Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch


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tiefes Knurren rollte der Hexe durch die Kehle. In diesem Augenblick krächzte ihr Rabe, der vom Dach des Hauses zu ihnen herübergeflogen kam, wilder und lauter als je zuvor. E’Cellbra sah zu ihm auf. Als er verstummte, blickte sie zurück zu Tami, die nun schuldbewusst und verängstigt ihre Hände vor den Mund nahm, was ihren besorgten Blick noch unterstrich. Die Hexe hastete an ihr vorbei Richtung Hütte und rief dabei: „Kommt mit rein. Schnell!“

      Nachdem die schwere Holztür mit ihrem gewohnten Knacken und Quietschen laut ins Schloss gefallen war, deutete die Hexe auf zwei Stühle, die am Küchentisch standen. „Setzt euch“, murmelte sie. Die Geschwister taten wie ihnen aufgetragen. Sie selbst blieb vor ihnen stehen, den Kopf dabei halb gesenkt. „Ich weiß, es ist noch viel zu früh“, sie schaute wieder auf, „aber ihr müsst fortgehen. Und zwar so weit weg von hier wie möglich.“ Es war für Dantra das zweite Mal an diesem Tag, dass er eine neue Seite an E’Cellbra kennenlernte. Nach Reue kam nun Traurigkeit hinzu, denn ihr Gesicht und der Klang ihrer Worte ließen diese, auch wenn sie es zu überspielen versuchte, klar erkennen. Im Augenwinkel sah er, dass auch Tami ihren Kopf hängen ließ, sodass ihre langen goldblonden Haare ihr Gesicht verdeckten. Dantra jedoch hatte das Problem, das die beiden anscheinend bereits gefühlsmäßig verarbeiteten, noch gar nicht erkennen können. Daher fragte er leise: „Was ist überhaupt passiert?“

      „Tami war am Heideteich, um Nestelzweige für mich zu schneiden“, erklärte E’Cellbra ihm. „Normalerweise geht niemand von den umliegenden Dörfern so tief in den Wald. Aber gerade heute haben es wohl doch zwei Jäger, vermutlich bei der Verfolgung einer Fährte, gewagt. Und wie es das Schicksal wollte, haben sie Tami dabei entdeckt.“

      „Und?“, fragte Dantra immer noch verunsichert.

      „Nun, wenn sie dir begegnet wären, dann hättest du sagen können: Hallo. Schöner Nachmittag heute. Ich bin bereits eine halbe Ewigkeit unterwegs und habe noch nicht einmal einen Hasen zu Gesicht bekommen. Habt ihr schon etwas erlegen können? Wenn sie aber jemanden wie Tami sehen, und das an so einem Ort, bei so einer Arbeit, dann kann das für sie nur eines bedeuten: Sie ist eine Hexe. Und damit ist sicher, sie kommen zurück. Aber dieses Mal nicht nur zu zweit, sondern mit ihrem halben Dorf im Rücken.“

      Dantra sprang so ruckartig auf, dass sein Stuhl nach hinten umfiel. „Sollen sie doch kommen“, rief er erzürnt, „ich werde sie schon lehren, dass man Tami besser keinem Scheiterhaufen zu nahe kommen lassen sollte, wenn einem der feste Boden unter den Füßen lieb ist.“

      Der Anflug eines Lächelns huschte über das versteinerte Gesicht E’Cellbras. „Setz dich wieder hin“, sagte sie ruhig und deutete dabei auf den Stuhl, der hinter Dantra zum Liegen gekommen war. „Beeindruckende Kampfesrede. Und ja, du könntest ihnen sicher die Stirn bieten. Aber wie lange? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich umzingelt hätten und ein feige abgeschossener Pfeil sich in deinen Rücken bohren würde. Glaubt mir, es ist besser, ihr geht.“

      Tami hob ihren Kopf. Ihr Gesicht war weiß wie ein Leichentuch und ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. Sie deutete zitternd mit ihrem Zeigefinger auf E’Cellbra.

      „Ich?“, fragte diese nur wenig überrascht. „Ich muss hierbleiben. Ich bin zu alt zum Reisen. Aber vertraue mir, ich habe für solche Fälle vorgesorgt. Ich werde mich für einige Zeit unsichtbar machen. Leider vermag die Menge an Vorräten, die ich habe, nur einen und nicht drei so lange zu ernähren, bis man sich hier wieder gefahrlos bewegen kann.“

      Nachdem E’Cellbra Dantra und Tami einen Becher Wasser eingegossen und diesen vor sie hingestellt hatte, riet sie ihnen, beim ersten Morgengrauen aufzubrechen. Den ganzen Abend und die Hälfte der Nacht erklärte sie ihnen, was sie auf ihrer Reise beachten mussten. Es gab unzählige Gefahren und damit auch Gelegenheiten, die falsche Entscheidung zu treffen. Sie berichtete von ihren Erfahrungen, die sie im Laufe vieler Jahre in der Welt da draußen gemacht hatte. Aber vor allem erzählte sie ihnen von einem gar nicht so weit entfernten Ziel, das sie auf ihrer Reise anstreben sollten. „Es gibt eine kleine Insel namens Meridies. Sie liegt etwas weiter draußen, vor der Gehoraen-Küste. Zur Mittagszeit erstreckt sich der Schatten des Insula-Berges, eines längst erloschenen Vulkans, um den sich viele Mythen der alten Tage ranken, über die gesamte Insel. Das gewöhnliche Volk sieht dieses natürlich als schlechtes Omen. Und da es dort ohnehin nicht viel zu holen gibt, ist die Insel auch nicht bewohnt. Zumindest nicht von Menschen, die euch gefährlich werden könnten. Denn sie ist Zuflucht für alle, die nicht in dieser Gesellschaft geduldet werden.“

      Dantra fühlte das erste Mal seit ihrer Rückkehr wieder so etwas wie Hoffnung. Von dem Moment an, als ihm klar wurde, dass sie nicht länger bei E’Cellbra bleiben konnten, kreiste das eine Wort unaufhörlich um alle anderen offenen Fragen: Wohin? Er hatte zwar keine Vorstellung davon, wie weit sie laufen mussten, um diesen Ort zu erreichen, aber das war ihm egal. Wenn Tami dort sicher wäre, würden sie dort hingehen. Ganz egal, wie lange es dauerte oder welche Strapazen diese Reise mit sich bringen würde.

      Nach einer viel zu kurzen Nacht wurden die Geschwister von E’Cellbra geweckt. Sie war hierfür eigens die Treppen in den Keller hinuntergestiegen und hatte sie sanft wach gerüttelt. Dantra bedauerte, dass anscheinend immer erst etwas Unvorhergesehenes passieren musste, damit E’Cellbra ihre stets verborgen gehaltene freundliche Seite zeigte. Nach seinem schaurigen Besuch im schwarzen Baumwald am Tag zuvor hatte er diese zum ersten Mal kennenlernen dürfen und auch jetzt, nachdem ihr Fortgehen in unmittelbare Nähe gerückt war, hatte sie sie wieder gezeigt. Denn für gewöhnlich wurde die Bodenluke von ihr nur kurz angehoben, um ihn mit einem erschreckend lauten Zuruf und einer anschließenden Beleidigung aus seinen Träumen zu reißen. So weit geöffnet, dass man hätte hindurchsteigen können, hatte sie die Luke nur, wenn Dantra nicht sofort aus seinem Tiefschlaf erwacht war. In diesen Fall hatte sie die Luke nämlich mit Schwung von oben herabknallen lassen.

      Es war gut, dass Dantra und Tami nicht viel Kleidung oder andere Habseligkeiten besaßen. So mussten sie nicht entscheiden, was sie zurücklassen würden, um das Gewicht des Gepäcks klein und erträglich zu halten. Nach einem ungewohnt mageren Frühstück waren beide, mit Verpflegung für fünf Tage, ausreichend Wasser und ihren persönlichen Sachen bepackt, abmarschbereit. Mit einem schon fast ausgesprochenen Lebewohl auf den Lippen beobachtete Dantra, dass E’Cellbra noch irgendetwas im hinteren Teil der Küche suchte. Sie kam mit zwei Säckchen in der Hand, die aus dunklem Leder gefertigt waren, zu ihnen zurück. Sie gab Dantra zuerst das größere der beiden und erklärte: „Hier drin habe ich etwas Pulver, das du brauchst, um dir die Goracks vom Leib zu halten. Wenn ihr aus irgendeinem Grund vor den Zerrocks oder irgendeinem anderen Gesindel fliehen müsst, könnte dieses Zeug sehr nützlich sein. Denn in den schwarzen Baumwald hinein verfolgt euch sicher keiner. Sollte es also so weit kommen, dann vermischt das Mittel einfach mit etwas Wasser aus eurem Trinkschlauch. Durch diese letzte Zutat wird es zu der Tinktur, die ihr zur Abwehr braucht. Verteilt diese gleichmäßig auf eurer Kleidung.“ Nun nahm die Hexe Dantras noch freie Hand und drehte sie so, dass die Handfläche nach oben zeigte. Sie ließ aus dem kleineren Säckchen eine Münze in seine Hand fallen. Es war ein Kupferstück mit einer Eins und einem K für Krato darauf. Es war nicht viel, aber auch nicht wenig. Mit etwas Glück reichte es für einen ganzen Laib Brot. Und in jedem Fall war es mehr, als Dantra bis dahin je besessen hatte. „Gebrauche ihn, wenn du ihn brauchst. Doch nutze deinen Verstand, bevor du ihn benutzt“, sagte sie und sah dabei in ein Gesicht, das Bände sprach. „Deine Schwester erklärt dir, was ich meine, wenn es so weit ist. Wir haben vor einiger Zeit schon einmal darüber geredet.“

      Als Dantra das Geldstück zurück in das kleine Säckchen gleiten lassen wollte, das ihm die Hexe ebenfalls in die Hand gelegt hatte, fiel ihm auf, dass auf der Rückseite ein Kelch mit einem Halbkreis am oberen Gefäßrand abgebildet war. Er ließ beide Säckchen in der extra von Tami angenähten Innentasche seiner Jacke verschwinden. Als er erneut aufschaute, stand E’Cellbra bereits wieder vor ihm. Dieses Mal hatte sie jedoch einen Blick aufgesetzt, an dessen Ernsthaftigkeit es keinen Zweifel gab. Sie hielt ein Schwert in ihrer Hand, das in einer kaum drei Finger breiten Scheide steckte. Diese sah aus, als wäre sie vor langer Zeit aus einem Stück Holz gewachsen. Allerdings waren hier und da bereits Moosansätze auf dem ansonsten ungewöhnlich glatt wirkenden, armlangen Holz zu erkennen. In der Mitte, wo man den Klingenschutz


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