Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
nahm Reiswitz im Januar 1929 in Berlin Kontakt auf zu dem damaligen preußischen Kultusminister und Orientalisten Carl Heinrich Becker (1876–1933), welcher Reiswitz für die Weiterführung seiner in Belgrad begonnenen Studien über die preußisch-serbischen Beziehungen ab dem Frühjahr ein Privatdozenten-Stipendium in Höhe von 175 Reichsmark monatlich gewährte. Diese Information befindet sich in einem Briefentwurf Reiswitz’ an einen namentlich nicht erwähnten „Professor“ vom 04.03.1931. Aus dem Kontext geht aber hervor, dass dieser ein Mitglied der Historischen Reichskommission (HRK) gewesen sein muss. Mögliche Kandidaten könnten der Präsident der Reichskommission selbst, Friedrich Meinecke, aber auch andere Professoren gewesen sein, so z.B. auch Otto Hoetzsch oder Karl Stählin.374 In diesem Schreiben erläuterte Reiswitz seinen Antrag auf weitere Fördermittel, da die von Becker bereitgestellten Gelder zwar eine „sehr große Hilfe“ darstellten, aber ihm nicht ermöglichten „ganz davon zu leben.“ Der Antrag auf ein Privatdozenten-Stipendium war vehement durch Stählin unterstützt worden. In dessen Gutachten hieß es, dass er Reiswitz bereits seit 1926 kenne. Reiswitz habe im positiven Sinne einen „ungewöhnlichen Eindruck“ auf ihn gemacht und mit ihm „über große Pläne, die sich auf die Erforschung der religionsgeschichtlichen Zusammenhänge der Bogomilen erstrecken“, geredet. Zudem erwähnte Stählin Reiswitz’ Jugoslawienreise von 1928, die jener zum „Aktenstudium“ nutzte, aber auch um „Land und Leute gründlich“ kennenzulernen. Ganz besonders sei es Reiswitz dabei aufgefallen, dass sich der „große Denkmalsreichtum dieser Gebiete … in völlig verwahrlostem Zustand befindet“. Reiswitz habe darüber hinaus Cvijić ins Deutsche übersetzt und besitze eine „frische, für die Wissenschaft begeisterte Persönlichkeit“. Den Stipendienantrag unterstütze er „auf das Wärmste“.375 Auch in Folgejahren wurde Stählin für Reiswitz gutachterlich tätig, was jedesmal zur Verlängerung des Privatdozenten-Stipendiums führte. Über die Umstände, wie sich Reiswitz und Stählin 1926 kennenlernten, ist nichts weiter bekannt. Stählin war ein Schulkamerad von Ernst Troeltsch und, wie Reiswitz, erst in späteren Jahren zum Historiker geworden, nachdem er von 1886–1897 Berufssoldat war. Um das Jahr 1914 hatte er begonnen, sich intensiv mit Balkanforschung zu befassen.376
Ebenfalls im Januar 1929 verfasste Reiswitz ein Dokument377, das neben dem „Mündlichen Bericht“ an Petković vier Monate später zu den ganz zentralen Bausteinen im Entstehungsprozess seiner Idee einer Denkmalschutzgesetzgebung für Jugoslawien gehört. Bislang hatte es in dieser Hinsicht lediglich die Vorarbeiten des Archäologen Mihailo Valtrović (1839–1915) gegeben, der – Milinković zufolge – im Jahre 1884 der Serbischen Archäologischen Gesellschaft den „Entwurf für ein Denkmalschutzgesetz“ vorgelegt hatte.378 Mehr war allerdings seither nicht geschehen.
In einer kurzen Präambel stellte Reiswitz nunmehr drei Thesen auf. Erstens, dass es im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen kaum „handschriftliche“ Überlieferung der eigenen Geschichte gebe, was ihn implizit zu dem Schluss kommen ließ, dass die Bewahrung der nicht-schriftlichen Tradition umso wichtiger sei. Zweitens konstatierte er, dass es in der jugoslawischen Öffentlichkeit nur einen geringen Vetrautheitsgrad mit der eigenen Vergangenheit gebe. Dies lege die Schlussfolgerung nahe, dass ein organisierter Denkmalschutz großes didaktisches Potential enthalte. Schließlich legte er dar, dass in kaum einem anderen Staat „West-Europas“ [sic] die vorhandenen Denkmäler einer größeren Gefahr der endgültigen Vernichtung ausgesetzt seien als in Jugoslawien.
Im ersten Hauptteil seiner Denkschrift erläuterte er dann die Ursachen für diese Bedrohung. Hauptverantwortlich sei die rasante wirtschaftliche Entwickung. Der Ausbau der Infrastruktur, die Landreform, die Urbarmachung bisher ungenutzter Anbauflächen und der Wohnungsbau, den er ja in Belgrad eindringlich beschrieben hatte, gefährdeten die noch unausgegrabenen Altertümer. Vielleicht noch bedrohlicher für die Bodenfunde sei die Tatsache, dass es keine verbindlichen Regelungen darüber gebe, was das weitere Schicksal eines Fundstückes anbelangte.
Neben dieser zufälligen und unabsichtlichen Gefahrensituation gebe es aber dazu das „Verlangen“ der jeweiligen Kommunen, ihre öffentlichen Anlagen zu „verschönern“, wodurch viele potentielle archäologische Bodenfunde einem fachmännischen Zugriff durch zum Beispiel Überbauung unerforschbar würden. Er erwähnte das konkrete Beispiel der Errichtung einer Parkanlage auf dem Hügel einer Stadt, wo sich eine antike Siedlung befand, deren „Schichtenfolge“ nun nicht mehr ergraben werden könne. Hier handelte es sich vermutlich um das von ihm selbst zuvor besuchte Bitola.
In diesem Fall allerdings sollte sich Reiswitz’ Pessimismus wohl als unbegründet erweisen. Im Jahre 1936 und 1937 wurden vom Prinz-Paul-Museum in Belgrad unter der Leitung von Miodrag Grbić Grabungen in Bitola durchgeführt, die die Reste von Herakleia Lynkestis freilegten, wozu eine Basilika und Mosaike zählten.379
Aus den genannten Gefährdungszenarien leitete Reiswitz dann zwei Forderungen ab: Erstens der „Schutz und die Sammlung“ der zufällig entdeckten Funde, und zweitens der „Schutz des Staates“ für diejenigen Areale, an denen aus wissenschaftlich begründeter Sicht mit Funden gerechnet werden könne. Für beide Maßnahmen sei ein Schutzgesetz, Geld und eine organisatorische Verankerung erforderlich.
Im zweiten Hauptteil des Memorandums führte Reiswitz dann aus, wie sein Forderungspaket konkret in die Tat umgesetzt werden könne. So sollten in jeder jugoslawischen Gespannschaft historisch, archäologisch und volkskundlich geschulte Konservatoren eingesetzt werden, welche wiederum innerhalb ihrer Amtsbezirke fachlich interessierte Laien über Fragebögen zu ständiger Berichtspflicht anzuhalten hätten. Ferner solle der jeweilige Konservator für die Zahlung von Finderlohn und die Sicherstellung der Funde verantwortlich sein.
Die Finanzmittel für diese neu zu schaffenden Organisationstruktur seien über den „Propaganda“-Etat des Außenministeriums, freiwillige Spenden, vor allem der im Ausland lebenden „opferfreudigen“ Südslawen, und im Bedarfsfalle zusätzlich noch durch eine „leichte“ indirekte Steuer aufzubringen.
Das Außenministerium solle deshalb als Geldgeber fungieren, da eine erfolgreiche archäologische Forschungstätigkeit beste „Reklamemöglichkeiten“ für Südslawien in Drittstaaten darstelle, die Spendenaktion müsse durch die Medien und die orthodoxe Kirche unterstützt werden – von letzter erwartete er aber Widerstand, vermutlich, weil er davon ausging, dass die kirchlichen Institutionen eine staatlich oktroyierte Denkmalpflege als Eingriff in ihre eigene Verfügungshoheit über kirchliches Kulturgut ansehen würden.
Reiswitz’ Ausführungen nach sei nicht die Beschaffung der finanziellen Mittel das größte Probem, sondern die Rekrutierung einer ausreichenden Zahl ausgebildeter Kuratoren, wobei er aber beteuerte, dass dies „für einen jungen Staat“ nicht als „Vorwurf“ zu interpretieren sei. Die Lösung hier sah er in der Beschäftigung ausländischer Gelehrter. Dies wiederum würde die gesteigerte Aufmerksamkeit der internationalen Fachwelt zu Folge haben und die zukünftige, grenzüberschreitende Drittmittelbeschaffung erleichtern. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt selbst als einer dieser im Ausland rekrutierten Konservatoren sah.
Drei Vorschläge schließlich machte er hinsichtlich des Schutzes potentieller Fundstellen. Erstens forderte er ein gesetzlich verankertes Verbot wilder Grabungen. „Schatzgräberei“ müsse streng bestraft werden. Zweitens müsse die Konzessionserteilung für Ausgrabungen insgesamt erleichtert werden, auch an ausländische Antragsteller. Auch hier hatte er wohl sich selbst mit im Blick. Drittens schließlich müsse es „scharf formulierte Leitsätze“ für jede Ausgrabung geben, deren Einhaltung auch stringent staatlicherseits zu überwachen sei.
Er beendete seine Denkschrift mit der ermunternden Bemerkung, dass Südslawien einen großen Vorteil habe, was die von ihm angeregte Organisation der archäologischen Denkmalpflege anbelangte: Da es noch keinerlei bestehende Regelungen gebe, müsse nicht auf überlieferte Strukturen Rücksicht genommen werden. Denkmalpflege sei gewissermaßen Pionierarbeit im eigenen Lande.
Dass diese Pionierarbeit bereits anderswo Früchte getragen habe, sei für ihn ablesbar an den Beispielen von Griechenland und Italien.380 Apodiktisch schloss er mit der Frage: „Wann beginnt Südslawien?“
Reiswitz hatte von dem „Vernunftrepublikaner“