Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
von Vida ist aber schon bald ihre wachsende Unzufriedenheit darüber zu entnehmen, dass Reiswitz ihr nicht so häufig schrieb wie sie ihm. Auf der anderen Seite nahm auch die Frequenz ihrer Briefe an ihn zur Jahresmitte 1925 hin ab. Sein angedeuteter Besuch in Belgrad im Juni 1925 kam nicht zustande, allerdings ergab sich im Laufe dieses Jahres dennoch ein Wiedersehen. Am 30.07.25 tauchte bei Vida die Möglichkeit eines gemeinsamen Treffens in Paris auf. Tatsächlich verbrachten die beiden einige Tage im Frühherbst jenes Jahres in der französischen Hauptstadt, eingebucht im Hotel de Familles, 14 rue Gay Lussac. In einer undatierten Aufzeichnung erwähnte Reiswitz „vier Tage: ein Donnerstag, Freitag, Sonnabend u. ein Sonntag. … Und sie schließen ab mit einem Sonntag-Nachmittag im Jardin de Luxembourg mit dir“.203 Reiswitz musste früher abreisen – die Ursache ist nicht klar ersichtlich. Es scheint jedoch so, als ob der Parisaufenthalt die Beziehung der beiden nicht festigen konnte. In derselben Aufzeichnung vermerkte Reiswitz kryptisch: „Das große Ganze unserer Pariser Tage rundet sich klarer u. klarer als Erlebnis ab. – Das erste Gefühl war Schmerz u. Schrei u. Liebe u. dies alles war namenlos.“
Vida meldete sich in folgenden sechs Monaten nur noch ein halbes Dutzend Mal bei Reiswitz. In ihrem letzten überlieferten Brief vom 14.04.26 ist zweifelsfrei erkennbar, wer das Interesse verloren hatte: „Muss ich mich wirklich mit dieser Tatsache versöhnen, dass Du mich vollständig vergessen hast?“ Doch gänzlich in Vergessenheit geriet Vida nicht. In einem von Reiswitz in Maschinenschrift verfassten und mit Bleistift auf den 18.08.1929 datierten Schriftstück mit der Überschrift „Testament“ heißt es, dass „das Tagebuch von den ersten Oktobertagen 1924 aus Ragusa und meine in einer Kiste zusammengepackten Briefe an Vida Davidović, Veliko [sic] Bečkerek, Cara Dušana 17, mit der kurzen Mitteilung von meinem Tode“ zu schicken seien. Die etwas missverständliche Formulierung „meine Briefe“ ist so zu verstehen, dass es sich um ihre Briefe an ihn handelte, da diese zusammen mit den Tagebuchfragmenten im Nachlass aufgefunden wurden. Im Testament ist zwar von Vidas Briefen und seinem Tagebuch die Rede, aber nicht von Vidas Abschiedsgeschenk an ihn, welches sie ihm zum Abschied in Dubrovnik überreichte: eine bernsteinerne Zigarettenspitze. Er wiederum schickte ihr kurz darauf sein Zigarettenetui nach Bečkerek, dessen Verbleib ebenso unbekannt ist wie das weitere Leben von Vida Davidović. Sie war nicht die Eigentümerin des Hauses in der Cara-Dušana-Straße, sodass sie nicht im Kataster verzeichnet ist. Reiswitz hat es – so zumindest den vorliegenden Quellen gemäß – auch nicht versucht, während seiner späteren Reisen nach Jugoslawien, also 1928, 1929, 1931, 1932 oder 1937 Kontakt zu ihr aufzunehmen. Es hat allerdings den Anschein, dass Reiswitz Vida während des Zweiten Weltkriegs mehrfach in Bečkerek und Wien traf, an in mehreren Notizen in diesem Zusammenhang von einer „Vida“ die Rede ist.
Nachdem Vida am 10.10.24 Dubrovnik verlassen hatte, blieb Reiswitz noch bis November in der Stadt, bevor er seine Rückreise nach Deutschland über Italien und die Schweiz antrat.
Am 13.10. lernte er den im selben Jahr neu berufenen deutschen Gesandten in Belgrad, Franz Olshausen, kennen, der mit Frau, Sohn und Tochter in Dubrovnik weilte, und den er auch an den beiden Folgetagen wieder aufsuchte. Vermutlich haben die Unterredungen mit Olshausen Reiswitz’ Wunsch weiter bestärkt, eine diplomatische Karriere zu beginnen. Am 19.10. machte er eine Aufstellung im Tagebuch beginnend mit dem Jahr 1922, welches er mit dem Eintrag „Dr. phil.“ markierte. Bei 1925 steht „Habilitations-Schrift. Attachée [sic]“, bei 1929 „Dr. jur. et rer. Pol. Vizekonsul“ und bei 1932 „Konsul“. An jenem Tag hatte er wieder eine Zusammenkunft mit Olshausen. Reiswitz stand noch ganz unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Vida. Olshausen, sei ein „sehr angenehmer Mensch“, habe aber „wenig Sinn“ für die „Romantik“, die in den „kleinen Gäßchen und Gassen“ lag. Am 22.10. schließlich verabschiedete sich Reiswitz von Olshausen, der ihm mitteilte: „Lassen Sie es mich wissen, falls Sie Schwierigkeiten betreffs Ihrer Annahme haben sollten.“ 204 Der spezifische Charakter dieses Hilfsangebots lässt sich aus dem Kontext nicht eindeutig ablesen.
Aus einem Brief an Frl. Fresenius vom 01.11.24 geht hervor, dass er noch eine Autotour nach Boche di Cattaro [Kotor]205, Lovcen und Cetinje in Begleitung des „Schokoladen Hildebrandt206 mit Frau“ zusammen mit einem weiteren Ehepaar unternahm. Die Bucht von Kotor erschien Reiswitz wie „norwegische Fjorde in der Adria“. Auf dem Weg nach Cetinje standen „alle 1000 Meter Doppelposten der Montenegriner; so eine Banditen-Gefahr ist dort!“. Am 06.11. reiste er per Schiff an Lissa und Korčula vorbei über Split nach Triest, war dann vom 07.–10.11. in Venedig, um von dort über Padua und Bologna nach Florenz weiterzufahren. Vor seiner Ankunft in Berlin am Anfang Dezember 1924 hielt er sich in der angemieteten Familienvilla am Luganer See in der Schweiz auf.
Dass sein erster Aufenthalt in Jugoslawien eine Bruchstelle in seinem persönlichen und beruflich-wissenschaftlichen Leben markierte, deutete sich bereits in einer Tagebucheintragung vom 01.12.24 an: „Irgendwo war das zweite Leben abgerissen u. hatte ein drittes begonnen.“ Dies wird er auch Vida mitgeteilt haben, was aus einem kurzen Hinweis in ihrem Brief vom 03.12.24 hervorgeht: „Du sagst … ‚Diese große Reise steht an der Wende zu meinem dritten Leben.‘“
Die Wichtigkeit des Jahres 1924 für die Ausrichtung seines Lebens Richtung Südosten wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass er zwei Tage nach seiner Ankunft als Kunstschützer in Belgrad, am 05.07.41, an seine langjährige Freundin Elisabeth Maria Domenica Heckelmann (1905–1959)207 von der „endlich gegebenen Möglichkeit“ schrieb, „das durchzusetzen und zu tun, was ich seit … 17 [1924] Jahren will.“ Bereits am 08.12.24 sprach er im Auswärtigen Amt vor, ebenso am 11. und 15.12., als man ihm dort mitteilte, er solle im Februar „drei Lebensläufe“ einreichen.208
Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass sich Reiswitz nach dem Abschluss seiner Promotion und seiner wissenschaftlichen Hinwendung weg von der Philosophie und hin zur Geschichte und Kultur in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis begeben wollte, welches ihm ein unabhängiges Einkommen sichern würde. Die Kontakte zu Richthofen, Erdmannsdorff und Olshausen vor und während der Jugoslawienreise konnten ihn sicherlich darin bestärken, dass das Auswärtige Amt der geeignete Arbeitgeber war. Die für eine diplomatische Karriere notwendigen Kenntisse des Englischen und Französischen begann er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Berlin im Dezember 1924 anzueignen. Auch seine bereits in Sarajevo begonnenen Serbokroatisch-Studien setzte er fort, doch hatte seine Bewerbung beim Auswärtigen Amt nicht den erhoffen Erfolg. So arbeitete er von Januar bis Juni 1925 als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ bei der Berliner Industrie- und Handelskammer, „Monate, denen ich ganz besonders wichtige Eindrücke und Anregungen verdanke.“209 Seinem Zeugnis zufolge nahm er an diversen Sitzungen teil und wurde zu den Arbeiten der „volkswirtschaftlichen und juristischen Syndici“ herangezogen. Er ließ „Fleiß und Eifer“ erkennen. Insbesondere widmete er sich Fragen des Außenhandels und der Zollpolitik.210
Seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen an Frl. Fresenius zufolge war Reiswitz zudem wohl auch von einer Spielart des Balkanismus gepackt. Anders als der Orientalismus „imaginierte der ‚Balkanismus‘ das Objekt seiner Fantasie nicht als absoluten Gegensatz zum europäischen Selbst, sondern aufgrund seiner überwiegend christlichen Prägung eher als eine Übergangszone von West nach Ost.“211 Diese „Übergangszone“ erschloss sich für Reiswitz sehr deutlich in Sarajevo, wo er Orient und Okzident beim täglichen Miteinander erlebte. Wenn er mittwochs über den türkischen Markt schlenderte, oder die mit einem Serben verheiratete kroatische Bildhauerin Iva Despić in ihrem Atelier vor den Toren der Stadt besuchte, oder den in Tracht gewandeten Dorfschulzen aus Taorina bestaunte. Der Karst wirkte auf ihn durchaus wie eine „heroische Landschaft“212 in seiner Unwirtlichkeit. Ähnlich wie der von ihm rezipierte Lermontov in seinem Gedicht „Dämon“ bezogen auf Georgien empfand auch Reiswitz bei seinen Wanderungen und Fahrradtouren die Natur Bosniens als hochromantisch: „Ein Ländchen paradiesisch schön / Ruinen auf den wald’gen Höh’n.“213 Er könnte sich selbst als der rastlose Dämon zu Beginn des Versepos gesehen haben: „Im wüsten Raum irrt lange Zeit / Er ohne Ziel und Zufluchtstätte“.214 Seine eigene Zuflucht war für Reiswitz die immer wieder als „rassig“ beschriebene Vida Davidović. In seiner Tagebucheintragung vom 07.10., am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft, warf er, bezogen auf die große Anziehungskraft,