Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
Offizier, welcher mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, des Erzherzogs Franz Ferdinand, am 18.06.14 in Sarajevo in Verbindung gebracht wird. Es ist allerdings nicht klar, welchen Text genau Reiswitz hier meinte, da Wendel bis zu diesem Zeitpunkt mehrere Bücher veröffentlicht hatte, die diese Thematik berührten. Es könnte sich um „Das Attentat von Sarajevo. Eine historisch-kritische Untersuchung von Hermann Wendel“, erschienen 1925, handeln oder aber auch um „Die Habsburger und die Südslawenfrage“ aus dem Jahre 1924. Die letztere Schrift ist das Sachverständigengutachten Wendels, das er am 11. und 12.05.1923 vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des deutschen Reichstages zur Erforschung der Kriegsursachen ablieferte. Das nur knapp 130 Seiten umfassende Buch erschien im Verlag von Geza Kohn [Geca Kon] in Belgrad und Leipzig. Das ein Jahr später erschienene Werk über das Sarajevo-Attentat ist nur 21 Seiten stark und stellt einen Sonderabdruck von vier Artikeln Wendels in der in Leipzig erscheinenden sozialdemokratischen Tageszeitung „Volkstimme“ dar.233
Als dritte Möglichkeit bietet sich noch an, dass mit dem „Dragutin Dimitrijewitsch“ Wendels 66-seitige Übersetzung des Bändchens „Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand: ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Weltkriegs“ des serbischen Historikers Stanoje Stanojević (1874–1937) gemeint war, welches 1923 in Frankfurt erschienen war.234 Das Interesse an Apis sollte während Reiswitz’ Kunstschutzzeit in Belgrad wieder virulent werden, als deutscherseits alles daran gesetzt wurde, die Akten des sogenanntenn Saloniki-Prozesses aufzuspüren und auszuwerten, in welchem Apis 1917 durch ein serbisches Militärgericht zum Tode verurteilt worden war wegen seiner Einbindung in ein Mordkomplott gegen den späteren König Aleksandar Karađorđević.235
Im selben Brief vom 24.08.27 teilte Reiswitz mit, dass er seine Jugoslawienreise für dieses Jahr zu seiner „großen Trauer“ ausfallen lassen musste, da er „nicht mehr genug Geld übrig habe.“ Er wollte aber „mit 90% Gewissheit“ von April bis Oktober 1928 „nach dem Balkan gehen“. Darüber hinaus ersuchte er Wendel um dessen Rat hinsichtlich der geplanten Fahrt. Am 25.08.27 lud Wendel Reiswitz zu sich nach Frankfurt ein, er möge ihn nur drei Tage vor Ankunft informieren. Zu dieser ersten persönlichen Zusammenkunft sollte es dann im Oktober 1927 in Frankfurt kommen.
In seinem Brief vom 08.12.27 sprach Reiswitz zum ersten Mal zwei Themen an, welche ihm in den Folgejahren keine Ruhe lassen sollten: Zum einen sind dies die Bogumilen, zum anderen die preußisch-serbischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er suchte nach einem geeigneten Stoff für seine Habilitation und vertraute Wendel an, dass „das Thema der bosnischen Bogumilen mich sehr lockt“ und bat ihn darum, die ihm bei dem Treffen in Frankfurt in Aussicht gestellten Quellenhinweise zu schicken. Gleichzeitig aber wollte Reiswitz, dass Wendel ihm nochmal das „andere Thema“ nannte, welches er ihm in Frankfurt gegenüber empfohlen hatte, das sich „auf diplomatische Akten“ beziehe. Er gab zu, dass es ihm „entfallen“ sei.
Es steht vom Kontext her außer Frage, um welche „Akten“ es sich hier handelte. Wendel hatte 1927 seine Monographie „Bismarck und Serbien im Jahre 1866. Auf Grund der Akten des Auswärtigen Amts zu Berlin, des Haus- Hof- und Staatsarchivs zu Wien und des Serbischen Staatsarchivs zu Belgrad“ herausgebracht, welches eine gemischte Aufnahme in der Kritik fand. Wendels Mikrostudie belegte, dass Bismarck kurzzeitig den Gedanken erwog, in der drohenden Auseinandersetzung mit den Österreichern diesen nicht nur – so Wendel – „mit einem ungarischen Feuerchen einzuheizen“236, sondern auch Serbien auf die preußische Seite zu ziehen. Letztlich kam dieser Destabilisierungsplan aber nicht zustande. Während R.W. Seton-Watson das Buch als „admirable little monograph“ und „valuable footnote to his [Wendel] studies of Jugoslav history“237 lobte, nahm Erdmann Hanisch (1876–1953), seit 1927 Professor für Slawistik in Breslau, Anstoß daran, dass Wendel Bismarck als „Revolutionär“ bezeichnete. Für Hanisch „leuchtet … auch hier … die Tendenz“ – gemeint ist wohl auch Wendels Zugehörigkeit zum sozialdemokratischen Lager – des Verfassers durch, den er etwas geringschätzig als „bekannten serbophilen Schriftsteller“ abtat. Lob gebührte allerdings laut Hanisch Wendel dafür, dass er die von ihm untersuchten Archivalien beilegte, die serbischen davon sogar im Original und in Übersetzung.238 Die Quellenbeigabe macht in der Tat rund die Hälfte des 134-Seiten-Bandes aus. Wendel bedankte sich im Vorwort ausdrücklich für den ihm gewährten Archivzugang. Er hob dabei Slobodan Jovanović (1869–1958) hervor, „Professor an der Belgrader Universität, der sich um die Beschaffung der Schriftstücke aus dem Serbischen Staatsarchiv verdient machte und aus seiner tiefgründigen Kenntnis jenes Geschichtsabschnitts manches Licht aufsetzen half.“239 Es sollte nicht lange dauern, bevor auch Reiswitz Grund haben würde, in Jovanovićs Schuld zu stehen im Zusammenhang mit der Zugänglichmachung von Akten.
Reiswitz’ eigene 1936 erschienene Studie „Belgrad – Berlin. Berlin – Belgrad 1866–1871“ sollte in vieler Hinsicht die Fortsetzung der Arbeit Wendels über Bismarck und Serben werden. Noch war bei Reiswitz der Entschluss dazu, die preußisch-serbischen Beziehungen nach 1866 bis zur Reichsgründung hin zu untersuchen, nicht ganz ausgereift, aber am 06.03.28 erwähnte er schon Wendel gegenüber, dass Professor Hoetzsch ihm zu „Milan u. serbischen Akten“ rate. Gemeint ist Milan Obrenović, welcher als Fürst und später König von Serbien ab 1868 herrschte.
Reiswitz äußerte am Ende des Briefes vom 08.12.27 den Wunsch, Wendel bald wieder in Frankfurt zu besuchen, wo es das letzte Mal „sehr gemütlich“ gewesen sei. Es sollte sich herausstellen, dass das gemütliche Beisammensein im Oktober 1927 viel größere Tragweite haben sollte als vielleicht angenommen. Denn auch das zweite Thema, dessen sich Reiswitz in den Folgejahren annehmen sollte, tritt zu Tage in jenem Brief, die Bogumilenfrage.
Bei den Bogumien handelt es sich um eine im 10. Jahrhundert entstandene, ursprünglich aus Bulgarien stammende, dualistische Glaubensrichtung: „Gott herrsche über die himmlische Sphäre“, so predigte der Priester Bogumil, „wohingegen Satan der Schöpfer alles Irdischen und somit auch des Menschen sei.“240
Dieses Thema muss in der Tat lockend gewesen sein, da „die jugoslawische Geschichtswissenschaft … kaum ein Problem kennt, das in fast allen seinen Aspekten derart konträr beurteilt wird“241. Es wird für Reiswitz im Jahre 1927 so gut wie unmöglich gewesen sein, sich dem Thema ohne Kenntnisse des Serbokroatischen wissenschaftlich zu nähern. Die Kontroverse nahm ihren Ausgang damit, dass der kroatische Theologe, Historiker und später auch Politiker Franjo Rački (1828 oder 1829–1894) im Jahre 1870 die auf jahrelanger Archivrecherche in Rom aufbauende These vorlegte, dass die Bogumilen weder dem katholischen noch dem orthodoxen Kirchenkreis zuzuordnen, sondern Anhänger einer aus Bulgarien stammenden, dualistischen und aus Sicht der beiden genannten christlichen Kirchen häretischen Glaubenslehre seien.242 Diese Interpretation gefiel besonders muslimischen Bosniern, die so ihre vorislamische Geschichte aus einem nicht-christlichen Kern herzuleiten vermochten.243
Damit widersprach Rački den Thesen von Božidar Petranović (1809–1874), welche dieser promovierte Anwalt aus Zadar und Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften im Jahre 1867 veröffentlichte.244 Er stützte seine Arbeit, anders als Rački, nicht auf lateinische Quellen päpstlicher Provenienz, sondern auf lokale Überlieferung des Balkans und schlussfolgerte, dass der bosnischen Kirche nichts Häretisches anhafte, sondern das sie schlicht eine regionale Spielart der serbisch-orthodoxen Kirche sei. Die eigentlichen Bogumilen seien nur eine kleine Gruppe von Häretikern aus dem Ausland gewesen, die sich nur kurz und in geringer Zahl in bosnischen Klöstern aufhielten. Diese Sichtweise wiederum fand großen Anklang bei serbischen Intellektuellen.
Weder die Werke dieser beiden Hauptkontrahenten waren ins Deutsche übersetzt worden, noch die ihrer jeweiligen Epigonen, die bis zu diesem Zeitpunkt, vornehmlich in südslawischen Zeitschriften, erschienen waren. Unklar ist, woher Wendels Interesse an den Bogumilen rührte, da sie in seiner Reiseliteratur bis 1927 keinen Niederschlag gefunden haben.
Dennoch erinnerte ihn am 09.01.28 Reiswitz brieflich daran, ihm „jene Bogumilenliteraturangabe“ zukommen zu lassen. Am 06.03.28 dann ließ Reiswitz Wendel wissen, dass die Bogumilen „für eine Habilitations-Arbeit ausgeschaltet worden“ seien. Das Thema zog ihn allerdings weiterhin in seinen Bann. In einem Brief vom