Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth


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Südslawien? Konkrete Quellen dazu liegen nicht vor, zumindest nicht aus der Zeit vor Reisebeginn. Folgenreich war aber sein erster direkter Kontakt mit Hermann Wendel im Februar 1927, etwas mehr als zwei Jahre nach Abschluss seiner ersten Fahrt. In einem Brief vom 04.02.27 schrieb Reiswitz: „Herr Horovic, Vertreter der südslawischen Studenten an der Universität Wien, macht mir Mut, endlich einmal an Sie zu schreiben. Wohl alle Ihre Bücher über Südslawien u. die Südslawen habe ich gelesen und verdanke Ihnen unerhört viel. Und so war es schon lange mein Wunsch, mit Ihnen Fühlung zu nehmen; zumal, da ich unter meinen Landsleuten keinen kenne, der wirkliches Wissen von den Südslawen … besäße.“

      Bis zum Beginn von Reiswitz’ Jugoslawienreise im August 1924 hatte Wendel, geboren 1884 in Metz, bereits mehrere Ganzschriften über Serbien und Jugoslawien verfasst und den Balkan mehrfach bereist. So schrieb er im Geleitwort seines Buches „Südosteuropäische Fragen“ im September 1918: „Nicht unerwähnt bleibe, daß ich Land und Leute auf dem Balkan nicht nur vom Schreibtisch her kenne. 1909, 1910, 1911, 1912 tat ich mich in Serbien, Bulgarien, Montenegro und der europäischen Türkei um …“163 Während der Balkankriege hatte er als Korrespondent direkt aus Belgrad berichtet.164 Sein zweites Jugoslawienbuch erschien 1920 („Aus und über Südslawien“), ein Jahr später dann „Aus dem südslawischen Risorgimento“ und „Von Marburg bis Monastir“, gefolgt von „Von Belgrad bis Buccari“ im Jahre 1922. Ein Jahr später brachte er die beiden letztgenannten Bücher in einem Sammelband unter dem Titel „Kreuz und quer durch den südslawischen Süden“ heraus. Im Jahre 1924 hätte Reiswitz vor Reiseantritt vielleicht sogar noch die im selben Jahr veröffentlichten Bücher „Südslawische Silhouetten“ und „Die Habsburger und die Südslawenfrage“ studieren können.

      Wendel selbst wiederum war, so der 2007 verstorbene serbische Literaturwissenschaftler Zoran Konstantinović165, stark beeinflusst durch den Philologen und Historiker Heinrich Gelzer (1847–1906), welcher im Jahre 1900 eine südslawische Einigung anregte: „Es wirkt unwiderstehlich komisch, wenn man sieht, wie die slawischen Gelehrten sich aufs hitzigste darüber herumstreiten, ob gewisse Kantone Ostmacedoniens serbisch oder bulgarisch seien. Die Bevölkerung selbst weiss es nicht. Man sieht, wie gewaltig diese völkerabsperrenden Schranken sind. Diese nationale Verbitterung, welche die einzelnen Balkanstaaten zerklüftet, ist ein Beweis für die politische Inferiorität der heutigen, in den Einzelstaaten herrschenden Generation. Vielleicht wird aber das neue Jahrhundert ein neues Geschlecht und neue Männer ans Ruder bringen, welche sich nicht in erster Linie als Serben, Bulgaren, Griechen, Rumänen u. s. f. fühlen, sondern welche in der Weise der Vorzeit das alte Banner des orthodoxen Glaubens wieder aufrichten. Wenn es möglich wäre, in diesem so siegreichen Zeichen wieder eine Solidarität der christlichen Balkanvölker zustande zu bringen, so wäre das ein Element von welthistorischer Kraft und würde eine glänzende Zukunft für diese so reichbegabten Völker verbürgen. Wenn sich aber die einzelnen Nationen und Natiönchen immer mehr in den unerquicklichen und geradezu selbstmörderischen Bruderfehden festbeissen, dann ist ihr Schicksal besiegelt“.166 Gelzer berücksichtigte in seinem obigen Ruf nach südslawischer Einigung allerdings nur die christlichen Ethnien, die Muslime in Bosnien zum Beispiel ließ er unberücksichtigt.

      Wendel war sehr daran gelegen, dass es zu einem Umdenken in der deutschen politischen Öffentlichkeit kam. Bereits vor Ende der Kampfhandlungen 1918 mahnte er, dass „die saubere und glatte Teilung der Balkanvölker in solche, auf die wir ein Maschinengewehr richten müssen, und solche, mit denen wir einen Zwetschgenschnaps drinken dürfen, in gefährlicher Weise zum ungeschichtlichen Denken verführt“.167 Seiner Ansicht nach waren die „Benennungen wie Serben, Bulgaren, Kroaten, Slowenen in der scharfen Ausprägung von heute erst Bildungen des neunzehnten Jahrhunderts.“ Eine Stadt wie Ohrid werde, so Wendel, noch im 17. Jahrhundert mal Serbien, mal Bulgarien und mal Makedonien zugeordnet.168 Die südslawische Einigung war für Wendel ein Prozess, der letztlich unaufhaltsam sei, und der von Deutschland unterstützt werden solle, da auch Deutschland auf dem Weg zur Reichsgründung 1871 eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habe: „Solche Bewegung lässt sich hemmen, aber nicht ersticken, und wie die deutsche Nation die ihr von der Geschichte gestellte Aufgabe trotz der Selbstsucht der eigenen Dynastien und trotz der Eifersucht der fremden Mächte bewältigte, dringen Südslawen und Balkanvölker zu ihrem Ziele durch.“169

      An dem Einschub über die „Selbstsucht der eigenen Dynastien“ ist indirekt bereits ein weiteres Merkmal von Wendels Südslawophilie erkennbar, nämlich seine Bewunderung für die demokratische Veranlagung der Südslawen, besonders diejenige der Serben: „Für Wendel war es Serbien, wo man die höchsten Anstrengungen für eine demokratische Gestaltung des Lebens unternahm, wo eine zutiefst entwickelte bürgerliche Courage zum Ausdruck kam und man Zeuge eines praktischen Positivismus werden konnte: in jedem Dorf befand sich eine Schule, in jeder Bauernhand eine Zeitung und in jedem Kopf eine ausgeprägte und klare politische Meinung.“170

      Damit hob sich Wendel ab von den übrigen Journalisten, Philologen und Schriftstellern im deutschen Sprachraum der frühen 1920er Jahre, die sich mit Jugoslawien befassten, da in deren Texten – so sie überhaupt Serbien und den Serben positiv zugeneigt waren – oft der Serbe als tapferer Soldat im Vordergrund stand, dessen militärisches Heldentum im Ersten Weltkrieg angesichts der erfolgreichen Landesverteidigung gegen die österreich-ungarische Übermacht in der Anfangsphase der Kampfhandlungen 1914, angesichts der Rückeroberung Belgrads nach der kurzzeitigen Einnahme durch die k.u.k. Truppen, angesichts des opferreichen Marsches der serbischen Streitkräfte über Albanien nach Korfu außer Zweifel stand.

      Diese Haltung vertrat auch klar der Publizist Friedrich-Wilhelm von Oertzen (1898–1944), der langjährige Freund und Untermieter von Reiswitz in der Carmerstraße 10 in Berlin-Charlottenburg, in seinem Beitrag „Der große Krieg und der südslawische Soldat“ für den von Franz Thierfelder (1896–1963) in Verbindung mit dem Südost-Ausschuss der zwölf Jahre zuvor gegründeten „Deutschen Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums“,171 kurz „Deutsche Akademie“, 1935 herausgegebenen Sammelband „Das Königreich Südslawien“.172 Sein Beitrag schließt mit den Worten: „Der deutsche Soldat hat in seinem serbischen Kriegsgegner einen Kameraden auf der andern Seite kennengelernt, gegen den zu fechten nicht leicht, und gegen den zu siegen deshalb besonders ehrenvoll war, weil ihm hier ein Gegner gegenüberstand, der ganz Hervorragendes auf militärischem Gebiet leistete.“173

      Dieser Meinung schloss sich der Slawist Gerhard Gesemann (1888–1948) an, der ebenfalls im Thierfelder’schen Sammelband vertreten war, dessen selbsterklärtes Ziel es war, eine „Quelle sachlicher Unterrichtung über den südslawischen Staat der Gegenwart“ zu sein.174 Gesemann vertrat diese Meinung auch in seinem im selben Jahr erschienenen, dem serbischen Geographen Jovan Cvijić (1865–1927) gewidmeten Kriegstagebuch „Die Flucht“.175 Der in erster Ehe mit einer Serbin176 vermählte Gesemann war zur Zeit der ersten Balkanreise Reiswitz’ gerade ordentlicher Professor an der Deutschen Universität in Prag geworden. Gesemann gilt für die Zeit zwischen den Weltkriegen als der „beste Kenner der serbischen Volksepik, Sprache und Literatur und der bedeutendste Übersetzer serbischen Schrifttums ins Deutsche.“177 Der Serbe war für Gesemann der Idealtyp des tragischen, heroisch-patriarchalischen Menschen. Im Jahre 1928 unterschied er, auf den Balkan bezogen, in einer „Volkscharaktertypologie“ zwischen der balkano-byzantinischen, der italo-romanischen, der mitteleuropäischen, der mohammedanisch-türkischen und der patriarchalischen Zone. Die letztere umschließe Montenegro und Serbien südlich von Save und Donau. Grundlage der patriarchalischen Ordnung sei die Hausgemeinschaft, die Zadruga. Für Gesemann bestand eine „ausschlaggebende Bedeutung der patriarchalischen Volksmassen für die leibliche und geistige Struktur des serbokroatischen Gesamtvolkes“.178

      Gesemann hat seine Studie ausdrücklich ausgerichtet an Jovan Cvijić179, der seit 1893 an der Hochschule und späteren Universität Belgrad lehrte. Cvijić sah den Balkan auf geodeterministischer Grundlage als ein humangeographisch zusammenhängendes Gebilde.180 Gesemann zitierte Cvijić ausführlich in seiner „Volkscharaktertypologie“. Bezogen auf die zivilisatorische Überlegenheit des patriarchalischen, also serbischmontenegrinischen, bzw. „dinarischen“ Typs heißt es:


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