Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


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meinem Schoß. Ich musste schmunzeln. Sie: »Herr Konzertmeister«, sprachs, stand auf, ich sagte darauf, »wer ist am wütendsten im ganzen Land?«, Lena trat Schritt um Schritt, in Richtung Bad, wie ich hörte, weil ihr weißes Kleid am Boden schleifte, »Herr und Frau Doktor, ihr seid das«, zerborsten einerseits der Mantel des Korkens in meinem Schoß, wie ich sah, ein gebrochener Ring, Spleiße standen davon ab. »Aber der Herr Musikschulprofessor hinter Tunnel und See bei den Oberlander Blagen ist noch tausendmal wütender«, Parfum schweifte hinter ihrem Hals, als sie über mich herfiel, Haar drapierte um meinen Kopf, »scheiß Zigarettenrauch«, lippenstiftig schaute ihr Mund aus, schmeckte rotweinerlich, mein Reißverschluss zirpte. »Spiel mit mir«, wisperte sie. »Schlag mich«, flüsterte sie. »Beiß mich, kratz mich«, sagte sie. »Zieh an meinen Haaren, zieh dran, zieh«, befahl sie, schrie, »schrei mich an, schrei mich an, schrei mich an, schrei mich an!« Wahrscheinlich wollte sie wenigstens einmal zumindest irgendeine Reaktion.

      In Wirklichkeit hatte es dieses Kind wie den Beamten natürlich nie gegeben. Wie die meisten meiner unfähigen Kollegen, die sich darüber freuten, wenn die Bälger zu Hause nicht übten und keine aufkeimende Konkurrenz die ohnehin schon rar gesäten freien Stellen befiel, hatte der Musikschuldirektor lediglich eine Musikpädagogische Hochschule besucht. Der Schrei, den er angeblich aus meinem Unterrichtszimmer gehört haben mochte, war wohl in der Wartezeit erklungen, die stets entstand, wenn ein Schüler die Stunde verfrüht verließ und der nächste sich verspätete. Dann nämlich pflegte ich, damit mir die Finger bis zum nächsten Kind nicht kalt wurden, das Tschaikowskyviolinkonzert einzustudieren und zu üben. Die Melodien, Läufe und Verzierungen, die den Raum erfüllten und jede Sekunde von der Virtuosität kündeten, die sie ihrem Interpreten abverlangten, mussten in den Ohren des Herrn Musikschuldirektors geklungen haben wie Kampfschreie, Fechthiebe gegen ihn persönlich, die er nur mühsam parieren konnte, gegen seinen lausigen Posten, den ich nie wollte, und seine angeblich absolute, lächerliche Autorität. Es war weder meine Absicht noch mein Interesse, den Herrn Direktor herauszufordern. Allein, was hätte ich anderes tun sollen. Die Position, einen Schüler zu unterweisen, muss man sich tagtäglich erarbeiten, und wann hätte ich üben sollen, bestanden die Unterrichtsstunden doch darin, dass die Schüler spielten. Wären meine Schultern eingerostet und meine Finger nach und nach verklemmt, ich hätte meinen Beruf aufgeben müssen. Der Musikschuldirektor sah es anders, er sah den Affront gegen seine Person und gegen seine Funktion, gegen den ursprünglich aus Oberösterreich stammenden Oberösterreicher und gegen den gesamten oberösterreichischen Musikschulverband, dessen Unterrichtssystem aus Skandinavien stammte und dessen Lehrer aus ganz Österreich, die mit dem Musikschuldirektor nur darin eine Einheit bildeten, dass sie allesamt Nebochanten waren. Und dass sie keine Ahnung von ihrer eigenen Ahnungslosigkeit hatten. Und dann kam ich. Unzählige Male stellte ich mir vor, wie der Musikschuldirektor vor meinem Unterrichtszimmer stand, an der Tür lauschte, der Schüler, den ich erwartete, neben ihm. Auch er trat nicht ein, weil er lieber mir durch die Tür zuhörte, als selbst zu üben. Immerhin ist eine Konzertkarte ja auch teurer als eine Stunde Geigenunterricht. Beide schmiegten sie ihre Ohren sehnsüchtig an die angeblich schalldichte Doppeltür. Was für ein heruntergekommener Laden. Wie oft fragte ich mich, wo die verheißenden Subventionen denn hinflössen? Aber all die Schmiergeldaffären und Scheinanstellungen und Misswirtschaften vergebens und vergessen, hinweggespielt von mir und Tschaikowsky, obwohl ich doch nur meine Finger warm halten wollte. Und schön war es doch. Wer weiß, wie vielen meiner Stümperkollegen ich in den Jahren meiner Anstellung unwissentlich das Leben gerettet habe, wenn sie während einer meiner Tschaikowskypausen gerade den Gang hinunterschritten auf dem Weg zum Dach, da sie sich entschlossen hatten, den eine Oktav tiefer gelegenen Schlussakkord ihres Daseins zu setzen. Sie hörten mich und kehrten um. Sie wandten sich ab vom Musikschuldirektor. Sie fanden wieder Freude an ihrem Beruf. Es wäre sogar durchaus möglich, dass ich die Abmahnungen statt der Kündigung und die Unterrichtszimmer die Doppeltüren statt wirklich schalldämpfender Beschichtungen bekamen. Die zu erbauende Belegschaft und das zu unterrichtende Kind lauschten weiterhin meinem privaten Kleinod. Der Schüler wusste, wer er werden könnte, wenn er nur immer brav in die Stunde kam. Und der falsche Meister trat hinzu, bekam mit, wer er hätte werden können, hätte er seinen Arsch aus diesem Oberösterreich hinausbewegt. Vergangenheit und Zukunft, Gram und Verheißung verdichteten sich in den Köpfen dieser beiden Zuhörer zu einem einzigen Moment, und in der schönsten Passage des Konzerts, mitten in die improvisierte Kadenz hinein, fragte der Musikschuldirektor das Kind, warum es denn nicht hineinwolle zum Herrn Geigenlehrer. Und dann hieß es natürlich, verschüchterte Opfer sagten nicht aus. Das braucht es auch gar nicht. Verängstigte Kinder stammeln nur irgendetwas daher. Verantwortungsvolle Erwachsene besorgen den Rest. Sie behüten die Jugend. Das Trauma wird nicht reaktiviert. Das reimen die Alten alleine fertig. Das wird dann besprochen im Kollegium. Sie bauen den Missbrauch zusammen. Sie dichten es jemandem an. Sie mahnen ihn ab. Da redet sich keiner raus. Das wird den Eltern versprochen im Konferenzzimmer. Und einen Lehrerwechsel gibt es selbstverständlich auch. Ein Schuss vor den Bug tue bloß gut. Das ficht niemand mehr an. Fortan feinden sie ihn an. Tue nur Buße. Zur nächsten Lehrerversammlung kam ich in Schwarz.

      Ich trat gespielt demutsvoll ein in das Rektorenstübchen. Und schon erschienen mir die Bierdümpel beim Wirten als die Wiedergänger meiner Stümperkollegen und Volkis Fratze fräste sich als die des Musikschuldirektors in meinen Kopf. An die Schläfe fasste ich mir, schlagartig, ein Hieb, den nur das reflexhafte Wegspreizen von Zeigefinger und Mittelfinger abfederte. Das Strecken kein bisschen bemerkt, knallten anstelle von Handballen oder Faust die beiden Fingerkuppen an meinen Schädel, an jene Stelle, die damals schon so kahl war. Das Haareraufen verwehrt, blieb mir nur, den Daumen gen Decke abzudrücken beim Begreifen von Lena und Volki hinter meiner Stirnplatte, der Vorstellung, die mich durchzuckte im Hirn. Fest drückte und presste ich ersten und zweiten Finger gegen das Jochbein, dass sie verschwindet, die Szenerie dahinter. Heute wie damals, hier, an diesem meinem Schreibtisch, dort, an jenem unserem Küchentisch, im Lichtkegel der zur Leselampe umfunktionierten Fliegenbindelampe, im cremefarbenen Schein der krepppapierumwickelten Stehlampe, beim Bedenken dieser fremden Regenbogenforellen, mit dem Verfassen meiner eigenen Geschichte befasst, an die Schläfe, während die rechte Hand weiterschreibt, haltlos ohne die linke am Blatt, in krakeelender Schrift statt zu schreien, zu wütend zu brüllen, auf diesem Blatt, die Begegnung der beiden beschrieben, auf Linoleum, in Spitalsschlapfen, die sogenannten OP-Latschen, Offizien der Herren und Frauen Doktoren, einander gegenüber in sterilem Kleid, weiß wie Hochzeit, keimfreigrün und abgeschützt der Mund, salmonidenschwarz vor den zweien zwei Teller, ein Forellenskalpell: »So was, die zerteilen Sie aber gut.« – »So was.« – »’tschuldigen, sezieren heißt das ja.« – »Danke, aber ich anästhesiere.« – »Fische vielleicht?« – »Derweil ess ich so was so selten.« – »So was, warum denn das?« – »Zwar Angler oder so was mein Mann, aber was weiß ich.« – »So was, schade.« – »Ja, wie gut so was schmeckt. Da arbeitet man gern, freitags.« – frisch aus der Tiefkühltruhe gefischt, jede Woche in die Rachen der Industriebacköfen geworfen, in den Großkantinenküchen katholischer Lande angesprungen, als röchelte, als hechelte, als holte diese gottverdammte und verheißungsvolle Fliegenfischergegend Atem.

      So zog ein Luftstoß das Küchenfenster zu und so schwenkte der Landschaftsodem das Scheibenspiegelbild in meinen Augenschein. Vom Stoß gegen den Kopf noch gehoben die Linke, zum Revolver geformt, am pulsierenden Joch, die Mündung drückend, um irgendwie dieses geblickte Bild zu variieren, umzumodellieren, als wäre es aus Ton. Fast bereit abzusetzen, glitten die Finger weiter, in mein Gesicht hinein, über den Augenbrauenansatz hinaus, die pechigen Borsten entlang, knetend, gegen den Strich bürstend, bis zu jenem schmerzhaften Punkt über dem Augenwinkel an der Stirn, migränemassierend wie bei Wetterumschwung, mit der Mündung aus Zeigefinger und Mittelfinger, dass kein Glied mehr verblieb am Abzug, akkupressierend den Bastard aus Wimper und Braue, das eine daumenlange Haar, das den Schatten eines Haarrisses auf meine Wange warf, wohin mein Ringfinger geriet, schlaff herabhängend, aus der Revolvertrommel gefallen, genau an den Tränensack hinabgewandert, wo die vertrocknete, salzige, butterverfettete, eiweißene Spur begann auf der Scheibe, wo der Speichelschleim einen Finger lang feinweiß, cremefarben schillernd meine Wange teilte, wo der zerkaute, hinabgeglittene Bissen Regenbogenforellenfleisch voran meine Haut entzweite, ihr einen Strich vernarbenden, metastasierenden, totlebhaften Gewebes beibrachte, einen Schmiss einzeichnete, einen Schnitt einschrieb ewiglich. Doch makellos hob sich anno dazumal


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