Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth


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im Süden Serbiens [Mazedonien] durchzuführen.“259

      Kaum zwei Jahre nach seinem Entschluss, sich voll und ganz der Balkangeschichte zuzuwenden, schien seine Mission insofern von Erfolg gekrönt zu sein, als dass sein Aufenthalt in Belgrad zwei der wichtigsten Presseorgane zumindest eine vierzehnzeilige Notiz wert war. Wie war ihm dies im „Selbststudium“ so schnell gelungen?

       2.2. Die drei „Einbruchstellen“

      Vor seiner Abreise nach Jugoslawien im April 1928 stattete Reiswitz zur Osterzeit (07./08.04.) Wendel einen zweiten persönlichen Besuch ab. Am 15.04. bedankte er sich bei Wendel für den „abendlichen Osterspaziergang u. den so freundlichen Empfang in Ihrem so liebenswürdigen Kreise“, zu welchem auch der Sozialdemokrat und später im Auftrag des englischen Geheimdienstes tätige Jakob Altmeier (1889–1963) gehörte.260

      Einen Monat später schrieb Reiswitz dann enthusiastisch an Wendel aus Belgrad, vierzehn Tage nach seiner dortigen Ankunft. Zunächst bedankte er sich für Wendels „Empfehlungen“, die ihm „vom ersten Tage an alle Türen geöffnet“ hätten. Weiterer Dank, so Reiswitz, gebührte dem jugoslawischen Gesandten Živojin Balugdžic. Binnen kürzester Zeit hatte Reiswitz begonnen, durch Wendels Mittlerrolle ein Netzwerk aufzubauen, welches er in den Folgejahren pflegen und erweitern sollte: „An der Spitze Slobodan Jovanović’s unglaublich geistvoller u. feiner Diplomaten-Gelehrtenkopf, dann Stanoje Stanojević, bei dem ich dann auch die erste Slawa mitmachte … von den Museen [Direktor des Belgrader Nationalmuseums Vladimir] Petković [(1871–1956)] u. seine Assistenten, die Direktoren des Staats-Archivs und des Archivs des Auswärtigen – das sind nun alles Bekannte geworden, u. es eröffnet sich ein Arbeitsfeld von solcher Weite, dass man sich nur immerfort selbst beruhigen muss, um zu einem richtigen und ruhigen Anfang zu kommen.“261

      Viele Details des zweiten Jugoslawienaufenthaltes von Reiswitz sind aus dem Nachlass nur indirekt zu erschließen. Dieses Mal reiste er nicht allein – seine Ehefrau begleitete ihn. Die Anreise erfolgte von Berlin aus über München und Laibach. Am 01.05.28 traf er in Belgrad ein. Nachdem er seine ersten Kontakte geknüpft hatte, reiste er am 14.05. in Richtung Mazedonien ab, um vor allem Ohrid einen Besuch abzustatten. Im Brief an Wendel vom 14./15.05.28 gab Reiswitz an, dass er für diese Fahrt mit einem Empfehlungsschreiben des „Veliki Župan“ ausgestattet worden sei. Der „Veliki Župan“ war von 1922 bis 1929 der höchste Regierungsvertreter in einem der 33 Bezirke Jugoslawiens. Reiswitz hat an dieser Stelle vermutlich den Župan Budimir Borisavljević (1883–1953) gemeint, in dessen Bereich Ohrid fiel. Reiswitz fügte hinzu, dass er denke, dass er „nicht lange in Makedonien bleiben werde, sondern bald wieder zurückkehren werde“. Am 12.08. ließ Reiswitz aber Wendel wissen, dass er fünf Wochen in Mazedonien war. Worin war diese Planänderung begründet?

      Dass Ohrid überhaupt Ziel sein sollte, geht aus dem bereits mehrfach erwähnten Brief an Hoetzsch vom 10.01.34 hervor. Reiswitz spach hier von drei sogenannten „Einbruchsstellen“ [sic].262 Die erste der beiden „Einbruchstellen“ ist für ihn die „Darstellung jener Jahre, in denen die deutsche und die südslawische Einigungsbewegung aneinander vorüberglitten und in denen sich alle Ansatzpunkte zu den späteren Ressentiments und Vorurteilen bildeten, welche schließlich den Ausbruch des Weltkrieges möglich machten“. Diese „Einbruchstelle“ würde er mit seiner Habilitationsschrift füllen. Die zweite „Einbruchstelle“ sei „auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichte der Bogumilen“, ein Thema, zu dessen finaler Bearbeitung in gewisser Hinsicht die von Reiswitz begleitete Dissertation von Sabine Lauterbach beitragen würde.263

      Die dritte „Einbruchstelle“ schließlich „liegt in der Initiative, die jenseits des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts noch völlig dunkle Geschichte des nordwestlichen Balkans durch gründliche Erforschung des Ohrid-Gebietes mit dem Spaten anzugreifen. Nach Ohrid brachte mich die Einsicht meiner Berliner Winterarbeit 1927/28.“ Wendel hatte er im Vorfeld der Balkanreise 1928 über seine archäologischen Ambitionen im Allgemeinen und über Ohrid im Besonderen nichts mitgeteilt, zumindest nicht in der überlieferten Korrespondenz.

      Worin genau könnten diese „Einsichten“ bestanden haben, die ihn an den Ohridsee führten und die dazu führten, dass er am 09.10.33 seinem Tagebuch anvertraute, dass er „jetzt ein Buch schreiben sollte: Ohrid, die Geschichte einer Passion“? Zum Zeitpunkt von Reiswitz’ zweiter Balkanreise gehörte Ohrid faktisch erst knapp zehn Jahre zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Archäologen gehen heute davon aus, dass die früheste Besiedlung für das Neolithikum nachweisbar ist (3.000–2.000 v. Chr.). Bei Strabo (64/63 v.Chr.–24 n.Chr.), der sich wiederum auf Polybios (200–118 v. Chr.) beruft, taucht die Ortsbezeichnung „Lychnidos“ für den Ort auf, der in späterer, slawischer Zeit als „Ohrid“ bekannt werden sollte: „From Apollonia [Pojani im heutigen Albanien] to Macedonia is the Egnatian Way [Via Egnatia]; its direction is towards the east, and the distance is measured by pillars at every mile (…) The first part of it is called the road to Candavia, which is an Illyrian mountain. It passes through Lychnidus, a city, and Pylon, a place which separates Illyria from Macedonia. Thence its direction is beside Barnus through Heracleia, the Lyncestæ, and the Eordi, to Edessa [Vodina] and Pella, as far as Thessalonica. Polybius says, that this is a distance of 267 miles.“264 In diesem Auszug taucht der Reiswitz antreibende Begriff „Illyrer“ auf – welche Lauterbach als die ersten „bekannten Einwohner der westbalkanischen Zone“ identifizierte.265

      Wofür genau die „Illyrer“ stehen, ist ebenso vage und umstritten wie die Frage nach den Bogumilen: „There is nothing new in claiming that ancient Illyrians are a construct developed in Greco-Roman antiquity and perpetuated in different contexts from early modern times to the most recent history.“266 Aus Sicht des klassischen Griechenlands wurde Illyrien zum geographischen Begriff für die nicht-griechischen Völker im „illyrischen Dreieck“ zwischen den Alpen, der Adria und der Donau. Diese Vorstellung tauchte auch bei dem österreichischen Südslawienreisenden Felix Kanitz (1829–1904) auf, der vom „kleinen Serbenstaat im illyrischen Dreieck“267 sprach. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Illyrer wiederentdeckt: „Partially preserved knowledge from antiquity was ‘melted down’ and cast into new and cohesive narratives of the past“.268 Zum einen versuchte sich die südslawische Nationalbewegung als Erbe der Illyrer zu definieren. Reiswitz, der ja mit den Werken Wendels vertraut war, konnte so in dessen Monographie „Südosteuropäische Fragen“ Folgendes lesen: „Das Gefühl aber von Blutsverwandtschaft und Schicksalsgleichheit mit den Nachbarn drängte [Ludwig] Gaj und die Seinen von der kroatischen Ausschließlichkeit zum südslawischen, zum illyrischen Gedanken. In seinem berühmten Aufsatz verglich er Illyrien, das Dreieck zwischen Villach, Skutari und Varna, einer Leier im Arm der Jungfrau Europa und mahnte, die verstimmten und disharmonischen Saiten des Spiels, Kärnten, Görz, Ragusa, Bosnien, Montenegro, Hercegovina, Serbien, Bulgarien … wieder zu starkem Zusammenklang zu stimmen.“269 Ludwig oder auch Ljudevit Gaj (1809–1872) war auch der Begründer der kroatischen Schriftsprache. Wendel sah in seinem 1918 erschienenen Buch ebenso die Serben als „illyrische Nation“270, obwohl die illyrische Bewegung durchweg vornehmlich kroatisch konnotiert war. Auf dem Markusplatz [Markov Trg] in Agram stehend sinnierte er drei Jahre später: „In jeder Richtung von hier aus stößt du auf die Spuren des Illyrismus; zwischen Juli- [1830] und Märzrevolution [1848] baute diese Poetenbewegung im Luftreich des Gedanken ein Illyrien, nennen wir es beim Namen: ein Südslawien auf.“271 Nach 1848 tauchte der Begriff „Illyrien“ in der Tat seltener auf im Zusammenhang mit den südslawischen Einigungsbemühungen.

      Dafür übernahm die albanische Nationalbewegung das Illyrertum in ihr politisches Vokabular zur ihrerseitigen Konstruktion eines territorialen wie auch ethnischen und linguistischen Nexus. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistete der englische Offizier und Archäologe William Martin Leake (1777–1860), der 1814 zu dem Schluss kam, dass die Albaner „remnant of this ancient stock“ seien, „a fact confirmed by the whole tenor of their history.“272 Zehn Jahre vorher hatte Leake fast einen Teil der „Elgin Marbles“ für immer verloren, als sein mit Lord Elgins (1766–1841) Schätzen


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