Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
Strecke von insgesamt ca. 60 km.
Es war in ihm nun der Entschluss gereift, seine berufliche Zukunft, die ja nach Abschluss der Promotion 1922 noch völlig ungeklärt war, ebenfalls im auswärtigen Dienst zu finden: „Die Diplomatie ist für mich von der Absicht zum Willen geworden“. Er legte dar, dass „Gen“ – gemeint ist der Konsul Eugen Bethusy-Huc – eintausend Mark für seine Tätigkeit bekomme, und das in einer „relativ niedrigen Stellung“. Seine Dienstpflichten beanspruchten nicht mehr als drei Stunden täglich. Obwohl „Gen“ selber kein Vermögen habe, verfüge er in Sarajevo für seine Familie über einen Hauslehrer, eine Gouvernante und drei Dienstboten. Fräulein Fresenius möge diese vertraulichen Informationen aber für sich behalten, „vor allem nicht diesen“ – nicht weiter benannten – „Demokraten“ oder aber ihrer Mutter darüber berichten.
Aus den Tagebucheintragungen des Jahres 1924 von Reiswitz im Vorfeld der Reise erschließt sich dieser konkrete Berufsswunsch nicht eindeutig. Ein Paradigmenwechsel, was sein Forschungsinteresse anbelangt, ist allerdings erkennbar in einem Eintrag vom 02.04.24: „Ich befand mich in einem seltenen Rausch. Es gibt für mich nichts erschütternderes als das Schauen des Zusammenprallens der Kulturen. Heute wurde mir West-Asien klar! Die Assyrisch-Babylonische; die Medisch-Persische; die Arabische, die Osmanische u. die Indische Kultur. Wie wenig wissen wir doch! Jenes Spiel der Kultur-Giganten! Wie wichtig ist es. Wie unerhört packt mich das Schauspiel ihrer Thesis-Antithesis u. Synthesis. Heute mehr denn je wurde ich in die geistige Lage versetzt wieder das Auswärtige Amt zu besuchen. Ich war in einem Rausch, der fast unerträglich schön war. Stunden hindurch saß ich im Ledersessel u. rauchte u. sah die großen Kulturen u. ihre Zusammenhänge.“
Am 07.04. tat er kund, dass er „jetzt energisch mit … der Kultur beginnen will.“ Sein Lesepensum in der Folgezeit gibt einen gewissen Aufschluss über seine neu entfachten Interessen. So erwähnte er am 14. und 15.04. die Lektüre von „Die Kunst der alten Perser“, wobei es sich wahrscheinlich um das 1922 erschienene „Die Kunst des alten Persien“ des Orientkenners Friedrich Sarre (1865–1945) handelte. Zum anderen erwähnte er untern anderem am 12.06. und 21.06. „Spengler“ als Lesestoff, am 24.06. gab er sogar an, er habe „den ganzen Tag“ damit verbracht „Spengler“ zu lesen, womit er ohne Zweifel „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler meinte, dessen erster Band 1918 erschienen war. Doch waren die vom ihm im Vorfeld der ersten Jugoslawienreise rezipierten Werke, soweit dies dem Tagebuch entnehmbar ist, nicht nur kunst- und kulturwissenschaftliche Fachliteratur. Am 09. und 10.07. notierte er „Tiere, Menschen, Götter“, die in demselben Jahr frisch erschienenen, hinsichtlich ihrer Authentizität umstrittenen Erinnerungen des Schriftstellers und Forschungsreisenden Ferdynand Antoni Ossendowskis (1876–1945) über seine Zeit an der Seite des sogenannten „weißen Barons“, Roman von Ungern-Sternberg, der 1921 kurzzeitig über die Mongolei herrschte.
Reiswitz’ Hinwendung zum „Osten“ ist auch erkennbar im Tagebucheintrag vom 21.06.24. Dort schilderte er seinen Besuch einer Lehrveranstaltung von Otto Hoetzsch (1876–1946) an der Berliner Universität: „Es wimmelte von Politikern, Candidaten und auswärtigen Schmarotzern“. Er war von Hoetzsch positiv beeindruckt und versprach sich „viel von diesem Seminar“ des Osteuropahistorikers. Ominös fügte er hinzu: „Hoffentlich ist es keine Enttäuschung“. Am 17.07. vermerkte er einen weiteren Besuch im Osteuropäischen Seminar, was auf sein fortgesetztes Interesse schließen lässt.
Während seine Lektüre und die Besuche im Osteuropäischen Seminar noch keine Schlüsse hinsichtlich eines konkreten Berufswunsches zulassen, so verdichteten sich die Anzeichen am 31.07., als Reiswitz seinem Tagebuch anvertraute, dass er an diesem Tag im Auswärtigen Amt war, wo er mit den Legationsräten Dr. Herbert Freiherr von Richthofen (1879–1952) und Otto von Erdmannsdorff (1888–1978) sprach.147 Es schien sich um eine Art Vorstellungsgespräch gehandelt zu haben. Erdmansdorff sei „höflich“ gewesen, habe aber auch bemerkt, dass Reiswitz „sehr jung“ und ohne „dunklen Anzug“ sei und forderte ihn dazu auf, sich nach Abschluss der Jugoslawienreise wieder bei ihm zu melden – vermutlich im Zusammenhang mit dem Bestreben Reiswitz’, eine diplomatische Stelle zu übernehmen, um in die Fußstapfen seines Verwandten zu treten. Einem Brief seines Doktorvaters Ernst Troeltsch vom 29.12.25 ist die Information zu entnehmen, dass Reiswitz wohl eine Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte, da Troeltsch Erkundigungen im Auswärtigen Amt eingezogen hatte, ob Reiswitz einen zweiten Versuch starten könne. Dies sei wohl möglich, doch Reiswitz müsse ein gesondertes Gesuch stellen und eine Bescheinigung beibringen, dass sein „Versagen“ in der Englisch- und Französischprüfung auf eine kurzzeitige – wohl kriegsbedingte – „geistige Indisposition“ zurückzuführen sei.148
Die konsularischen Obliegenheiten Eugen Bethusy-Hucs müssen sich tatsächlich in Grenzen gehalten haben, da er Reiswitz in den folgenden Tagen und Wochen bei mehreren Ausflügen begleitete. Am 07.09. hatten beide zusammen den mehr als 2.000 Meter hohen Bjelasnica-Berg bestiegen. Der Weg zum Gipfel – wahrscheinlich von Ilidža aus – führte durch „richtigen Urwald“, so Reiswitz in einer Postkarte an Fräulein Fresenius vom 09.09.24. Im Tagebucheintrag vom 07.09.beschrieb er detailliert die Pflanzenwelt, die er beim Aufstieg gewahrte. Auf dem Gipfel angekommen packte er dann die mitgebrachte „Vossische Zeitung“ aus: „Ich hatte irgendwie Sehnsucht nach Charlottenburg.“149
Am 12.09. stand ein Familienausflug auf der Tagesordnung. Zunächst fuhr man nach Tarčin, westlich von Sarajevo. Von dort aus begann der Aufstieg nach „Mečkina Luka“150, an dem alle fünf Bethusys nebst Kindermädchen teilnahmen. Man ritt auf Maultieren, erneut durch einen „Urwald“, und übernachtete in einer Berghütte bis Montag, den 15.09.
Drei Tage vorher hatte anscheinend ein Bär der Lokalität einen Besuch abgestattet. Der die Ausflügler beleitende Forstmeister hatte zunächst Schwierigkeiten, ein Pferd zu bekommen, doch schließlich gab ihnen ein reicher Bauer nicht nur ein Pferd, sondern auch noch seinen Sohn als Begleiter. Reiswitz war beeindruckt von der „Stille des Waldes“, dem Alter und der Größe der Bäume. Aber nicht nur die Natur hinterließ bei ihm einen prägenden Eindruck. Die serbischen Bauern, so schrieb er an Fresenius, arbeiteten noch „wie zu Noahs Zeit, od. wie die Wilden Afrikas. Kaum ein einziger kann lesen u. schreiben.“ Ihr Pflug sei aus Holz und „dreschen tun sie, indem sie ein Pferd um einen Holzpflock herum über das Getreide, das darum liegt jagen. Von Dünger weiß man noch gar nichts u. Zeit haben sie immer. Sie führen ein völlig biblisches Leben.“
Ferner notierte er Völkerkundliches: „Bosnien ist bewohnt von Slawen. Aber aus diesen Slawen sind 2 total verschiedene Rassen geworden, die zum Islam übergetreten sind, die sogenannten ‚Türken‘ sind ehrlich, freundlich, kultiviert, wohnen nur an Stellen mit schöner Aussicht, haben die Städte gebaut und bewohnen sie überwiegend, geben z.B. Sarajevo den charakteristischen Stempel, sind in jeder Beziehung angenehme Menschen. Sie sind durch ihre Religion zu einer völlig eigenen Rasse geworden. … Die, die ihrem alten Glauben treu blieben, das sind die ‚Serben‘. Im Zustand unserer Merovinger Zeit … übertüncht europäisch, rasch degenerierend; (weil die Kultur der Slawen ja erst erwacht …) die Eigenart dieser Slawen, welche europäische Kultur und Zivilisation übernehmen, ist so stark, daß sie z.B. die Mode völlig eigen umformen; sie werden aber von den anderen Slawen verachtet u. es bekommt ihnen auch nicht sich in jene anorganische Jacke gezwängt zu haben. Entweder degenerieren sie vollkommen od. die alte Haut bricht wieder durch. Ein ‚Serbe‘ wird nie mit einem ‚Türken‘ zusammen im selben Lokal sitzen“. Bosnische Serben und Muslime seien wie Hund und Katze.
Sofort nach seiner Rückkehr von dem Ausflug nach Tarčin nahm Reiswitz sein Studium der Landessprache wieder auf, las das 1916 erschienene Buch „Die Türkei: Bilder und Skizzen von Land und Volk“ des Offiziers in osmanischen Diensten Franz Carl Endres (1878–1954)151 und notierte am 18.09.24, dass er Leopold von Rankes im Jahre 1829 erschienene „Serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mittheilungen“ (1829) zum Teil gelesen habe.152 Einen Tag danach gibt das Tagebuch darüber Auskunft, dass er Michail Lermontovs (1814–1841) romantisches Gedicht „Der Dämon“ gelesen hat, dessen Handlung im Kaukasus angesiedelt ist. Am 14.10. wiederum las er über byzantinische Geschichte.
Am 21.09.153 machte Reiwitz