Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Stimmen verteilt zusammen gesungen werden.
Eine besondere Originalität der Auffassung wird von dem Knaben Mozart niemand erwarten; immerhin leuchtet sein Genius an einzelnen Stellen ganz auffallend hindurch, wie z.B. im Credo von K.-V. 49 bei der schönen Durwendung auf "homo factus est", die die Menschwerdung Christi mit diesem einfachen Mittel ergreifend schildert:
Überhaupt gehören die beiden "Et incarnatus est" schon hier zu den besten Sätzen. Besonders knapp sind beide Kompositionen des "Sanctus". Der Grundcharakter ist beide Male der des Schwebenden; in K.-V. 49 liegt er in den aufsteigenden Ligaturenketten, in K.-V. 65 in dem wiegenden kurzen Orchestermotiv, von guter Wirkung ist dabei auch das konzertierende Wechselspiel der beiden Chorgruppen. Das "Benedictus" von K.-V. 49 gehört zu den Sätzen, deren melodischer Charakter sich noch am meisten dem späteren Brauche nähert, ohne ihn freilich ganz zu erreichen. Gerade hier hätte es ja besonders nahe gelegen, ein geschlossenes, in sich gegliedertes Ganzes zu schaffen; statt dessen fügt Mozart lauter selbständige Melodien aneinander, die nur die allgemeine Stimmungsgemeinschaft verbindet, voll naiver, anmutiger Herzlichkeit – man wird an Goethes "halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen" gemahnt. Über das "Benedictus" von K.-V. 65 wurde bereits gesprochen; es ist aber auch orchestral höchst bemerkenswert, denn am Anfang klingt in den beiden Geigen noch das Motiv des "Sanctus" nach, beim letzten "qui venit" aber flimmert bereits das der Erscheinung der himmlischen Heerscharen in Händels Messias nachgebildete Motiv auf29:
das dann auch den ersten Teil des "Agnus Dei" begleitet, die Strahlenkrone der himmlischen Erscheinung des Lammes30. So verbindet das Orchester die letzten drei Sätze in ganz eigentümlicher Weise. Der Grundcharakter beider Agnus-Sätze ist dunkle, vor dem Ewigen erschauernde Ehrfurcht. Die Melodik ist vorwiegend deklamatorisch, die Harmonik aber gleitet in außerordentlich kühnen Folgen dahin, die namentlich in K.-V. 49 schon ganz in Mozarts späterer Art Fragen ins Jenseits zu stellen scheinen. Das "Dona" dieser Messe sinkt zwar stark von jener Höhe herab, geht aber doch durch seinen natürlichen, kindlichen Ton dem äußerlich glänzenden, aber oberflächlichen Wesen mancher späteren "Dona"-Sätze mit Glück aus dem Wege. Dem "Dona" von K.-V. 65 gelingt dasselbe durch seine strengere Arbeit. Eine merkwürdige Zwitterstellung zwischen diesen beiden und der nächsten Messe nimmt das Offertorium "Veni sancte spiritus" (K.-V. 47, S. III. 7) ein31. Es bedient sich nicht allein eines reicheren Orchesters (Streichquartett, Oboen, Hörner, Trompeten und Pauken), sondern läßt es auch in Form von Vor- und Zwischenspielen sowie selbständiger Begleitfiguren weit selbstherrlicher hervortreten. In der Annäherung an die Dreiteiligkeit und der bewußten Gegensätzlichkeit der Themen liegt ein weiterer "moderner" Zug. Dagegen weist die Textbehandlung, die Verteilung von Soli und Tutti und der Charakter mancher Motive ("et tui amoris", "alleluja") auf jene Messen zurück. Auch ist die Orchesterbegleitung ungelenk und reich an nichtssagenden Gemeinplätzen. Alles in allem gewinnen wir das Bild eines Künstlers, der einen ihm bekannt gewordenen neuen Stil nachzubilden versucht, aber mit dieser Aufgabe noch nicht fertig wird. Vielleicht haben wir wirklich eine Vorstudie für Wien vor uns32.
Eine ganz andere Bahn schlägt dagegen die sog. Pater-Dominikus-Messe (K.-V. 66, S.I. 3 mit Espagnes R.-B.) an. Sie entstand im Oktober 1769, als Wolfgangs Freund Hagenauer, dessen Eintritt ins Kloster ihm dereinst Tränen entlockt hatte (S. 78), in der St. Peterskirche die erste Messe zelebrierte33. Liturgisch und der Instrumentation nach ist sie eine Festmesse (missa sollemnis), stilistisch bedeutet sie den Übergang von der älteren, in Salzburg gepflegten Tradition zu dem neuen, namentlich von J. A. Hasse vertretenen Stil, der auch in Wien den älteren allmählich verdrängt hatte. Ganz vermag sich Mozart freilich auch jetzt noch nicht der alten Kunst zu entziehen, wie z.B. die Baßführung des "Benedictus" und "Agnus Dei" und die Melodik der Fugen "Cum sancto spiritu" (eines Absenkers der Fuge "Et vitam" in K.-V. 49) und "Osanna" beweisen.
Das Grundmerkmal des neuen Stils besteht in der Überflutung der Meßkomposition durch Ausdrucks-und Formenwelt der gleichzeitigen Opern- und Instrumentalmusik. Das bedingte eine weit stärkere Rolle des Solistischen und Instrumentalen und vor allem weit breiter ausgeführte Bilder als bisher. Der Schwerpunkt des Ganzen verschiebt sich auf Kosten des Poetischen zugunsten der Musik. Während in den beiden älteren Messen die Form sich aus dem engen Anschluß der Musik an den Text von selbst ergab, muß sich dieser jetzt den bereits fertigen musikalischen Formen der zwei- und dreiteiligen Arie und des Sonatensatzes anbequemen, und mit ihnen dringen auch ihre ganze Modulationsordnung, ihre melodischen Formeln bis zur bekannten Kadenz mit Fermate und Triller und ähnliches in die Messe ein. Natürlich begnügt sich auch die Koloratur nicht mehr mit kürzerer malerischer Auszierung einzelner Begriffe, sondern tritt, wie in der Oper, mit ausschweifender Selbstherrlichkeit auf den Plan.
Auch jenes Streben nach motivischer Einheit hört zwar nicht auf, nimmt aber doch andere Formen an. An die ältere Art erinnert nur noch die Verwandtschaft des "Laudamus", "Domine Deus" und "Et in spiritum sanctum", also der drei Hauptsolosätze, in Melodik, zweitaktiger Gliederung und opernmäßigem Gepräge. Dagegen zieht Mozart jetzt, um zwar nicht die ganze Messe, aber doch ihre großen Unterabschnitte zu einer Einheit zusammenzuschweißen, das Orchester heran. So geht durch das ganze Credo eine Art von ostinatem Baß hindurch, der immer wieder auf den Anfang hinweist, ein Mittel, das von Hasse stammt34 und später von Mozart in der mannigfaltigsten Weise weitergebildet wurde.
Die Einwirkung des Sonatensatzes verrät gleich das Allegro des Kyrie: zwei scharf kontrastierende Themen, Dominantschluß mit Orchesterzwischenspiel, dann Rückführung unter Vorantritt des Hauptthemas in die Haupttonart und Reprise zwar nicht des Haupt-, aber des Seitenthemas. Die Sologesänge dagegen bedienen sich zumeist der zweiteiligen Arienform, wie sie damals in der komischen Oper Italiens und besonders Frankreichs zu Hause war. Sie lehren deutlich, daß mit der Form auch der Geist der Oper in die Messe einzog. Die anmutige, aber textwidrige Tändelei und den Koloraturenflitter dieser Sätze ist Mozart lange nicht wieder losgeworden. Am schlimmsten wirkt der an Sperontes35 gemahnende Polonäsenrhythmus des "Quoniam", aber auch das "Et incarnatus" ist zu leicht geraten. Es deutet übrigens erstmals bei Mozart auf eine trauliche Szene an der Krippe des Jesuskindes hin. Der Kontrapunkt andererseits löst sich aus seiner engen Verbindung mit dem Homophon-Akkordlichen los und zieht sich auf bestimmte Abschnitte zurück, er erscheint damit nicht mehr als notwendiger Stilbestandteil, sondern als besondere Würze, die dem Komponisten Gelegenheit geben soll, sein Können im strengen Satze darzutun. Seine Hauptdomäne sind die beiden Abschnitte "Cum sancto spiritu" und "Et vitam", in denen nunmehr an Stelle der einmaligen Durchführung des Themas voll ausgeführte Fugen treten. Allerdings hat auch hier das rein Musikalische, Scholastische den Vorrang vor dem Poetischen. Es sind zugleich die einzigen Partien, in denen das Orchester, in der Hauptsache wenigstens, den Gesang einfach begleitet; überall sonst wahrt es streng seine Selbständigkeit und zwar in doppelter Weise. Entweder schlägt es, wie im Allegro des Kyrie, den Ton der gleichzeitigen instrumentalen Gesellschaftsmusik an36, oder es ergänzt und vertieft den Stimmungsausdruck nach dem Vorbild der dramatischen Musik durch Situations- und Seelenmalerei. Während aber jene Methode der Natur der Dinge gemäß zu zwar äußerlich glänzenden, aber innerlich wenig stichhaltigen und den Text bei weitem nicht erschöpfenden Ergebnissen führte, erfuhr die Meßkomposition durch die zweite Art einen wertvollen Zuwachs, der allerdings zugleich auch einen starken Ruck nach der Seite des Dramatischen bedeutete. Man vergleiche dazu das "Qui tollis": seine tiefe Wirkung beruht einerseits auf der grüblerischen Harmonik, andererseits aber auf dem doppelten Begleitmotiv der Streicher, der echt Mozartschen, unaufhörlich herniederrieselnden Sechzehntelfigur und dem zuckenden Achtelmotiv; man beachte auch den durchgehenden echomäßigen Wechsel von f und p. Ganz dramatisch ist auch das "Crucifixus" behandelt, nur der Schluß (bei "passus") greift mit seiner Chromatik auf die ältere Weise zurück. Und vollends im "Sanctus" webt das Orchester einen flimmernden Strahlenschimmer um das Ganze. Sehr lehrreich für die allmähliche Entwicklung des neuen Stiles sind "Benedictus" und "Agnus Dei". Jenes atmet noch nicht jene verklärte Freude an der Erscheinung des Gottgesandten wie seine Nachfolger, ja es macht sogar an einer Stelle Miene,