Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch

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      *

      Kapitel 5

      Der Wolf führte sie so schnell an, dass die Stimmen und das Hundekläffen schon bald verstummten. Dessen ungeachtet dauerte es dennoch eine gefühlte Ewigkeit, bevor er ihnen die erste Rast gewährte, welche gleichzeitig die einzige in seiner Begleitung sein sollte. Als die Sonne ihren höchsten Punkt gerade überschritten hatte, erreichten sie den Wall. Es war ein für diese Gegend ungewöhnlich breiter Weg, der sich durch den Kampen von Culter nach Lava schlängelte. Er war bereits sehr alt und in besseren Zeiten von so vielen schweren Pferdefuhrwerken befahren worden, dass man an manchen Stellen einen bis zu sechs Fuß hohen Hang hinaufsteigen musste, um in den Wald zu gelangen, der ihn umgab. Dem optischen Vergleich mit einem richtigen Wall konnte er daher schon lange nicht mehr standhalten. Trüge er aber den Namen Graben, so würde jeder, der ihn suchte, sofort wissen, dass er den richtigen Weg gefunden hatte.

      Der Wolf hatte sie verlassen, ohne sie eines Abschiedsblickes zu würdigen. Nun standen sie da. Allein und auf sich gestellt. Die große, weite und oftmals bedrohlich wirkende Welt vor sich. Der schneidende Culterwind schob sich unangenehm an ihren Nacken entlang, bis hin zu ihren Nasenspitzen, die diese Reizung bereits nach kürzester Zeit mit einer leichten Hautrötung sichtbar machten. Die tief stehende Imbersonne blendete sie durch das nur spärlich vorhandene Blätterdach des Weges.

      Dantra wollte den ersten Schritt machen, als Tami ihn am Arm packte und zurückhielt. Sie gab ihm mit ihrer Zeichensprache zu verstehen, was E’Cellbra ihnen geraten hatte. Sie zeigte in den Wald zu ihrer Linken und hielt dann ihre Arme parallel zueinander. Anschließend stellte sie mit Zeige- und Mittelfinger Schritte nach und blickte ihren Bruder erwartungsvoll an.

      „Ja, ich weiß, was sie uns gesagt hat“, antwortete er gelangweilt, „aber wir können doch wenigstens einige Hundert Schritte den Weg entlanggehen. Und wenn es nur für das Gefühl gut ist, dass wir reisen und nicht vor irgendetwas davonlaufen. Und außerdem, was soll schon passieren? Sollen sie doch ruhig versuchen, uns zu überfallen. Ich habe mich so oft im Schwertkampf geübt, dass ich nichts dagegen hätte zu sehen, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hat. Und wenn ich wider Erwarten doch zu schlecht sein sollte, nun, dann bekommen die Angreifer eine Kraft zu spüren, die sie nicht so schnell vergessen werden.“ Er schnalzte mit der Zunge und zwinkerte ihr als Ausdruck seiner Selbstsicherheit zu.

      Dann marschierten sie los. Trotz der ungewohnten Situation, ohne eine bevormundende, führende Hand an seiner Seite unterwegs und damit ganz für sich selbst verantwortlich zu sein, und von diesem kleinen unguten Gefühl in der Magengegend, ob sie den richtigen Weg finden würden, einmal abgesehen, war er bis in die Haarspitzen überglücklich. Nach so vielen Jahren der Fremdbestimmung, die seiner Ansicht nach nicht selten in die bloße Tyrannei abgerutscht war, hatte er nun das Ziel seiner Träume erreicht. Er war frei! Er verspürte ein Verlangen, seine Arme auszubreiten und laut schreiend umherzulaufen. Er wollte dem ganzen Land mitteilen, wie gut er sich in diesen Moment fühlte. Er wollte jeden und alles umarmen, nur weil niemand da war, der ihm das hätte verbieten können. Und es gab nur eines, was ihn davon abhielt: der Gesichtsausdruck seiner Schwester. Das ungewöhnlich strahlende Leuchten in ihren Augen war erloschen. Man konnte in ihrem sonst so seidenglatten Gesicht leichte Sorgenfalten erkennen. Dantra war sich wohl bewusst, dass sie, ganz egal, wie stark er auch geworden war, so viel Angst in sich tragen würde, dass diese für sie beide reichte. Und wenn überhaupt, dann würde die Furcht auch erst schwinden, wenn sie unbehelligt auf Meridies angekommen waren.

      „Tami, nun lach mal wieder.“ Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und zog sie an sich heran. „Wir werden Meridies schon sicher erreichen. Ich pass auf dich auf, versprochen.“ Zu seiner Erleichterung schaffte sie es tatsächlich, ein Lächeln aufblitzen zu lassen.

      Dieses verschwand allerdings so schnell wieder, wie es gekommen war. Sie blieb abrupt stehen und zeigte mit nun noch sorgenvollerem Blick den Weg entlang, der in einiger Entfernung zu einer lang gezogenen Linkskurve ansetzte. Von dort kamen drei Reiter langsam auf sie zu. Tami versuchte, Dantra zur Seite zu drücken. Doch dieser hielt unbeeindruckt dagegen.

      „Was ist denn? Das sind nur drei Reisende wie wir. Anstatt uns zu verstecken, werden wir höflich grüßen, wenn sie an uns vorbeireiten.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und drückte ihren Bruder erneut in Richtung des Sicherheit verheißenden Unterholzes. Doch er bewegte sich nicht einen halben Schritt von der Stelle. „Also gut“, versuchte er sie zu beschwichtigen, „sobald uns die Nächsten entgegenkommen, verstecken wir uns. Aber wenigstens dieses eine Mal möchte ich mein Gefühl von Freiheit ausleben, indem ich mich nicht verkrieche wie ein Hund, dem Prügel drohen.“

      Die Sorgenfalten gruben sich noch tiefer in Tamis Gesicht. Sie zuckte leicht mit den Achseln, zog sich ihren breit gestrickten Schal über den Kopf und verhüllte so nicht nur ihr goldblondes Haar, sondern auch die Hälfte ihres Gesichts. Sie wandte sich mit gesenktem Kopf wieder dem Wegverlauf zu. Dantra wusste nicht genau, wie er ihr Schulterzucken zu deuten hatte. War es Zustimmung oder eher Resignation, da sie genau wusste, dass sie nicht gegen seine Sturheit ankommen würde? Im Grunde war es auch egal. Er straffte seine Schultern, setzte eine Miene auf, die nur so vor Selbstsicherheit strotzte und wohl auch ein wenig elegant wirken sollte. Dann schritt er mit Tami an seiner Seite auf die Reiter zu.

      Je näher sie kamen und je besser Dantra seine Gegenüber, die die Sonne im Rücken hatten, erkennen konnte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass irgendetwas an ihrer ganzen Erscheinung nicht stimmte. Als sie fast auf einer Höhe waren, sah er zu den Reisenden auf und nickte jedem einzeln zu. Er fing mit dem an, der am weitesten von ihm entfernt war, bekam allerdings keine Reaktion. Auch der zweite, der ihn ebenfalls nur abfällig von oben bis unten musterte, erwiderte seinen Gruß nicht. Beim Anblick des dritten Mannes, der direkt neben Dantra vorbeiritt, stockte sein grüßendes Nicken mitten in der Bewegung. Eine Metallplatte, die das Sonnenlicht aus allen Richtungen widerspiegelte, zierte die eine Hälfte seines kahl rasierten Schädels.

      Als die Reiter an ihnen vorbei waren, überschlugen sich Dantras Gedanken fast. „Was waren das für seltsam aussehende Gestalten? Wieso halten sie es nicht einmal für nötig, meinen Gruß zu erwidern? Und was ist es, das an ihnen nicht stimmt?“

      Er blieb so unerwartet stehen, dass Tami, die sich bei ihm eingehakt hatte, leicht zurückgezogen wurde. „Diese Ruhe“, murmelte Dantra vor sich hin. Tamis Blick, den sie ihm aus dem Augenwinkel zuwarf, verriet, dass es auch ihr aufgefallen war. Der weiche Waldboden hatte das Aufsetzen der Pferdehufe dumpf und leise wiedergegeben. Nun war allerdings nichts mehr von ihnen zu hören, und das, obwohl sie doch gerade erst an ihnen vorbeigeritten waren. Dantra drehte seinen Kopf und blickte über seine Schulter zurück.

      Alle drei hatten mit ihren Pferden kehrtgemacht und sahen nun zu ihnen herab. Der mittlere Reiter senkte etwas seinen Kopf und sagte mit überfreundlicher Stimme: „Einen wunderschönen guten Tag, der Herr!“ Dantra wandte sich ihnen zu. Seine Schwester zögerte etwas, tat es ihm aber gleich, wobei sie ihren Blick weiterhin auf ihre Füße richtete. „Weißt du, wo du hier bist?“, fragte er Dantra.

      „Natürlich“, antwortete dieser selbstbewusst. „Wir sind im Kampen, und der Weg heißt Wall. Warum? Habt Ihr Euch verlaufen?“ Ihm fiel selbst auf, dass sein Tonfall nicht gerade freundlich war. Doch er hielt ihn für angebracht, denn er konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Männer ihn für dumm verkaufen wollten. Der Wald war riesig und dennoch gab es Wege wie diesen nur selten.

      „Verlaufen?“ Der Fremde grinste breit und entblößte dabei seine gelbbraunen Zähne, deren beste Zeiten schon lange vorbei waren.

      In diesem Moment bemerkte Dantra, was an ihrer Erscheinung widersprüchlich war. Ihre Kleidung war zum Teil verschmutzt und nicht immer in der passenden Größe, aber dennoch aus edlem Stoff und feinsten Fellen gefertigt. Ihre Gesichter, Hände und Haare allerdings sahen aus, als kennten sie klares Wasser nur vom Hörensagen.

      „Wer verläuft sich in seinem eigenen Zuhause?“, fuhr der Reiter fort und betrachtete Dantra erwartungsvoll.

      „Wieso Zuhause? Ich sehe hier weit und breit kein Haus“, stellte Dantra fest und sah sich dabei eher


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