetzerin der Werke des irischen Autors James Joyce (1882–1941), einen mehrtätigen Besuch abstattete.138 Für die Reise in die Tschechoslowakei, die ihn auch nach Prag führte, hatte er sich eigens am 28.07.23 einen Reisepass ausstellen lassen. Auf Seite 11 des gegen eine Gebühr von 300 Mark ausgehändigten Dokuments befindet sich ein mit dem Datum des 25.08.1924 versehener Stempeleindruck des Kommissars der Eisenbahnpolizei von Maribor, welcher die erste Einreise von Reiswitz in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen bezeugt. Sein am 06.08.1924 von der jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin ausgestelltes Visum war bis zum 19.10.1924 gültig. Anders als die Tschechoslowakeireise im Jahr zuvor sollte die Jugoslawienfahrt einen Wendepunkt in seinem bis dahin eher unsteten Bohèmeleben bedeuten.

      Reiswitz’ Sommerreise begann am 10.08.24 von Berlin aus. Einen Tag vorher hatte er eine zweihundert Seiten starke „hinreißende“ Reisebeschreibung über Dalmatien gekauft, die er mit großem Interesse zu lesen begann.139 Ebenso traf er sich an jenem Tag noch mit seinem Freund Kurt Sternberg (1899–?)140. In seinem Tagebuch schrieb er unter dem 10.08.24 über eine Reise, in die er „hineinwalle mit ganz erfüllter Seele.“

      Von Berlin aus ging es zunächst mit dem D-Zug durch das Saaletal und den Thüringer Wald nach Nürnberg. Dort blieb er zwei Tage im Hotel „Roter Hahn“ in der Königstraße. Nürnberg verließ er dann mit einem Personenzug und fuhr acht Stunden durch die Fränkische Schweiz und über Regensburg an der Donau entlang nach Passau, wo er eine weitere Nacht verbrachte. Von Passau aus ging es nach Linz. Dort schiffte er sich flussabwärts ein und machte den nächsten Halt in Spitz an der Donau, nun bereits in Österreich angelangt. Hier nutzte er die Gelegenheit für eine 20km-Wanderung donauabwärts nach Krems. Danach reiste er weiter nach Wien. Er residierte im Zimmer 406 des Hotel Bristol in der Kärntner Straße und war von der Stadt sehr angetan. Er schätzte die großzügige Anlage der Stadt, die im Vergleich mit Berlin mindestens ein Stockwerk höheren Gebäude, und es fiel ihm auch auf, dass viel mehr Autoverkehr herrschte. Mehrere Tage verlebte er in Wien (20.08–26.08.24), während derer er u.a die Schlösser Belvedere und Schönbrunn besichtigte, aber auch einen Heurigenwirt auf dem Kahlenberg aufsuchte. Auch die Hofburg, den Stephansdom – gegen den die Münchener Frauenkirche seiner Ansicht nach in wenig günstigem Licht erschien – und den Prater besichtigte er mit Begeisterung. Dort mißfiel ihm aber – vielleicht in Erinnerung an die Tage des Spartakusaufstandes in Berlin – die verstärkte Anwesenheit von Angehörigen der Unterschicht: „Vielleicht, dass es vor der Revolution anders war, … jedenfalls waren genau dieselben Proletarier wie bei uns etwa ‚Unter den Zelten‘141 zu sehen u. wenig Wiener“. Er schob aber dann ironisch im selben Brief nach, dass dieser negative Eindruck vielleicht aber auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass ihm seine zu engen Schuhe Schmerzen bereiteten.

      Seine Abreise aus Wien verzögerte sich etwas, weil ihm das Portemonnaie mit „sechs Pfennigen“ und die Kofferschlüssel gestohlen worden waren. Weiter ging es am 26.08. um 8 Uhr morgens mit dem Zug nach Agram, welches er lediglich „sehr interessant“ fand, obwohl die Fahrt dorthin mit der Eisenbahn „herrlich“ war, während derer er die Bekanntschaft eines „Schankwirtes“ aus Esseg machte, eine „Mischung von Jude, Ungar, Serbe“,142 welcher ihm das Hotel „Imperial“ empfahl, anstelle des bereits gebuchten „Palace“. Von Agram aus reiste er am nächsten Tag über Slawonski Brod, wo eine weitere Übernachtung im Hotel „Central“ anstand, in deren Vorfeld er „bei guter Musik und bei gutem Bier“ sein Abendessen einnahm.143 Von Brod aus brach er am 28.08. um früh morgens auf, löste ein Billet II. Klasse und kam nach zwölf Stunden Eisenbahnfahrt in Sarajevo an.

      Aus der bosnischen Landeshauptstadt schickte Reiswitz dann mit Poststempel vom 06.09. einen mehrseitigen, mit Bleistift handgeschriebenen Brief, dem er noch zwei Postkarten mit Ansichten aus Sarajevo beilegte, an das „Fräulein Fresenius“, die er mit „Mein geliebtes Herze Kindel“ anredete, wohnhaft in der Burgstr. 9 in Auerbach (Bensheim, Hessen). Darin schilderte er ausführlich seine Eindrücke der ersten vier Tage in Sarajevo.

      Vom 02. bis 05.09. war er jeweils für mehrere Stunden allein in der Stadt unterwegs, besuchte das Landesmuseum [Zemaljski Muzej], eine „türkische Kawana“ [Kafana; Kaffeehaus, Gastwirtschaft] und hatte am 05.09. schon Sprachunterricht: seine erste „kroatisch-serbisch-slawische Stunde“. Er war beeindruckt von der geographischen Lage Sarajevos, umrahmt von „1000–1700 m hohen Bergen“, die Stadt „terassenförmig an ihren Abhängen heraufkletternd“. Er erwähnte die „weißglühende“ Hitze und beschrieb die ethnische Vielfalt: „Bosniaken-Serben; Kroaten; Serben; Montenegriner; Herzegowiner; Kurfürstendammfiguren, Spaniolen, Derwische, Türkenfrauen, Slawenfrauen, Türkenmädchen, Slawenmädchen, Kurfürstendammfrauen, Kurfürstendammmädchen. Alle anders gekleidet, nie geschmacklos.“ Mit dem Kurfürstendammepithet meinte Reiswitz vermutlich, dass die so bezeichneten Frauen der von ihm nicht besonders geschätzten Mittel- oder Oberschicht nach westlich-hauptstädtischem Vorbild gekleidet waren.

      Als begeistertem Gartenfreund144, der selbst ein Grundstück besaß in Bornim bei Potsdam, wo seit 1912 der ihm gut persönlich bekannte Gärtner und Staudenzüchter Karl Foerster (1874–1970) wirkte, stach ihm besonders die Geomorphologie und Vegetation ins Auge. Detailgetreu zeichnete er in dem Brief die Beschaffenheit des Kalksteins nach, „eine Masse, die sich rasch zersetzt, weiß glüht, braune Flecken bekommt, braun wird und zerfällt. Eine Masse, welche die groteskesten Formen annimmt. Eine Masse, die Schlupfwinkel bietet für alle Möglichkeiten der Vegetation (siehe Försters Steingarten, der aus nichts anderem besteht wie aus Kalkstein).“

      Dann wandte er sich den in dieser Landschaft um Sarajevo herum wirtschaftenden Menschen und Tieren zu: „Auf dieser eingekrallten [sic] Kalk-Vegetation weiden unzählige Schafherden mit Hirten, die weite monotone Melodien auf seltsamen Holzflöten spielen. Vollkommene Urvölker in Sitten u. in ihrem Verhältnis zu ihrer Kulturmöglichkeit, die mich um Cigaretten anbetteln u. mit dem weithin schallenden Ruf danken ‚Heil Dir, Du großmütiger Spender‘, in ihrer Sprache“.

      In seiner folgenden Beschreibung verließ er dann weiter die eigentliche Stadt: „Wenn Du auf einer Höhe stehst, so sieht das Land ringsum mit seinen Zwerghölzern aus wie eine Relief-Karte aus Gips, so übersichtlich. Die Flußläufe glänzen richtig ‚silbern‘ u. strahlend weiße Linien durchschneiden das Land als Wege.“

      Schließlich aber kehrte er imaginär nach Sarajevo zurück. Er erwähnte die an den Berghängen anzutreffenden zahlreichen „Kawanen“, mit „überwältigender Aussicht“, wo „Citronenwasser“ und Kaffee in „in ganz kleinen Tassen“ ausgeschenkt werde, welcher zuvor in „kleinen offenen kupfernen Kannen zubereitet wurde.“ Zur besseren Veranschaulichung für Fräulein Fresenius fügte Reiswitz an dieser Stelle die Skizze eines typisch bosnischen Kaffeekännchens bei, einer „džezva“, mit dem Zusatz „so !“. Gereicht werde der Kaffee ohne Milch und mit viel Zucker, dazu „raucht man zahllose Cigaretten“. Er kam zu dem Schluss, dass „Nikotin und Koffein so stark sind, dass sie sich gegenseitig in Ihrer Wirkung aufheben“.

      Es folgte dann eine vergleichende Übersicht über die wichtigsten für Besucher relevanten Preise, welche Kaffee, Melonen, Eier, Butter, Wein, eine Straßenbahnfahrkarte, sowie Enten und Gänse umfassten.

      Als nächstes ging Reiswitz auf die Straßen und Häuser in Sarajevo ein. Besonders die Straßen an den Berghängen zeichneten sich durch „Romantik aber auch Schönheit“ aus, vermutlich wegen ihrer abenteuerlichen Führung. Ansonsten aber verglich


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