Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
eingetrockneten schiefen schielenden bemähnten krummen lustigen und total vom Wissen zerfressenen Professor aus Athen“ kennen, bei dem es sich um Nikos Athanasiou Bees handelte. Bees sei „Spezialist für griechisch-slawische Kulturbeziehungen246. Infolgedessen kennt er eine Unmenge unbekannte Literatur über die Bogumilen.“
An verschiedenen Stellen im Nachlass ist erwähnt, dass Reiswitz sich mit der Zusammenstellung von Material über die Bogumilen, vornehmlich in Form einer Bibliographie, befasste, so in dem Brief an den namentlich nicht spezifizierten „Legationsrat“ im Auswärtigen Amt vom 17.06.34: „Seit 1929 stelle ich eine kritisch-systematische Sammlung aller erreichbarer Quellen über das Problem des Bogumilismus und seiner Auswirkungen auf West- und Mitteleuropa zusammen.“
In seinem Briefentwurf an Otto Hoetzsch vom 10.01.34 widmete sich Reiswitz ausführlich dieser Thematik: „Im Vordergrund steht für mich die soziale Bedeutung dieser Bewegung. Erst durch eine planmäßige Erforschung des Bogumilismus nicht nur in seiner schwer zu fassenden Dogmatik, sondern auch in seiner sozialen Auswirkung erscheint mir die mittelalterliche Geschichte der Balkanvölker verständlich. Die unendlich schwierigen sprachlichen Voraussetzungen und die ungemein verzweigten geistesgeschichtlichen Kenntnisse, die hierzu Voraussetzung sind, haben mich bewogen, zunächst nur alles erreichbare Material zu sammeln, während ich mir inzwischen jene Voraussetzungen anzueignen versuche. In etwa zwei Jahren glaube ich in der Lage zu sein, meine erste Veröffentlichung über die soziale Rolle des Bogumilismus in Bosnien um die Mitte des 15. Jahrhunderts herausgeben zu lassen.“
Zu dieser Publikation ist es allerdings nie gekommen. Reiswitz wäre mit einer derartigen Studie sicherlich seiner Zeit voraus gewesen, da die „soziale Rolle“ des Bogumilismus erst im sozialistischen Jugoslawien ernsthaft studiert wurde. Deutungen gingen dann soweit, die Bogumilen als eine „Klassenbewegung“ zu sehen, die „zum Vorreiter einer neuen Epoche der Bauernrevolutionen im mittelalterlichen Europa“ gerierte.247
Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Reiswitz eine derart marxistische Sichtweise vertrat. Möglich ist es allerdings, dass er sich zu den Bogumilen hingezogen fühlte als einer Bewegung, die aufgrund ihrer Alleinstellungsmerkmale gegenüber dem Katholizismus, der Orthodoxie und dem Islam einen transzendenten Anknüpfungspunkt bieten konnte zur Festigung einer jugoslawischen Identität. Dies wäre einer Erweiterung der Versuche des ehemalischen österreichisch-ungarischen Gouverneurs in Bosnien-Herzegowina, Benjamin Kallay (1839–1903) gleichgekommen, welcher die Bogumilen zur Schaffung einer „überkonfessionell konzipierten bosnischen Nation“248 instrumentalisieren wollte.249
Reiswitz’ Bogumileninteresse wies allerdings noch eine weitere Komponente auf. Neun Jahre nach dem Hoetzsch-Brief, in einer Kunstschutz-Aktennotiz vom 20.07.43, legte Reiswitz dar, dass er sich schon seit 1924 mit dem Bogumilismus befasse. In dieser Aktennotiz strich Reiswitz eine vermeintliche Verbindung zwischen Bogumilen und Goten heraus: „Ein Zusammenhang zwischen der Sekte der Bogumilen und der gotischen Besiedlung besteht insofern, als die Religion der Bogumilen überall dort auftauchte, wo einmal gotische Besiedlung stattgefunden hat. Diese Verbindung besteht aber auch schon in prähistorischer Zeit, sodass das Auftauchen gleicher Motive bei den Goten und auf den Bogumilengrabsteinen nur ein Glied in der Kette der Verbindungen zwischen Schweden und der Sar [Šar] Planina darstellt.“ Offenbar war während des Zweiten Weltkriegs das SS-Ahnenerbe und die Division „Prinz Eugen“ an einer Erforschung der Beziehungen von Goten und Bogumilen interessiert.250
Auch wird es kein Zufall sein, dass Reiswitz’ engste Mitarbeiterin – und Geliebte – in Belgrad während des Zweiten Weltkriegs, Sabine Lauterbach (geb. 1919), ihre Dissertation über einen Teilaspekt des Bogumilismus bzw. der „Bosnischen Kirche“ schrieb.251 Lauterbach unternahm im ersten Teil der Dissertation eine sprachliche Analyse des 1446 erstmalig niedergeschriebenen Testaments, welches ein seltenes Beispiel eines bogumilischen Selbstzeugnisses ist. Wiederentdeckt worden war der Text von Ćiro Truhelka (1865–1962) im Archiv von Dubrovnik. Im zweiten Teil der Arbeit analysierte Lauterbach die Rolle der Bogumilen auf dem Balkan und die sogenannte „Bosnische Kirche“, die sie als Ausprägung des Bogumilismus einordnete und in ihr den „spiritus agens“252 der bosnischen Staatsbildung im Mittelalter sah. Für Lauterbach stellte die „Bosnische Kirche“ eine eigenständige Häresie dar, und keine lokale Spielart etwa des Katholizismus oder der Orthodoxie.
Am 01.07.44 gratulierte Reiswitz ihr brieflich zum am 28.06.44 mit magna cum laude bestandenen Examen.253 Sein eigener Beitrag zur Recherche von Lauterbach ist indirekt ablesbar an einer Bemerkung, die Reiswitz in einem Brief an Elisabeth Heckelmann („Hindukind“) aus dem Juli 1944 fallen ließ, als er mit Blick auf Lauterbachs bestandene mündliche Prüfung von „ihrem-meinem Doktor“ sprach.254 Auch seiner Frau hatte er über Lauterbachs Vorankommen berichtet, wie zum Beispiel am 20.03.43: „Sabinchen arbeitet fleißig an Dissertation.“ Reiswitz unterstützte sie dabei, wo er konnte. Am 13.06.43 teilte er brieflich dem Direktor des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) in Belgrad, Alois Schmaus (1901–1970), mit, dass Lauterbach weiter die Bibliothek des DWI benutzen dürfen soll.255 Kurioserweise war es dann Schmaus, der Reiswitz’ Projekt einer Bogumilenbiographie in die Tat umsetzten sollte, allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob Reiswitz’ Vorarbeiten Schmaus vonnutzen waren, ist unklar. Dessen Dank gilt lediglich den Historikern Franz Babinger und Franz Dölger (1891–1961).256 Auch eine Monographie über die Bogumilen schrieb Reiswitz nicht. Hier liefen ihm zwei englischsprachige Historiker den Rang ab – sowohl der russische Emigrant Dmitri Obolensky (1918–2001) als auch der für seine „History of the Crusades“ bekannt gewordene Steven Runciman (1903–2000) legen kurz nach dem Krieg Monographien über die Bogumilen vor.257
In der oben erwähnten Kunstschutz-Aktennotiz vom 20.07.44 sah Reiswitz die Bogumilen als „ein Glied in der Kette der Verbindungen zwischen Schweden und der Šar Planina“.258 Hier ist – neben den Bogumilen und der Geschichte der preußischserbischen Beziehungen – eindeutig Reiswitz’ drittes auf den Balkan bezogenes Interessensgebiet erkennbar, die Archäologie. Sein ganz konkretes Engagement dafür sollte sich erst im Laufe des mehrmonatigen Jugoslawienaufenthaltes von April bis Dezember 1928 herausbilden. Doch bereits kurz vor Antritt der Fahrt weisen die in seinem Brief an Wendel vom 06.03.28 verwendeten Metaphern auf sein zukünftiges Hauptinteressensfeld hin. Im Hinblick auf die – aus Reiswitz’ Sicht bedauerliche – Ausrichtung deutschen wissenschaftlichen Interesses am ehemaligen Weltkriegsverbündeten Bulgarien, dessen territoriale Ansprüche auf Mazedonien die deutsche hohe Politik unterstütze, beklagte er, dass „in der reinen Wissenschaft [in Deutschland] nach wie vor noch die kühle Luft der Eiszeit“ herrsche und, dass aus „paläolithischen Gründen“ die Bulgaren weiterhin unsere „alten Verbündeten“ seien.
Im selben Brief zog Reiswitz eine Zwischenbilanz seines bisherigen Selbststudiums. Den Winter 1926/27 habe er „Ungarische, Rumänische, Bulgarische, Griechische, Kroatische, Bosnische, Albanische und Venezianische Geschichte … bis ins Einzelne sehr ausführlich durchgearbeitet, denn es fehlte mir noch jede gründliche Fundamentierung.“ Lediglich die serbische Sprache beherrsche er noch nicht ausreichend. Abhilfe sollte der Aufenthalt in situ schaffen: „Ich will möglichst 6 Monate in Südslawien sein u. nicht eher fortgehen, als bis ich serbisch lesen und möglichst auch sprechen kann“.
Eineinhalb Jahre später hatte er sein Ziel erreicht. In einem „Politika“ Artikel über seinen Aufenthalt in Belgrad heißt es unter der Überschrift „Reise des deutschen Wissenschaftlers“: „Baron Dr. Reiswitz [im Original: „Рајслиц“], ein junger deutscher Wissenschaftler, der sich mit der Erforschung der jugoslawischen Geschichte befasst, hält sich einige Tage in Belgrad auf. Er hat einige Male mit seiner Gattin unser Land bereist und unsere Sprache erlernt“. Wie aus einem Brief an seine Frau vom 15.09.29 hervorgeht, wurde der in Druckform nicht signierte Beitrag von dem Journalisten und späteren Schriftsteller und Diplomaten Milan Jovanović Stojimirović verfasst (1898–1968) und erschien auch wortgleich am selben Tag in der Tageszeitung „Vreme“. Jovanović Stojimirović sollte 1941 mit Reiswitz’ Hilfe zum Direktor des serbischen Staatsarchivs ernannt werden.
Seinen Artikel setzte Jovanović Stojimirović wie folgt fort: „Im Moment