Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
wenig Hoffnung auf einen positiven Bescheid, woraufhin Reiswitz sich einen Tag später launig, aber resigniert dem „dankenswerten Pessimismus“ anschloss, aber angab, noch bis zum 22.04. in München erreichbar zu sein.
Aus einem Brief an „Onkel Ernst“303, den Onkel mütterlicherseits seiner Ehefrau, vom 13.05.28 geht hervor, dass Reiswitz um den 30.04. in Belgrad ankam: „Es ist hier unglaublich interessant. Belgrad ist eigentlich noch gar nicht da, sondern es wird noch gebaut. Ein großes türkisches Dorf erhält Asphalt und Zement-Straßen … Gearbeitet wird fleißig und man hat durchaus das Gefühl in einem aufsteigenden Staate zu sein.“ Nebenher versuchte er, größere Aufträge für die Firma Leitz zu akquirieren, was er „neben Archeologie [sic] u. Historie … als kleinen Ausgleich gegen Töpfe und Urkunden“ betrachtete.
Am 26.05.28 antwortete Reiswitz nicht „Onkel Ernst“, sondern Henri Dumur, der erste Prokurist der Ernst-Leitz-Werke und Großneffe des Firmengründers Ernst Leitz I. (1843–1920). Er begrüßte Reiswitz’ geschäftliches Engagement und erwähnte seine eigene Balkanerfahrung: „Es tut einem als Westeuropäer nur leid zu sehen, wie sehr diese Bevölkerungen durch die wiederholten Kriege heruntergekommen sind; es wird lange dauern, bis sie sich wieder erholt haben, und beim Anblick dieser Verhältnisse empfindet man erst, wie schwer es sein wird, auch nur ein wenig in der Vereinheitlichung von Europa vorwärts zu kommen, denn die Unterschiede sind auf jedem Gebiet doch zu krass.“
Beobachtungen dieser Art, besonders bezogen auf die Denkmalpflege, sollte Reiswitz bald selber machen. Zunächst aber logierte er in Belgrad im Hotel Moskau und war bester Laune: „… in gerade 14 Tagen Belgrad habe ich für meine Arbeiten so viel gewonnen, dass ich jetzt schon eine kleine Reise nach Makedonien machen kann. Morgen geht es los.“ Um welche „Arbeiten“ handelte es sich?
Im Jahre 1925 hatte Reiswitz in Berlin Aleksandar Horovic kennengelernt, der dort Chemie studierte und als Vertreter der serbischen Studenten fungierte304. Zunächst war Horovic lediglich Reiswitz’ Serbischlehrer und half ihm, Kontakte unter den in Berlin studierenden Jugoslawen zu knüpfen. Am 13.03.28 informierte Horovic, aus Belgrad schreibend, Reiswitz darüber, dass er in Sachen der „Obrenović Akten“ schlechte Neuigkeiten habe. Offensichtlich hatte Reiswitz Horovic gebeten herauszufinden, ob und wie man Zugang zu Archivalien bekommen könne, die die Regierungsjahre des Fürsten und späteren Königs Milan Obrenović betreffen, welcher von 1868 bis 1889 herrschte. Reiswitz’ Interesse an Milan fokussierte sich natürlich auf die preußischserbischen Beziehungen in jenen Jahren. Horovic ließ Reiswitz wissen, dass die serbischen Archive nach dem Weltkrieg generell „in ziemlicher Unordnung“ seien, dass das serbische Außenministerium „kein Interesse“ daran habe, „die Obrenović-Akten in Ordnung zu bringen“ und kam schließlich auf das besonders „Unangenehme“ zu sprechen, nämlich, dass „niemand die Erlaubnis bekommt Akten des Archivs“ einzusehen. Er warnte Reiswitz auch, dass die Akten ausschließlich in serbischer Sprache abgefasst seien.
Doch neun Tage später hatte sich die Lage gewandelt. Am 22.03.28 schrieb Horovic, dass er mittlerweile von „ganz zuverlässiger Stelle“ erfahren habe, dass lediglich ein Bittgesuch zu stellen sei, dann könnten die Akten eingesehen werden. Die Akten ab 1870 befänden sich im Außenministerium, die älteren Bestände im Staatsarchiv. Reiswitz konnte also zuversichtlich sein, zumal die Direktoren beider Einrichtungen ja bereits „Bekannte“ geworden waren.
Und so schrieb er auch am 14./15.05.28 an Wendel, dass es bald „an die Arbeit in den serbischen Büchern und Archiven gehen“ könne, „bei der Slobodan Jovanović und Stanoje Stanojević mich besonders unterstützen wollen. Ich denke, dass ich über die Außenpolitik König Milans arbeiten werde, so haben Slobodan Jovanović und ich uns jedenfalls bisher besprochen.“
Über Niš, wo er sich lediglich einen Tag aufhielt, reiste Reiswitz zunächst nach Skopje, wo er immerhin 36 Stunden veweilte305 und durch Vermittlung des „Politika“-Journalisten Budimir Grahovac den Direktor des dortigen Hygienischen Instituts, Dr. Milivoj Rankov, kennenlernte. Bis Skopje war Reiswitz mit der Bahn gefahren, nun ging es im Auto weiter, zusammen mit „fünf Geschäftsreisenden, in Shell-Oil, Garn, Papier und Bürsten“, wie er am 02.06.28 an Dumur schrieb.
Die Hauptaufgabe des Hygienischen Instituts bestand im Kampf gegen die Malaria. Zu diesem Zweck wurden in Makedonien seit 1925 Gesundheitszentren (zdravstvene stanice) eingerichtet, von denen sich unter anderem eine in Ohrid und eine im benachbarten Struga befand.306 Dort hielt sich Reiswitz vom 19.05. bis 24.06.1928 auf. Seine Frau Erna, „Böckschen“, traf am 25.05. ein, nach langer und umständlicher Anreise aus Wien, die letzte Etappe mit der „kleinen und wackeligen Feldbahn“ zurücklegend, welche Ohrid als „einziger Strang mit der Kultur-Welt verbindet.“307 Bereits am 21.05. bedankte er sich bei Rankov, dass er nach den „Wanzen-Nächten“, die er in Niš und Skopje verbrachte, nun „wohlversorgt u. wohlgeborgen in Ihrer Malaria Station“308 aufgenommen worden sei. So werde es ihm ermöglicht, „viel mehr von Makedonien zu haben u. weit besser arbeiten zu können“.
Die „Arbeit“ bestand zunächst vornehmlich aus dem Erlernen der Landessprache in örtlichen Cafés, wobei auf Familienfotos mehrfach die Kafana „Jugoslavija“ abgebildet ist.309
Einen Monat später, am 21.06.28, wandte sich Reiswitz erneut an Rankov und hob hervor, dass er statt zwei bis drei Wochen, wie ursprünglich vorgesehen, nun ganze fünf Wochen in Ohrid verbracht habe. Als Grund gab er an, dass ihn die „Pazifizierung Makedoniens durch die Hygiene“ eingehend interessiere. Doch dies war sicherlich nicht der Hauptgrund für seinen verlängerten Aufenthalt in Ohrid. In einem undatierten Briefentwurf an den Vater seines Freundes Horovic legte Reiswitz dar, dass ihn „in diesen ersten 14 Tagen“ seines Ohridaufenthaltes „die vielen archeologischen [sic] Fundstellen u. die Pazifierung Makedoniens durch die Hygiene“ am meisten interessiert haben. Mittlerweile war auch Böckschen eingetroffen, sodass ihn seine „tapfere junge Frau“ nun auf die für die nächsten zwei Wochen geplanten vier „größeren Exkursionen“ begleiten konnte.
An Dumur schrieb Reiswitz am 02.06.28 über die „unglaubliche Menge alter Kulturdenkmäler, deren Ursprung auf bulgarisch oder serbisch zu prüfen ist.“ Dies sei ihm wichtig für die Einleitung zu seiner Übersetzung des „schrecklich dicken geographisch-ethnischen“ Buches, welches nun endlich erscheinen solle. Gemeint ist natürlich die Péninsule Balkanique.
In einer dreiseitigen, handschriftlich verfassten chronologischen „Zusammenschau“ seines Ohridengagements, die von 1928 bis 1931 reicht, äußerte sich Reiswitz zu Beginn, bezogen auf 1928, wie folgt: „Ich bereise Südslawien. Finde überall Denkmäler u. keine Denkmalforschung. Will der Geschichte dies Material zugänglich machen und erhalten. Will unseren Deutschen diese Möglichkeiten erschließen. Am besten gefällt mir Gradište“.310
Mit „unseren Deutschen“ meinte er das Deutsche Archäologische Institut. Klar zu erkennen ist seine Zielsetzung. Die Altertümer sollten für alle Zukunft gesichert werden, die wissenschaftlich praktische Arbeit sollte in Zusammenarbeit mit deutschen Experten erfolgen, sodass sich ein gemeinsamer deutsch-südslawischer Nutzen ergab.
Im Mai 1928 hatte Reiswitz in Belgrad auf Vermittlung Wendels Vladimir Petković kennengelernt, den Direktor des seit 1923 der Öffentlichkeit zugänglichen Nationalmuseums in Belgrad. Ein knappes Jahr später begegnete Reiswitz Petković erneut, diesmal in Berlin, wo dieser an der Hundertjahrfeier des Deutschen Archäologischen Instituts vom 21.–25.04.29 teilnahm.311 Reiswitz fasste sein Gespräch später in einem sechsseitigen „Mündlichen Bericht an die Adresse des Herrn Professor Dr. Vl. Petković“ zusammen. Dort heißt es: „Etwa 3 km westlich von Ohrid, nördlich der Straße von Ohrid nach Struga, befindet sich ein Berg, im Volk ‚Gradište‘ genannt. Dieser Name fiel mir auf. Ich erfuhr von meinem Freunde Jovančić, Professor312 am Gymnasium in Ohrida, dass die Sage gehe, hier habe das alte Ohrid gestanden.“313 Da das Gebiet von Ohrid in der Antike von Illyrern besiedelt war, könnte es sich also bei Gradište um eine Illyrerstätte handeln? Reiswitz fuhr fort: „Er [Jovančić] selbst sei wohl einmal mit seinen Schüler da gewesen und sie hätten versucht die Steine aus einem Brunnen der sich auf der Kuppe dieses Berges befinde, herauszunehmen,