Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
Schlag auf der Balkanhalbinsel. … Es gibt unter ihnen kaum degenerierte Typen. Noch mehr … verdienen sie Sympathie durch ihre feste, gebirglerische Moral, durch ihre ritterlichen, oft vornehmen Eigenschaften, durch ihr tiefes Empfinden für die Gemeinschaft und durch ihre Aufopferung, die vor den höchsten Opfern nicht zurückschreckt.“181 Gesemann formulierte hier eng angelehnt an Cvijićs 1918 im Pariser Exil erschienene Schrift „La péninsule balkanique. Géographie humaine“.
Wann genau Reiswitz die Péninsule gelesen hat, ist nicht eindeutig, aber nach seiner ersten Balkanreise, am 16. Oktober 1926, erhielt er von Cvijić die schriftliche Erlaubnis, sein Werk ins Deutsche zu übertragen und zu veröffentlichen.182 Daraufhin wandte sich Reiswitz am 20.11.26 an den Oldenbourg-Verlag, sogar an dessen Leiter persönlich: „Sehr geehrter Herr Oldenbourg! Seit 1918 liegt ein Werk des damaligen Rektors der Belgrader Universität, Prof. Jovan Cvijić, vor. … Dieses Buch enthält nach meinem Urteil die tiefgründigste und aufschlussreichste Zusammenfassung und Erklärung der historischen sowei der akuten Balkanprobleme und verdient darum unbedingt übersetzt zu werden. Ich möchte nun an erster Stelle Ihnen den Verlag … anbieten.“ In seiner Wortwahl folgte Reiswitz nahezu wörtlich den Formulierungsvorschlägen, die ihm sein Freund, der Orientalist Hans Heinrich Schaeder (1896–1957) geliefert hatte.183 Nach einer Vorstellung der Person und akademischen Karriere von Cvijić erläuterte Reiswitz dann den Sinngehalt des Werkes: „Das Buch … behandelt zunächst die so verwickelte Geographie der Balkanhalbinsel; entwirrt dann auf dieser im weitesten Sinne geographischen Grundlage das ethnographische Durcheinander der Balkanhalbinsel und gipfelt dann endlich in einer umfassenden sociologischen und psychologischen Charakterologie der vielen, verwirrend vielen Stämme, die auf der Balkanhalbsinsel neben-, durch- und übereinander leben. Das ganze Werk ist von einer bewunderungswürdigen Objektivität, selbst an den für einen Serben empfindlichsten Punkten, geleitet; und es wird gerade hierdurch zum Standartwerk [sic] jeder historischen Forschung im südöstlichen Europa. – Dass die ‚Péninsule Balkanique‘ noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, ist nur dem Unglücksjahr 1918 zuzuschreiben. Die südslawische Geschichte, – vor allem in ihrer Vermittlerrolle zwischen byzantinischer Zivilisation und westeuropäischer Kultur im Mittelalter; und in ihren sociologischen Rückbildungen der langen Türkenzeit; – dann aber auch in ihren gegenwärtigen Problemen; tritt immer stärker in den Brennpunkt des historischen und auch politischen Interesses. Die eigentliche südslawische Geschichtsschreibung beginnt erst. Und da wird die ‚Péninsule Balkanique‘, die in ihrer Tiefe und Breite eine Fülle von Aufklärungen und Anregungen vermittelt, weit über die zünftige [sic] Wissenschaft hinaus einem lebhaften Interesse begegnen.“
Reiswitz verband hier also klar zwei Aspekte, die Oldenbourg überzeugen sollten. Einerseits biete die Péninsule dem deutschen Leser die Möglichkeit, die Geschichte Südosteuropas besser im wissenschaftlichen Sinne zu verstehen. Andererseits gelte es aber auch für Deutschland, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs politisch Verpasstes aufzuholen, um sich wieder intensiver Südosteuropa zuzuwenden. Zudem sah er den Balkan als Brücke zwischen Ost und West an, als Transmissionsriemen zwischen Rom und Bzyanz, dessen Rolle es zu verstehen und zu würdigen gelte.
Reiswitz’ dem Verleger Oldenbourg gegenüber anvertraute Überlegungen waren durchaus auf der Höhe der Zeit. So wies der deutsche Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929) am 22.03.26 im Reichstag auf Folgendes hin: „Die zum Teil von anderen Seiten [Österreich] genährte ganz falsche Vorstellung von den Balkanstaaten, die Deutschland in der Vorkriegszeit immer zum Ausdruck brachte, hat viel dazu beigetragen, dass Nationen, die sich ihrerseits heldenmütig geschlagen haben, in diesem Weltkampf auf der anderen Seite gestanden haben.“184 Der jugoslawische Außenminister Momčilo Ninčić (1876–1949) brachte gegenüber dem deutschen Gesandten in Belgrad, Franz Olshausen (1872–1962), daraufhin seine Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass Serbien und der Balkan nun endlich in Deutschland mit anderen Augen wahrgenommen würden als vor dem Weltkrieg.185
Reiswitz wies Oldenbourg auch darauf hin, dass Cvijić sein Autorenrecht an der Übersetzung bereits abgetreten habe, doch teile er das „Copyright“ der französischen Ausgabe mit dem Verlag Armand Colin, mit welchem Oldenbourg dann verhandeln müsse. Schließlich stellte Reiswitz noch seinen Arbeitsplan vor, wonach er beabsichtigte, den ersten Teil bis zum 1. Januar 1927 zu übersetzen. Das Gesamtvorhaben könne bis zum 01.07., vielleicht sogar bis zum 01.05.27 abgeschlossen sein. Bescheiden merkte er an, dass er die Bestimmung seines Honorars dem Verlag überlasse. Eine Antwort Oldenbourgs ist im Nachlass nicht überliefert, allerdings geht aus dem Entwurf bzw. der Kopie eines unvollständig überlieferten, undatierten Briefes, den Reiswitz vom Kontext her zu urteilen zu einem Zeitpunkt um Mitte September 1927 herum an den jugoslawischen Gesandten in Berlin richtete, hervor, dass „die Copyright-Verhandlungen zwischen dem französischen Verleger Armand Colin und R. Oldenbourg zu einer Einigung geführt haben.“
Am 16.01.27 verstarb Cvijić in Belgrad, was Reiswitz’ Bemühungen allerdings keinen Abbruch tat. Zum Zeitpunkt seiner ersten Kontaktaufnahme mit Wendel im Februar 1927 hatte Reiswitz bereits tatsächlich, nach eigenen Angaben, die „Roh-Übersetzung“ des ersten Teil des Buches beendet und versuchte nun, Wendel davon zu überzeugen, ihm bei der Suche nach einem Verleger zu helfen: „Wie Ihnen Herr [Aleksandar] Horovic186 nach Ihrem Vortrage im Herrenhause wohl schon sagte, habe ich im November 1926 mit Cvijićs Erlaubnis u. wärmsten Interesse die Übersetzung seiner „Péninsule Balkanique“ begonnen, da ich dieses Werk für ein – wenn nicht für das Standardwerk halte. Heute abend bin ich nun mit der Roh-Übersetzung des ersten Teiles, den ich in diesem Jahre verlegen lassen möchte, fertig geworden. Was wir an Cvijić verloren haben, brauche ich hier nicht zu sagen. Die deutsche Ausgabe von Cvijićs Werk hat durch seinen Tod ihren Schutzpatron verloren, u. die Bitte meines Briefes soll sein, daß Sie hier an Cvijić’s Stelle treten möchten.“
In seiner Antwort auf Reiswitz’ Anfrage vom 14.02.27 drückte Wendel seine Freude darüber aus, dass Cvijić „den Deutschen zugänglich gemacht werden soll“ und bot „Rat und Tat“ an. Bevor er eine Antwort von Wendel erhielt, wurde Reiswitz selbst tätig und sandte am 26.02.27 einen Brief an den französischen Verleger, Armand Colin: „J’ai l’intention de traduire en allemand ‚La Péninsule balkanique‘“. Einen knappen Monat später, am 19.03.27, schlug Wendel dann vor, dass sich Reiswitz an den Verleger der ergänzten serbokroatischen Ausgabe der Péninsule187 wenden solle, um sich die Übersetzungsrechte zu sichern. Am 06.06.27 erkundigte sich Wendel bei Reiswitz nach dem Stand der Dinge in Sachen Übersetzungsrechte und unterstrich die Wichtigkeit von Reiswitz’ Vorhaben: „Was moderne Studien über Slavica [sic] angeht haben uns die Franzosen, die früher mühsam hinterherkeuchten, längst überholt, weil sie den Wert der Sache begriffen haben. Wir sind dichter dran und begreifen nichts.“
Nach dem Tode Cvijićs bemühte sich Reiswitz, neben Wendel auch den Cvijić-Schüler und Nachfolger als Ordinarius für Geographie an der Universität Belgrad, Borivoje Milojević (1885–1967), für sein Vorhaben einzuspannen. Bereits im Februar 1927 hatte er sich deswegen brieflich an den „Leiter des Instituts für Geographie und Geologie an der Universität Belgrad“ gewendet, wobei er seinen Zeilen als Rückendeckung sogar noch „ein beglaubigtes u. begründendes Schreiben des mir seit Jahren bekannten Vertreters der serbischen Studentenschaft an der Universität Berlin, Herrn Aleksandar Horovic“, beigab. Doch war darauf wohl keine Reaktion erfolgt, denn Reiswitz bat Milojević am 13.08.27, unter Hinweis auf sein Vorhaben, mit der Péninsule Übersetzung „in Deutschland weiteren Kreisen als es bisher möglich gewesen ist, das Verständnis für die südslawische Frage zu erleichtern und damit zugleich das Interesse an Südslawien zu steigern“, dass er ihm mitteilen möge, „wer der wissenschaftliche Nachfolger des Herrn Cvijić geworden ist und wer seinen wissenschaftlichen Nachlass188 verwaltet“. Milojević reagierte im für Reiswitz positiven Sinne bereits am 12.09.27 und bot, wie Wendel, „Rat und Tat“ an.
Am 24.08.27 ließ Reiswitz Wendel wissen, dass er die Roh-Übersetzung des zweiten Teiles der Péninsule nun beendet habe.189 Leider hatte der von ihm angesprochene Oldenbourg-Verlag wohl doch noch keinen Kontakt zu dem französischen Verleger aufgenommen. Reiswitz wollte nun einen anderen möglichen deutschen Verleger für Cvijićs Buch suchen, wusste aber nicht recht, an wen er