Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Textes gehende Musikseligkeit der Richtung Hasses, ihre Unterordnung des Poetischen unter das Reinmusikalische, tritt doch noch nicht so grell zutage. Deshalb fehlen auch noch die breit ausgeführten Bilder mit ihren häufigen Textwiederholungen, und damit auch das Streben, die einzelnen Gedanken des Textes in die üblichen musikalischen Formen einzuspannen. Der Aufbau ist kurz und knapp und begnügt sich mit der einmaligen, eindringlichen Wiedergabe der einzelnen Gedanken. Das zweite Merkmal des älteren Stiles ist die große Zurückhaltung des Orchesters. Die erste Messe verstattet ihm den Singstimmen gegenüber kaum eine selbständige Rolle, während die zweite schon in moderneren Bahnen wandelt. Auch daß der Kontrapunkt nicht, wie später, auf bestimmte Stellen beschränkt ist, sondern den ganzen Stil durchdringt, gemahnt noch an die ältere Art, ebenso die Teilung des Chores in zwei konzertierende Gruppen, einzelne Echowirkungen und Baßführungen, wie z.B. im "Benedictus" von K.-V. 65 u. dgl. Mozarts Zugehörigkeit zur alten Schule und seine Anfängerschaft offenbaren sich ferner auch darin, daß er ganz unbekümmert mit erprobtem thematischem Gut arbeitet. So kehrt das alte Thema mit dem verminderten Septimensprung:
das aus Bach und Händel wohlbekannt ist17 und schließlich im "Kyrie" des Requiems erscheint, mit verschiedenen Varianten in diesen Messen wieder, so im "Osanna" von K.-V. 65 (im Baß) und im "Crucifixus" und "Qui cum patre et filio" von K.-V. 49; in dem Fugenthema des "Et vitam venturi saeculi" derselben Messe aber klingt ein aus der ersten Fuge von Bachs Wohltemperiertem Klavier bekannter, uralter Typus (Hexachordthema mit Quartenschritten) nach:
Auch das "Dona" von K.-V. 65 mit seinen zwei gegenläufigen Skalenthemen und dem doppelten Kontrapunkt, das "Miserere" im Gloria von K.-V. 49 mit dem verminderten Sekundenschritt18 und die Chromatik des "Crucifixus" von K.-V. 49 sind Belege dafür, besonders aber das "Benedictus" von K.-V. 65, das mit seinen altertümlichen Bässen, seiner strengen Stimmführung und namentlich seiner herben und ernsten Auffassung nur wenige Nachfolger gefunden hat. An diesem Satz hat Mozart besonders viel gelegen; er hat ihn nicht weniger als viermal bearbeitet19.
Dem Herkommen entsprechen ferner die Verteilung der einzelnen Partien auf Tutti und Solo und namentlich die Grundauffassung sowohl der ganzen Sätze als auch ihrer Unterabschnitte bis in einzelne feststehende Bilder hinein, wie "ascendit", "descendit", "vivos et mortuos" u. dgl. Hierher gehören die dunkle Färbung des "Qui tollis", "Et incarnatus est" und "Agnus Dei", der Fugencharakter des "Et vitam" und "Cum sancto spiritu", der sich in diesen Messen noch auf die einmalige Durchführung des Themas beschränkt, und der bewußte, scharfe Gegensatz des "Crucifixus" und "Et resurrexit". Die Botschaft von der Auferstehung wird hier noch von der kompakten Chormasse mit scharfer Deklamation in jenem ekstatischen Ton verkündet, der der älteren Messe zu eigen ist und dann in Beethovens großer Messe eine grandiose Auferstehung feiert. Endlich sei auch noch die gegensätzliche Zweiteilung des "Agnus Dei" genannt sowie das in beiden Messen zutage tretende Bestreben, bei "Et unam sanctam" in freier Weise motivisch auf frühere Sätze hinzuweisen (in K.-V. 49 auf das "Et resurrexit", in K.-V. 65 auf das "Patrem" und "Et vivificantem"). Es pflegt überhaupt meist übersehen zu werden, wieviel von dem uralten Streben, die Messe motivisch einheitlich zu gestalten, noch in diesen späten Nachzüglern fortlebt. So wird K.-V. 49 von einem Melodietypus beherrscht, dessen Hauptmerkmal das stufenmäßige Ansteigen zur Quart mit folgendem Absinken in die Terz und die Harmonisierung I-(IV)-V-I ist. Die einfachste Form bringt gleich der Beginn des Kyrie:
Ihr folgt unter Benützung des umgekehrten Nebenmotivs b im zweiten Abschnitt gleich die erste Variante:20
Erweitert erscheint es am Beginn des Gloria:
und mit demselben Anlauf vom Grundton aus in den Fugenthemen des "Cum sancto spiritu"21 und "Et vitam":
Ebenso steckt es, bis zum Hexachord erweitert, in dem Thema des "Osanna":
in lapidarer Gestalt mit dem energischen Quartensprung22 im "Et resurrexit"
und mit dem Quintensprung im "Patrem":
Eine Ausdruckssteigerimg erfährt es ferner durch die Erhöhung seiner ersten Hälfte um eine Sext und die Rückkehr vermittels Sextensprungs im "Laudamus te" und "Quoniam tu solus sanctus":
Andere Abschnitte, namentlich die von dunkler und geheimnisvoller Stimmung, werden weniger durch eine gemeinsame Thematik als durch eine sinngemäße Wahl des Tongeschlechts und der Stimmführung miteinander verknüpft, so das "Qui tollis", "Et incarnatus est" und "Agnus Dei" durch die Chromatik und den dadurch erzeugten Ausnahmecharakter der Modulationsordnung.
Auch die d-Moll-Messe baut sich auf zwei solchen melodischen Grundtypen auf. Der eine läßt sich auf die einfachste Form
zurückführen und schließt damit schon einen chromatischen Keim in sich (vgl. Part. S. 3323, 38 Syst. 2; 41, 2 und 3; 42, 2; 44, 2; 46, 1). Der andere stellt eine im Rahmen einer Quart, Quint oder Sext stufenweise absteigende Skala dar. Er verbindet z.B. das "Kyrie" mit dem "Dona":
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Dazu erscheint im "Dona" im Baß gleich die Umkehrung25 in langen Noten, gleich darauf ebenso das ursprüngliche Quartenmotiv mit einem jenem anderen Hauptmotiv entstammenden Kontrapunkt. Auch in den Mittelsätzen ist jenes Skalenthema mit den verschiedensten Varianten am Werke (P.S. 37, 2 [Fugenthema des "Cum sancto spiritu"], 40, 3; 41, 3; 43, 1 ["Et vitam"]); selbst dem "Benedictus" liegt es zugrunde. Was aber dieser Messe noch ein besonders einheitliches Gepräge verleiht, ist die zäh festgehaltene Molltonart, die innerhalb der einzelnen Sätze nur auf ganz kurze Strecken verlassen wird. Selbst "Sanctus" und "Benedictus" machen keine Ausnahme, und nur das Credo hat einen Satz mit Durschluß. Es ist sehr wohl möglich, daß dahinter ein bestimmter äußerer Anlaß, etwa eine Trauerfeier, steckt26.
Im allgemeinen betrachtet ist die zweite Messe bereits um einen Grad moderner als die erste. Das zeigt sich außer in der selbständigeren Beteiligung des Orchesters gleich im Kyrie. Sein rascherer Hauptteil ist in K.-V. 49 einfach durchkomponiert, das Christe zwar modulatorisch leicht abgesetzt27, aber keineswegs als selbständiger Teil, sondern mit dem Kyrie unlöslich verbunden. In K.-V. 65 dagegen hat der Satz bereits die zyklische Dreiteiligkeit mit dem Christe als Mittelteil, nur daß die Worte "Kyrie eleison" nicht mit der Wiederkehr des Anfangs zusammenfallen, sondern schon bei der Überleitung dazu auftauchen. Sonst aber entwickelt sich alles Zug um Zug im engsten Anschluß an den Text, auch in den Sologesängen, die sich von den späteren hauptsächlich durch ein weit größeres Maßhalten in der Koloratur unterscheiden. Im Credo der d-Moll-Messe kommt es sogar vor, daß die Worte "et in spiritum sanctum, dominum – et vivificantem