Die Forelle. Leander Fischer
gekoppelt. Je mehr sehr gute Noten es regnete, umso unverhohlener fiel vom Ministeriumshimmel für Bildung, Kunst und Kultur das Gold, was eine regelrechte Sturzflut sich in Oberösterreich niederlassender Musikschullehrer aus ganz Österreich zur Folge hatte. Wir unterrichteten nicht gerade auf Stradivaris, aber zumindest nicht wie andernorts in diesem Land auf den aus Kirchenorchestern aussortierten Kniegeigen.
Dank meiner erstklassigen Ausbildung und meiner Jugend wurde ich nicht auf die Warteliste für freie Stellen im Landesmusikschulverband Oberösterreich gesetzt. Man wies mir direkt einen Posten in jenem Provinzkaff zu, in diesem Provinzkaff, in dem ich mich immer noch befand. Die Stelle auszuschlagen hätte bedeutet, zuallerletzt auf der Warteliste zu landen. Ich bezeichnete es immer als ein großes Glück, denn wir brauchten mein Gehalt dringend, Lena, Lukas, Johannes und ich. Sie hingegen, die abgesehen von ihrem Medizinstudium in München ihr Leben in Salzburg verbracht hatte, stauchte den Beamten am anderen Ende der Leitung zusammen, was ihm denn einfalle, einen Mozarteumsabgänger wie ihren Mann, statt ihm den rötesten Teppich der Landeshauptstadt Linz auszurollen, ins gottvergessenste Nest zu entsenden, wo das Musikalischste, was von den im Katholizismus ihrer Elternhäuser feststeckenden Kindern zu erwarten war, ein fehlerfrei gesungenes Vaterunser sei. Der Beamte habe vernehmbar unbeeindruckt geantwortet, man sei gerade Konservatoriumsabsolventen gegenüber misstrauisch eingestellt inzwischen, man habe schlechte Erfahrungen gemacht, gerade hervorragende, ihre Karriere aber nicht verfolgende, verkappte, gescheiterte, schiffbrüchige, auf der Strecke gebliebene, et cetera et cetera, sie wisse ja, Möchtegern-Solisten in einem Wort, verlören oft die Geduld gegenüber den mindertalentierten Schülern, ja würden an regelrechten Wutausbrüchen leiden, und mit Verlaub, nichts gegen ihren Mann, so etwas mache eben das Konservatorium aus Menschen, sobald man drin stecke, im Konservativen, man gehe gelassen hinein in die Leistungsdruckpresse und komme als Choleriker heraus, und im Gegensatz zu den verzogenen Stadtschnöseln seien die oberösterreichischen Bauernkinder die ruppigen Rügen dann wenigstens von Haus aus schon gewöhnt. Mit höflicher Verabschiedung habe der Beamte eingehängt, wie mir Lena erzählte, als ich die erste Abmahnung von Seiten der Musikschuldirektion nach Hause brachte, da ich ein Kind angeblich angeschrien hatte.
Wir saßen uns gegenüber, ich öffnete die dritte Flasche Wein, sie taxierte mich, misstrauisch, und über ihre Lippen kam kein Sag-mir-dass-das-nicht-stimmt, nur ein weiterer Schluck aus dem wieder aufgefüllten Achterlglas schwappte in ihren Mund, ein Erfunden-und-erlogen-eine-Intrige-stimmts hätte ich mir gewünscht. Das Wort wäre vielleicht an mir gewesen, womöglich hätte es an mir gelegen. Doch Lenas in Bewegung geratene Kiefer lieferten schon bloß diese Geschichte vom Telefonat mit dem Beamten statt einem Da-muss-eine-Verwechslung-vorliegen-eine-Supplierung-bestimmt. Sie stellte das Glas wieder auf den Tisch, ließ ihren Kopf etwas sinken, dass die Haare fielen vor ihren Blick, kicherte und lachte dann in sich hinein, oder lachte über mich, wer weiß. Sie hob ihren Schopf und nahm mich in Augenschein, ihren inzwischen verstummten Kinderanschreier, kein Nein-nein-das-muss-ein-anderer-gewesen-sein. Schon damals kam sie mir mit einem anderen Mann, den sie angeblich angeschrien hatte, einem vor weiß der Teufel wie langer Zeit stattgefundenen Gespräch, einer Geschichte aus der Vergangenheit, von der ich zwar nicht sagen kann, ob sie je stattgefunden hat, aber sie hat etwas mit mir gemacht. Wenn ich darüber nachdenke, hat mir Lena gesagt, der Beamte habe gelogen, die Kinder vertrügen weder Schläge noch Rüge, sie hätte den Kopf schütteln und schimpfen können auf die Jugend von heute. Sie hätte sagen können, der Beamte habe eben recht behalten, ich könne nichts dafür, dass diese Kinder Welten schlechter spielten als ich in ihrem Alter und alles andere als Ambitionen im Beherrschen welches Instruments auch immer hegten, ich solle sie in Zukunft einfach ein bisschen pianissimo schelten. Stattdessen formten Lenas gellende Stimmbänder eine nahezu hysterische Schimpftirade. Ihre rotweinverkrusteten Lippen bebten, ihre Hände warfen an die Wände dieser Küche in wildem Fuchteln ekstatisch zuckende Fingerschatten, die innerhalb weniger Sekunden in jede mögliche Richtung, nur nicht in meine wiesen, auf alle Punkte im Raum, bloß nicht auf mich zeigten. Mindestens so schnell, wie ihre Arme gestikulierten, feuerten ihre Hirnwindungen. Die Stimmbänder kamen beinahe nicht hinterher und klirrten in den höchsten Tönen, noch heller als das Weinglas, das Laut gab, wenn Lena zwischendurch mit der Faust auf die Tischplatte hieb, über die ihre Zunge Spucke schleuderte mit jedem Satz weiter bis in mein Achterl hinein.
Dieses Scheißkind hätte offensichtlich einen guten Draht zu seinen Eltern, die wiederum einen guten Draht zur gottvermaledeiten Musikschulobrigkeit hätten, die im Übrigen die verfluchten Nachbarn der – Teufel noch eins – Cousine dritten Grades der kreuzkruziverfickten Eltern des Kindes wären in diesem inzestigen »Scheißoberösterreich!«. Als hätten wir ihn nie weggelegt, griff Lena den Tabak vom Fensterbrett. Die hauchdünnen Blättchen waren noch darin. Ihre Finger schmiegten raschelnd eins davon um das dunkle, trocken gewordene Zeug zusammen. Zum Zigarettenmachen brauchte sie keinen Blick. Während der ganzen Prozedur schaute sie mich an, wie mechanisch arbeiteten ihre feingliederigen Hände, als wären sie kein Teil von ihr. Sie leckte den Klebestreifen ab. Ihre Augen blieben bei mir. Keine einzige vertrocknete Fluse fiel auf die Tischplatte, obwohl der Tabak schon seit Jahren zu Krümeln zerfiel und mitnichten noch in Strähnen zusammenhielt. Ja, sie könne auch ganz schön wütend werden, sagte sie, und es wäre kein Wunder gewesen, hätte sie Feuer gespien, um die Zigarettenspitze in Glut zu verwandeln. Der Funke hätte überspringen können bei der ersten Berührung mit Lenas heißgeredeten und rotgetrunkenen Lippen. Die Zigarette im Mund hielt sie nun Daumen und Zeigefinger aneinander und ich wartete auf ein Schnipsen und das Auftanzen einer Flamme in Verlängerung ihres Nagels. Doch sie riss bloß an der Tischkante den Streichholzkopf an wie eine Filmschauspielerin und warf mir ihr schönstes Hollywoodlächeln zu. Ein Drehbuchskript ersehnte ich, dessen eingelernter Text jetzt nur zu wiederholen wäre, ein Satz, eine Bemerkung nur, vielleicht bloß ein Wort, das angebracht war und mich in seinem Widerschein erstrahlen ließ, mir einen Nimbus der Rechtschaffenheit verlieh und mich in einen unglaublich netten, adretten, charmanten und charismatischen Leinwandhelden verwandelte, getaucht in Scheinwerferlicht.
Doch das einzige Leuchten ging schummrig von einer krepppapierumwickelten Stehlampe und Lenas glühenden Zügen aus, bis sie das Rotweinglas senkte aus ihrem Gesichtsfeld, womit auch der rosa Hauch von ihren Wangen wanderte. Ihre Wut war verraucht und ihre Haut vielmehr blass, als käme sie gerade aus der Maske eines Fünfzigerjahre-Schwarz-Weiß-Studios. Mit jedem Heben und Senken des Rotweinglases an ihren Mund wanderte dann das Purpur wieder in ihr Gesicht, ein Farbgemisch in sattem Pastell, das zu ihren Lippen passte wie zu ihren Wangen, nur für meinen Augenblick. Zwischen den Schlucken zischte dann die Zigarette auf, das Zepter in der linken, den Pokal in der rechten. Einen Arm hielt sie lässig hinter die Sessellehne geklemmt, den anderen den übergeschlagenen Oberschenkel parallel entlang bis zum Knie, weswegen sie bloß in den Ellenbeugen zu knicksen brauchte, um abwechselnd zu trinken und zu rauchen. Zwischen den Schlucken und Zügen ließ Lena weder mich aus den Augen noch aus den Fingern Zigarette und Glas. Sie gingen Mal für Mal hintereinander an Lenas unverändert leicht geöffneten Mund, bis sie die Lippen schürzte und mir einen Rauchring entgegenblies, der sich ausbreitete, zuletzt nur von meinem Hals zersetzt in meinem Rücken weiterschwebte Richtung Wand. Ein Knistern lag in der Luft, doch als mein Blick Lenas aufgeladen zitterndem Haar ihre Gestalt hinabfolgte bis auf das Achterl, war es doch nur der in den letzten Tropfen fallen gelassene Zigarettenstummel. Auf die Tischplatte knallte Lena das Glas und fasste stattdessen den Korkenzieher. Auf dem Drillbohrer steckte noch immer der durchstoßene Korken. In der einen Hand drehte sie das Gerät nach oben und noch etwas weiter in meine Richtung. Jetzt, über den Tisch gebeugt, huschten Lenas Pupillen abwechselnd auf mich und auf den Korkenzieher, dessen Schenkel sie gerade nach hinten legte und umfasste, quälend langsam, woraufhin der gewundene Dorn samt Kork sich sachten Klackens auf mich zu bewegte. Ein feiner Riss zog sich durch den Mantel und Lena legte Hand daran und schaute mich an. »Drecksland!«, sagte sie, nahm den Korken zwischen die Fingerkuppen und in den Blick. Langsam drehte sie ihn, ihre Sehnen pulsierten, es quietschte. Dann hielt sie inne. »Dreckskinder!« und das Hochschießen ihrer Augen trafen mich gleichzeitig. Dann duckte sich der Blick wieder. Ein Drehen am Korkenzieher, der Verschluss wanderte die Spirale hinauf wie Lenas Pupillen meinen Hals. »Drecksau!«, zischte sie und nahm den Korken vom Korkenzieher und ließ sich in den Sessel zurückfallen. Dann knickste sie nochmals in der Ellenbeuge, und ehe ich mich fragte, woher sie denn jetzt Kippe oder Achterl griff, knallte mir der Korken gegen die Stirn.