Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
Affinität zu einander zeigen, dass sie ineinander übergehen mit solcher Gewißheit?“215 Man könnte sich die Frage stellen, ob Reiswitz hier die Verschmelzung des Germanisch-Abendländischen mit dem Slawisch-Balkanischen anregte, um im Spenglerschen Sinne den Untergang des Abendlandes zu verhindern. Jedenfalls beflügelten ihn die Ereignisse der Jugoslawienreise und nachdem er in der Silvesternacht 1924/25 von einer Feier in Berlin zurückgekehrt war, schloss er sein Tagebuch für dieses Jahr mit den Worten: „Es war ein guter Abschluss eines guten Jahres.“216
Im Sommer 1925 reiste er nach Großbritannien, um seine Englischkenntnisse weiter zu verbessern. Im August und September wohnte er privat untergebracht in Oxford. Dort lernte er die gleichaltrige Lehrerin und Amateur-Schauspielerin217 Dorothy Jeannie Doe (1899–1967), vom ihm Jeanne genannt, kennen. Es entwickelte sich auch hier eine Liebesaffäre, die sich parallel entspann zu seinem Briefwechsel mit Vida Davidović. Belegt ist diese durch den im Nachlass überlieferten, in englischer Sprache verfassten Briefverkehr zwischen Jeanne und Reiswitz, welcher bis in den Dezember 1925 reicht. Am 11.11.25 schrieb Jeanne kokett: „Today is Armistice Day! Do I observe it? I smiled today in school when our sweet [ironisch gemeint] headmistress proceeded to explain to the children the significance of the day and enlarged upon the Germans as our enemy! I pictured her consternation has she realised my feelings for those people.“218 Während die Beziehung zu Vida offensichtlich auf Seitens Reiswitz’ erkaltete, bis dass er schließlich im ersten Quartal 1926 gar nicht mehr auf ihre Briefe reagierte, so war es in diesem Fall Jeanne, welche sich ihm nach und nach entfremdete. Sie erwähnte schließlich am 12.12.25, dass sie sich regelmäßig mit einem anderen Mann namens Harry treffe, tröstete Reiswitz aber: „I shall always remember you, your dear happy face and laughing eyes that I have kissed.“219 Für das letzte Quartal des Jahres 1926 ist tatsächlich die Eheschließung Jeannes mit einem Harry Collier belegt.
Reiswitz’ Briefe geben einen guten Hinweis auf den Stand seiner damaligen Englischkenntnisse, welche nach heutigen Maßstäben wohl mit B2 beurteilt werden können. Er bat Jeanne immer wieder, seine Fehler zu korrigieren und die Korrekturen ihm zu übersenden. Jeanne kam dieser Bitte oft auch nach. Da zeitgleich die Beziehung zu Vida Davidović bestand, ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Reiswitz’ Korrespondenz mit Jeanne Doe nicht ohne eigennützige Hintergedanken war.
In Oxford lernte Reiswitz noch eine weitere junge Dame kennen, über die nur wenig bekannt ist. Ihr Name ist Helen Yee bzw. Yii. Dass sie ebenfalls eine romantische Beziehung zu Reiswitz unterhielt, geht daraus hervor, dass sie ihn bat, ihre Briefe an ihn zu verbrennen: „I have decided that we should never [dreimal unterstrichen] meet again. I am not staying at Paris at all. It is dangerous and it will mean a lot of harm to both of us.“220 Es war aber dennoch Helen Yee, welche Reiswitz das Hotel de Familles in Paris empfahl, welches er im Oktober 1925 mit Vida Davidović belegte.221
In Paris hielt sich Reiswitz im September und Oktober 1925 auf, ebenfalls, um seine Sprachkenntnisse zu erweitern. Seiner „landlady“ diente er dabei gelegentlich als kulturdiplomatischer Vermittler: „It is very comical how many times I am asked to arrange German-English-French differences and difficulties. There was yesterday an [sic] German who ‚has taken a lady with up stairs’; ‚certainly a German old-officer’; she was so excited (my landlady). She has asked me to arrange; and to tell the ‚German’ that it is not allowed in her house to bringe strange ‚ladies’ from the street. I have spoken to the ‚German’ but – the German was nothing less than a German but an Austrian-Jew, a dreadful durty [sic] Austrian Jew. I was so glad to percieve [sic] it and after I have said to my landlady: that never a German would do ‚such things’. Now she loves me.“222 Ganz aufrichtig war Reiswitz hier wohl nicht gegenüber Jeanne Doe, da er selbst ja ebenfalls eine Dame „upstairs“ brachte – Vida Davidović.
Im Jahre 1925, als Reiswitz sowohl zu Vida Davidović, Jeanne Doe, Helen Yee, Paula Fresenius und Sabine Lepisus romantische Beziehungen unterhielt, lernte er auch seine Ehefrau kennen. Erna Bocks (1906–1988) war die Tochter des Fabrikanten Rudolf Bocks (1875–1942), der in München-Pasing wohnte und die „Peco-Schweißmaschinenfabrik“ betrieb.223 Ihre Mutter, Ella Leitz (1876–1965), war die Tochter des Gründers der Wetzlarer Leitz-Werke. 224 Die Hochzeit von Johann Albrecht von Reiswitz und Erna Bocks fand am 28.08.1926 statt. Die anschließende Hochzeitsreise führte die beiden in die Schweiz. Am 08.09.26 begann Reiswitz nach längerer Pause wieder mit der Tagebuchführung, im Schlafzimmer der Ferienvilla in Vico Morcote am offenen Fenster sitzend, zum Luganer See hinausschauend: „Ja, ich bin also verheiratet. Und meine Frau heißt Erna, geb. Bocks-Leitz. Eben wacht das Böckschen auf und macht große, runde, schwarze Pechschusterkugelaugen.“225 Am 12.09.26 war er wieder in Berlin.
Das Interesse von Reiswitz am Balkan war von Beginn an sowohl ein wissenschaftliches, als auch ein sehr persönliches. Zentral war dabei seine Liebesbeziehung zu Vida Davidović. Nachdem Reiswitz sie in Dubrovnik kennengelernt hatte, arbeitete er zielstrebig, aber letzten Endes erfolglos daran, Diplomat zu werden, wobei im Vorbereitungsprozess die Erweiterung seiner Sprachkenntnisse im Vordergrund standen. Wenn also nicht über das Auswärtige Amt – wie sonst konnte er seine berufliche Zukunft auf den Balkan abstellen?
2. Auf dem Weg in die Südosteuropaforschung
2.1. Der Autodidakt
Reiswitz’ Angaben im Briefentwurf an den Historiker und Russlandexperten Otto Hoetzsch (1876–1946) vom 10.01.34 zufolge, welcher zu diesem Zeitpunkt als außerordentlicher Professor für Osteuropäische Geschichte in Berlin lehrte, begann zwei Jahre nach seiner ersten Jugoslawienreise sein vornehmlich autodidaktisch betriebenes Zweitstudium: „Oktober 1926 bis März 1928 erarbeitete ich mir die wissenschaftlichen Grundlagen meines Studiums der Geschichte des so widerspruchsvollen Donauraumes und der Balkan-Halbinsel“. Der Anlass für Reiswitz’ Schreiben an Hoetzsch stand wohl im Zusammenhang mit dem Abschluss seiner Habilitationsschrift über die preußisch-serbischen Beziehungen 1867 bis 1871, für die er am 16.07.34 einen Druckkostenzuschuss von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft, beantragen sollte.226 Der zuständige Fachausschussvorsitzende der Notgemeinschaft, Professor Albert Brackmann (1871–1952)227 hatte Hoetzsch gebeten, ein Gutachten im Zusammenhang mit Reiswitz’ Antrag anzufertigen. Hoetzschs Antwortschreiben auf diese Bitte hin bestätigte Reiswitz’ autodidaktische Vorgehensweise: „Herr v. Reiswitz hat … jahrelang diese Arbeit durchgeführt, die er aus eigener Initiative begonnen und angelegt hatte. Da er mein Seminar besucht hatte, kannte er mich und hat mich in gelegentlichen Besuchen über die Arbeit und ihren Fortgang orientiert, ohne dass damit ein Verhältnis wie zwischen Lehrer und Schüler vorhanden gewesen wäre.“228 Wahrscheinlich war es für Reiswitz nicht nachteilig, dass Hoetzsch ihn nicht als seinen Schüler ansah, da es nach der Zwangsemeritierung von Hoetzsch am 14.05.35 „für die Schüler und Mitarbeiter in seinem Umkreis keine Arbeits-, bald auch keine Lebensmöglichkeit mehr gab“229. Hoetzschs Zwangsemeritierung erfolgte nach § 5 des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, wonach „zur Vereinfachung der Verwaltung Beamte in den Ruhestand versetzt werden können.“230 Die neuen Machthaber warfen ihm vor, dass er dem „deutschen Salonbolschewismus, Kulturbolschewismus und Nationalbolschewismus … Tür und Tor geöffnet“231 habe. Ganz abgebrochen hat Reiswitz den Kontakt zu Hoetzsch in der Folgezeit nicht. Noch am 03.04.41 besuchte er Hoetzsch in Berlin und schrieb darüber am selben Tag, dass Hoetzsch nicht an „den Russlandkrieg glaubt, von dem hier jeder kleinste Mann etwas wissen will. Hoffentlich hat er Recht.“232 Hier irrte Hoetzsch. Am 22.06.1941 griff Hitler die Sowjetunion an.
Welche „wissenschaftlichen Grundlagen“ aber eignete sich Reiswitz an? Seiner Monatsübersicht zufolge verbrachte Reiswitz gut die Hälfte die Zeit seines Selbststudiums in Berlin, fünf Monate in Lugano, zwei in München und den Rest der Zeit in St. Anton, Genua und im Engadin. Einen hilfreichen Einblick in diese achtzehn Monate gewährt die Korrespondenz Reiswitz’ mit Hermann Wendel aus dem Nachlass, welche 21 Briefe umfasst, zehn von Reiswitz an Wendel und 11 in umgekehrter