Speedy – Skizzen. Florian Havemann
wir dann aber doch, und wir bekamen sie von der Chefin selber, die dann doch glaubte, es sei ihre Aufgabe, ihre Kundschaft, Speedy und mich und dann auch das flache Brett mit der Hakennase und dem vogelartigem Gesicht und ihren Neger im Schlepptau zu dem Seiteneingang zu geleiten, durch den wir den Laden verlassen sollten – sicher auch mit der Absicht, sich noch einmal für den Vorfall zu entschuldigen. Sie versuchte es jedenfalls, aber sie kam damit nicht weit, denn die häßliche Alte, sie konterte diesen Versuch schon nach dem ersten Satz mit dem Vorwurf, sie müsse eine Rassistin sein – auch das war natürlich eine mögliche Interpretation des Vorgefallenen. Nein, wie könne sie, so die ehrlich erstaunte Antwort dieser Frau, sie sei Jüdin – damit war alles klar. Und die häßliche Realität war wieder da. Und selbst die häßliche Frau mit dem schönen, dicken Konto entschuldigte sich und sagte dann, ganz von oben herab, die Nazis, das wär doch der Plebs, nichts als asozialer Plebs, aber die Deutschen bräuchten nun mal die Peitsche, und da die Aristokratie, der sie die zweifelhafte Ehre habe, anzugehören, viel zu dekadent sei, um noch Herrschaft ausüben zu können, bleibe nur die Wahl zwischen den Kommunisten, also Moskau, oder ob das der eigene Plebs mache, der nationale. Das war immerhin ein Standpunkt, ein klarer, aber Speedy sagte, und sie sagte es spitz und bloß halb als Frage: »Sie erwähnen das Bürgertum nicht?« »Weil es nicht erwähnenswert ist«, so die Antwort der adligen Dame, und wahrscheinlich hatte sie sehr, sehr recht damit.
Kapitel 63: In memoriam
In Erinnerungen schwelgen. Sechs Jahre ist das jetzt her, und es kommt mir vor, als wär’s eine Ewigkeit – vielleicht meinen sie das ja mit ihren Tausend Nazi-Jahren, daß es uns nach den zehn Jahren, nach denen sie hoffentlich abtreten werden, vorkomme, als wär’s eine Ewigkeit von Tausend Jahren gewesen. Ein ganzes Volk aus der Zeit gefallen. Oder meinen sie vielleicht, das deutsche Volk hätte auch dann Tausend Jahre an ihnen zu knabbern, käme für Tausend Jahre von ihnen nicht los, auch wenn sie schon nach sieben, acht, neun, zehn, fünfzehn Jahren die Macht abgeben, abgeben müßten? Auf daß wir uns für immer und ewig mit ihnen werden beschäftigen müssen. Wegen ihrer Verbrechen. Wegen den Verbrechen, die sie schon begangen haben und von denen wir nur noch nichts wissen, oder denen, die sie noch zu begehen vorhaben. Aber glaube ich wirklich, daß ihr Ende nahe ist? Oder hoffe ich das bloß? Ein paar Jahre gebe ich ihnen noch – wenn ich nur wüßte, was ihrem Regime ein Ende machen könnte. Ein Aufstand der Deutschen? Nie und nimmer.
Speedy ist jetzt – ich muß mir das immer erst ausrechnen, ich kann mir keine Zahlen merken, keine Jahreszahlen und Telephonnummern schon gar nicht: sie ist 1902 geboren und demnach jetzt im Jahre 39 schon 37 Jahre alt und bewegt sich auf die 40 zu. 12 Jahre Altersunterschied zwischen uns, und der bleibt ja immer gleich, und den habe ich auch immer im Kopf, ich hätte es also auch von da aus, von meinen 49 Jahren aus berechnen können, Speedys Alter. Bei mir naht die 50, und das wird ein trauriger Geburtstag werden, weil man ja einen solchen runden Geburtstag gern in großer Runde feiert, mit einer Riesenparty, ich werde aber mit Speedy ganz allein sein an diesem Tag und Geburtstag – vorausgesetzt, ich bin dann schon raus aus dem Knast. Oder ich werde ihn allein in meiner Zelle feiern, diesen Geburtstag. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich schon ein alter Mann, verbraucht, ein Greis, als läge das schon alles hinter mir. Das Leben. Was natürlich auch damit zu tun hat, daß Speedy so deutlich jünger ist als ich und immer noch wie knapp Anfang 30 wirkt. Als altere sie nicht, als bliebe sie dort stehen in dem Alter, wo sie die ihr gemäße Lebensform, Lebensweise gefunden hat, die unnationalsozialistische: verheiratet und Männergeschichten. Wie konserviert kommt sie mir oft vor, frisch wie grad aus dem Kühlhaus, aber auch so, als entwickele sie sich nicht weiter, als würde sie nicht reifer. Geistig. Körperlich unversehrt, die Jahre scheinen spurlos an ihr vorüber zu gehen. Nur ihre Brüste hängen ein bißchen mehr, wenn auch der Unterschied zu früher nur minimal sein dürfte. Doch für mich natürlich, der sie länger kennt und mittlerweile sind das ja auch schon 12 Jahre, deutlich sichtbar, aber ich mag das ja, Hängetitten, besonders, wenn sie so klein sind wie die kleinen von Speedy, für mich erhöht das nur ihren Reiz – da merke ich eben, daß ich damals, als ich Speedy kennenlernte, so alt gewesen bin wie sie jetzt. Aber ich glaube, ich war auch damals schon sehr viel älter. Älter, weil vom Leben enttäuschter. Und als Künstler eine so zerquälte Seele.
33, da war ich 43 – bei mir rechnet sich das ja immer leicht, ich muß nur zur Jahreszahl einen Zehner mit dazuzählen. Natürlich wüßte ich das gerne, wie Speedy und ich damals 33 gewirkt haben mögen, auf diese Verkäuferinnen zum Beispiel, die jungen Dinger – ob ich für die schon als alter Knacker gegolten haben werde. Auch, ob ich für die wenigstens eine Sekunde lang als Frau durchgehen konnte in meiner weiblichen Unterwäsche – wie man sich selbst da sieht, das ist ja was anderes, man betrügt sich doch so gern. Und man schaut in den Spiegel, schaut sich aber nicht ins Gesicht dabei, will nur das sehen, was einem zum Weibe macht. Selektive Wahrnehmung, sehr selektive. Selbstbetrug, das ist der häufigste, der am weitesten verbreitete Betrug und er wird nicht geahndet, nicht strafrechtlich verfolgt, und wenn ich was zu sagen hätte, wenn das meine Diktatur wäre, die der Nazis, bei mir bekäme man einen Orden dafür, für den erfolgreichen Selbstbetrug – aber was rede ich da? Bei den Nazis bekommt man doch einen Orden dafür, das ist sozusagen die Geschäftsgrundlage des ganzen Regimes: massenhafter Selbstbetrug, staatlich geförderter, staatlicherseits ja auch geforderter Selbstbetrug eines ganzen Volkes. Nur fürs Mutterkreuz muß man, beziehungsweise frau, wenn diese Schreibweise in der deutschen Rechtschreibung möglich wäre, die Kinder wirklich und wahrhaftig geboren und in die Welt gesetzt haben – das ist das einzig Reale in diesem irrealen Rummel hier, in dieser Geisterbahn. Das Gitter vor meinem Zellenfenster ist aber auch real, das wollen wir mal nicht vergessen. Aber Fluchtmöglichkeiten, die gibt’s natürlich. Die Flucht zum Beispiel, die ich jetzt wieder antreten werde, die Flucht in die Erinnerungen, die schönen, die aufregenden.
Nein, das funktioniert diesmal nicht, das mit der Flucht – wenn’s nur peinliche Erinnerungen wären, die in mir hochkommen, wär’s ja nicht schlimm, peinlich ist ja gut für mich – je peinlicher, je besser. Als würde da dann alles von mir abfallen, wenn’s richtig peinlich für mich wird, weil der Druck einfach zu stark ist. Die bei mir exzessiven Schamgefühle so überfordert, daß sie zerreißen und im Nichts verschwinden, der Körperpanzer wie aufgesprengt, frei. Frei aufgrund von Peinlichkeit, Schmach, Schande, Scham. Aber jetzt geht es um etwas anderes, wenn ich von diesem Tag weitererzählen will und zu dem dritten Laden kommen, dem eigentlichen Korsett-Spezialgeschäft – ich muß ja nicht, niemand zwingt mich, aber die Erinnerungen sind schon da, die schlimmen an die dritte Station meiner Passion. Wie sie bannen? Wie sie verscheuchen? Zu spät – geht nicht, nicht mehr. Ich muß da durch. Erinnerungen sind das, denen ich doch lieber eigentlich entfliehen wollte, als sie heraufzubeschwören. Es ist dieser eine Moment, dieser große Schreck, dieser Schock, und was darauf folgte: die Nervenattacke, mein Zusammenbruch, psychisch, aber auch physisch: unkontrollierte, unkontrollierbare Zuckungen am ganzen Körper, Herzrasen und dann das Weinen, das hemmungslose Schluchzen, das nicht aufhören wollte – furchtbar und wäre nicht Speedy bei mir gewesen, sondern jemand anderes, der mich nicht so kennt, er hätte wohl den Arzt geholt, in Herzberge angerufen, mich in die Nervenklinik, ins Irrenhaus verfrachtet. Allein nur der bloße Gedanke daran, ohne daß ich mich noch einmal wirklich in diesen Moment hineinversetze, löst Schwindelgefühle bei mir aus, läßt die Panik noch einmal hochkommen. Ein Stein flog plötzlich, ohne daß sich dies durch irgendetwas angekündigt hatte, völlig unvermittelt, in das einzige, gar nicht mal große Fenster des im Souterrain gelegenen Ladens rein. Ein paar Stufen führten da herunter, und dieses Fenster, es war nur zur Hälfte über Straßenniveau – man mußte da also ganz schön genau zielen, wollte man da mit Wucht das Glas treffen, oder ohne Hemmungen und die Angst davor, bei diesem Steinwurf von irgendjemand gesehen zu werden, einem möglichen Zeugen dieser Straftat, direkt vor dem Laden stehen, damit einem dies gelingt. Und es war ja richtig heftig, wie dieser Stein durch das Fenster flog, ein Riesenkrach, und dann schwirrten die Glassplitter umher, und ein paar von ihnen bohrten sich richtig in den hölzernen Ladentresen, andere staken wie Pfeile, wie Geschosse im Boden, und plötzlich auch fegte ein winterkalter Luftzug in den Laden, als wollte der Wind uns alle wegtragen, an die Wand schleudern. Und das war nicht nur, was diesen Stein betraf, gut gezielt, das konnte auch nur eine ganz gezielte Attacke gewesen sein, von jemanden, der den Landen kannte, der es genau auf dieses