Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth


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Das ganze Spektakel wirkte wie ein „Kriegszug“ auf ihn.

      Die vielen Eindrücke, die er in den ersten Wochen von Sarajevo und Umgebung gewonnen hatte, gaben ihm schon am 12.09.24 Anlass zu folgendem Vergleich: „Hier ist kein Analogon zu Italien, sondern hier beginnt der Orient. Er setzt mit dem Geruch von Hammelfett ein, zudem sich weiterhin Kameldung in Kleinasien gesellen soll. Ich glaube auch, dass Italien ganz andere Nächte hat, sicher voll von Schönheit, aber nicht so voll von Märchen und Zauber. Sarajevo ist eben eine erste Türkenstadt, während die Dörfer, durch ich gestern mit dem Rade fuhr, slawischer waren; Diese weißen Mauern, Stufen und Stiegen im Mondschein, diese Veranden mit Gittern u. monotoner leiser Musik; diese türkischen Friedhöfe mit weißen Grabsteinen; wirr, ungepflegt u. gespenstisch, wenn der Mond auf jene Wiesen der weißen wirren Steine scheint.“ Vier Tage später fügte er in ähnlich romantisierendem Ton hinzu: „Dieses Land lähmt nicht, aber es versetzt mich in eine bisher nicht gekannte Ruhe der Kontemplation u. erregt die Phantasie bis an ihre Grenzen.“

      Am 12.10.24 schilderte er, dann bereits in Dubrovnik angekommen, in einem längeren Brief an seine Freundin in Hessen, zusammenfassend seine bisherigen Erlebnisse in Bosnien. Zunächst berichtete er über eine Radtour mit „Gen“ von Sarajevo in das mehr als hundert Kilometer entfernte Višegrad, welche Reiswitz als „anstrengend“ bezeichnete. Am 01.10. war er nach Jablanica gefahren, um sich dort mit dem Konsul zu treffen zwecks Besteigung des „wilden“ Prenj-Berges. Gänzlich „wild“ wird es wohl nicht gewesen sein, da in der Baedeker-Ausgabe „Dalmatien und die Adria“ aus dem Jahre 1929 bereits Bergtouren im Prenjgebirge beschrieben sind, mit Nennung von Hütten. Allerdings heißt es dort auch: „Bergstock und Bergschuhe angenehm, von Hause mitzubringen; Mundvorrat nötig.“154 Reiswitz jedenfalls war vollauf begeistert und schrieb, dass „diese Tour, im Herzen der Herzegovina, das Grandioseste meiner ganzen Bosnien-Reise war.“

      Am 03.10. hatte er Sarajevo nach mehr als einmonatigem Aufenthalt verlassen und war zunächst nach Mostar, „eine Oase mitten im uneigentlichsten trostlosesten Karst“, weitergereist, wo er zwei Tage blieb. Besonders auffällig war für ihn der Kontrast zwischen der unwirtlichen Umgebung der Stadt und der blauen Neretva.

      In seinem Brief vom 12.10. lobte er ausdrücklich die „Genialität, mit der die Österreicher Straßen und Eisenbahnen durch diese wilde Welt bauten“. Von seiner Weiterreise am 05.10. um 4 Uhr morgens aus von Mostar nach Dubrovnik mit dem Zug war er besonders begeistert, vor allem, als sich eine Stunde vor Ankunft der Blick auf die „unbeschreiblich blaue Adria“ eröffnete.155 Von Gravosa aus brachte ihn ein Wagen in die eigentliche Stadt, in das von ihm gebuchte Hotel Odak, über welches der Baedeker des Jahres 1929 notiert: „Am Meer, östlich von der Altstadt, 10 Minuten vom Uhrturm, mit Aussicht auf Lokrum. 85 Betten.“

      Erst nach einer Woche Dubrovnik, am 12.10., erkannte Reiswitz, „was so schön“ war an diesem Ort: „Bisher hat der Kontrast von Märchen zu Wüste zu Schönheit mich so geblendet, dass … die Begriffe versagten.“

      Er setzte den Brief nach einem langen Gedankenstrich fort: „Wo sitze ich? Am offenen Fenster meines Zimmers. Es liegt im zweiten Stock, mit dem Blick auf die Adria u. Lacroma [Lokrum], über denen sich der vollkommende Nachthimmel wölbt; hell vom Mond beschienen. Der Mond scheint so hell, daß ich bei seinem Lichte schreiben könnte.“ Er beschrieb die Terassen und Bänke des Hotels, direkt am Meer, die „üppige Vegetation an Palmen, Kakteen, u. immergrüne Gewächse; an Blumen, Aloe“.

      Nach diesen romantischen Bemerkungen wurde er deutlich prosaischer und erwähnte, dass sein Zimmer lediglich 2 Mark und ein Mittagessen „wie im Bristol in Berlin“ nur 1,25 bis 1,75 Mark koste.

      Er fügte hinzu, dass er hier „arbeiten kann, als ob alle Arbeit nur ein Bad sei“. Um welche „Arbeit“ es sich handelte, verriet er nicht. Wohl aber berichtete er, dass er bedingt durch die „guten Empfehlungen“, mit denen er nach Dubrovnik gekommen sei, „viele Menschen kennenlerne“.

      In Reiswitz’ Briefen und Postkarten an Fräulein Fresenius über die ersten beiden Monate seines Bosnienaufenthaltes zeigt sich ein neugieriger, durchaus aufgeschlossener und genau beobachtender Reisender, dem besonders die Natur und die Menschen ins Auge fielen. Er erwähnte zwar kurz die Besuche im Landesmuseums von Sarajevo, doch schien dieses zunächst keinen größeren Eindruck auf ihn gemacht zu haben, obwohl der auf vier Gebäude verteilte und 1912 fertiggestellte Komplex im Baedeker mit einem Sternchen als „besonders beachtenswert“ versehen war und im linken Flügel des nördlichen Gebäudes eine vorgeschichtliche Sammlung beherbergte. In der hauseigenen Fachzeitschrift erschien zum Zeitpunkt von Reiswitz’ Aufenthalt in Sarajevo der Artikel eines gewissen Georg Wilke mit dem Titel „Über die Bedeutung einiger Symbole an den Bogumilendenkmälern“. Dieses Thema sollte für Reiswitz kurze Zeit später eine besondere Bedeutung erlangen. Wilke nennt als eines der bogumilischen Symbole das Hakenkreuz und deutet es als als indogermanische Repräsentation des Mondes.156

      Von den Naturschönheiten beeindruckten Reiswitz besonders die Karstlandschaften und Berge. Doch auch die Stadt Sarajevo hinterließ einen positiven Eindruck. Ganz anders empfand dies ein knappes Jahr später der Journalist Max Fischer (1893–1954), welcher ein guter Bekannter von Reiswitz war. In einem zweiteiligen Bericht über eine Reise nach Dalmatien und Italien urteilte Fischer, der bereits 1913 der Stadt einen Besuch abstattete: „Die einst so gepflegten Straßen sind verwahrlost, die Zahl der Bevölkerung ist zurückgegangen; die Verwahrlosung fast aller Gebäude übertrifft selbst die Berliner Zustände der Inflationszeit; die Verelendung aller Schichten ist offenkundig. … In keinem Ort Jugoslawiens, den ich auf meiner Reise berührte, äußerte sich bei den verschiedenen Schichten der Bevölkerung die Unzufriedenheit so einmütig und unverblümt wie hier in Sarajevo.“157

      Wie anders hatte Reiswitz die Stadt wahrgenommen! Allerdings fehlte ihm jegliche Reiseerfahrung, da er bis 1924 außerhalb der deutschen Grenzen lediglich das Land seiner Geburt, die Schweiz, und die Tschechoslowakei bereist hatte. Während die Lektüre der Briefe Reiswitz’ an Fräulein Fresenius den Eindruck erweckt, als herrschte in Sarajevo ein morgenländisches, pastorales Idyll mit scheuen Musliminnen und flötenspielenden Hirten, so ergibt sich in dem 1922 erschienenen Band „Von Belgrad bis Buccari“ des Journalisten und Jugoslawienkenners Hermann Wendel ein anderes Bild. Er schrieb wie folgt über Sarajevo: „Aber die westliche Zivilisation ist fressende Säure; vor ihr löst sich alles Romantische, Mittelalterliche und Orientalische in Nichts auf. Heute geht man durch wohlgepflasterte Straßen mit hohen Häusern und geleckten Ladenscheiben und am Kai der Miljacka mit wuchtigen Amtsgebäuden entlang wie in Agram oder Laibach, wie durch Wien oder Budapest. Nur die verhüllten Frauen wandeln als Gespenster einer versinkenden Zeit über den europäerhaften Hintergrund dieser Stadt“.158 Der Sozialdemokrat Wendel, so sein Biograph, „begrüßte die Gründung des südslawischen Staates“ und „sprach sich für eine enge wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit“159 mit Deutschland aus und erhielt 1928 die Ehrendoktorwürde der Universität Belgrad – im gleichen Jahr, in dem er zusammen mit Reiswitz, den er im Laufe des Jahres 1927 persönlich kennenlernte, in Bosnien unterwegs war. Seine „Belgrad bis Buccari“ Schrift wurde sogar im westlichen Ausland, von einem der herausragendsten Südosteuropakenner, gelobt. Robert William Seton Watson (1879–1951), der 1922 den Lehrstuhl für „Slavonic Studies“ an der Londoner School of Slavonic and Eastern European Studies besetzte, bescheinigte Wendel im Juni desselben Jahres „intimate first hand knowledge of Jugoslav history, politics and literature“.160

      Ganz in den Bereich des Sentimental-Romantischen und Klischeehaften zu verbannen sind Reiswitz’ Beobachtungen aber wohl nicht, obwohl ihm die sozialen und wirtschaftlichen Zustände in Sarajevo nicht sofort ins Auge sprangen, zumindest nicht in seinen Briefen an Fräulein Fresenius. Auch Wendel kommentierte anerkennend, wie Reiswitz, das gut ausgebaute Straßen- und Eisenbahnnetz: „So auf der Eisenbahn gemächlich durchs Land schaukelnd, auf glatten Straßen ohne Furcht vor Hals- und Beinbruch im Wagen rollend, … beginnt man etwas wie aufkeimendes Wohlwollen für die Oesterreicher zu empfinden. Sie haben Bahnen gebaut, sie haben Straßen gebaut – alles was recht ist!“161 In der folgenden Passagen tauchen die von Reiswitz beobachteten verschwiegenen Höfe der festungsähnlichen Häuser


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