Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch


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Hinsehen fiel Dantra auf, dass es sich bei dem Klumpen um ein Pferd handelte. Was er zum einen daran erkannte, dass es nach verbrannten Haaren roch, aber vor allem auch an den zwei Hufen, die neben seinem Kopf herabhingen. Sie waren wohl auch der Grund, warum er sein Bewusstsein verloren hatte und erneut eine mächtige Beule seinen Kopf zierte.

      Dantra wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war und wie viel Zeit seit dem Drachenangriff vergangen war. Aber eine Nacht musste dazwischen gelegen haben, sonst wäre er nicht von seinem Albtraum geweckt worden. Da nichts, nicht mal das Zwitschern der Vögel zu hören war, beschloss er, sein stinkendes, ekelerregendes, aber dennoch sicheres Versteck zu verlassen. Mit seiner magischen Kraft katapultierte er das Tier aus dem Loch, wobei er sich bemühte, es schräg zu treffen, damit das Pferd nicht auf dem gleichen Wege erneut auf ihm landete.

      Nachdem das Ross mit einem dumpfen Aufprall irgendwo dort oben seine endgültig letzte Ruhestätte erreicht hatte, kletterte Dantra am Stamm vorbei aus der Grube. Die Luft, die er jetzt atmete, war zwar besser, aber bei Weitem nicht geruchlos. Und der Anblick, der sich ihm bot, stand dem, den er gerade eben bei seinem Erwachen vorgefunden hatte, in nichts nach. Die Erde war noch immer brütend heiß. Auf der gesamten Lichtung war kein grüner Halm mehr zu sehen. Stattdessen stiegen dünne graue Rauchschwaden auf und umhüllten dabei die unzähligen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen und Tierkadaver. Es war ein Bild des Grauens, grotesk und unwirklich, als hätte eine Macht jenseits von Menschlichkeit an diesem Ort gewütet und die verdorbenen Seelen eigenhändig aus den nutzlos gewordenen Körpern herausgebrannt.

      Dantra fiel auf, dass am Rand der Lichtung - ein Stück, das er, als er noch gefesselt gewesen war, nicht hatte einsehen können - einige Hütten gestanden hatten. Auch sie waren zerstört und fast komplett heruntergebrannt, doch immer noch als solche gut zu erkennen. Das war wohl die Erklärung dafür, warum es viel mehr Leichen gab, als er an lebenden Menschen auf der Lichtung zu Gesicht bekommen hatte. Und nicht nur einige, sondern unglaublich viel mehr. „Und ich habe sie umgebracht“, murmelte Dantra, als könnte er es selbst nicht glauben. „Aber sie waren schlechte Menschen. Sie haben anderen Leid zugefügt und schienen dieses auch noch zu genießen. Sie hatten den Tod verdient. Jeder von ihnen.“ Eine gute Entschuldigung für sein Handeln, die ihn auf lange Sicht allerdings nicht zufriedenstellen konnte. Für den Augenblick jedoch waren sein unbändiger Zorn und gleichzeitig das gute Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, so übermächtig, dass sein schreiendes Gewissen nicht dagegen ankam. Aber ein plötzlich aufkommender, winziger Gedankentropfen schwemmte alle diese Überlegungen wie durch eine Flutwelle hinfort.

      Tami!!!

      Schlagartig wurde ihm bewusst, wenn einer den Feuertod verdient hätte, dann wäre es er selbst. Denn er war der Schlechteste von allen! Er hatte seine eigene Schwester getötet. Nicht indem er den Drachenangriff mit seinen Beschimpfungen provoziert hatte, sondern weil er nicht den Weg verlassen wollte, als sie ihn darum gebeten hatte.

      „Aber vielleicht ist sie ja gar nicht tot. Vielleicht hatte sie ebenfalls so viel Glück wie ich.“ Eine Hoffnung, deren Wurzeln in seinem Kummer lagen, die ihn aber dennoch beflügelte. Er rannte mit aufsteigender Nervosität von einem Loch zum anderen. Er rief den Namen seiner Schwester, wohl wissend, dass sie ihm nicht antworten konnte, selbst wenn sie bei Bewusstsein war und ihn hörte, aber mit der Aussicht, dass sie sich vielleicht irgendwo versteckt hielt. Und wenn sie nun seine Stimme vernahm, würde sie sich sicher trauen herauszukommen.

      Er durchsuchte die Hüttenreste und die gesamte Umgebung. Erst grob, dann systematisch und genau. Doch Tami war nirgends zu finden. Nichts. Nicht einmal eine Spur von ihr konnte er ausmachen. Resigniert begann er, mit dem Bestreben, sie wenigstens anständig zu begraben, sich die Leichname genauer anzusehen. Jeden einzelnen untersuchte er nach Anhaltspunkten, die auf Tami hindeuten konnten. Aber es war hoffnungslos. Die einzigen beiden Toten, die er eindeutig erkennen konnte, waren der Zwerg anhand seiner Größe und der Kerl mit der Eisenplatte im Kopf, die nun zwar verformt war, von der aber immer noch eine kleine Lichtspiegelung ausging.

      Enttäuscht, niedergeschlagen und zutiefst traurig verspürte Dantra nur noch den Drang, diesen Ort, der sein Leben von Grund auf verändert hatte, zu verlassen. Sein Schwert, das er beim Suchen nach Tami in einer der Hüttenruinen gefunden hatte, baumelte lieblos befestigt an seinem Gürtel, als er die Lichtung verließ. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, in welche Richtung er gehen sollte, oder einen Blick auf die Karte zu werfen, die von den Banditen unentdeckt immer noch in seiner Jacke eingenäht war, trottete er los. In seinem Kopf durchlebte er noch mal das Geschehene. War es die richtige Entscheidung gewesen, den Drachen zu beleidigen? Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Und vor allem: Hätte Tami genauso gehandelt? Fragen, die unmöglich zu beantworten waren. Fragen, die auch keiner Antwort mehr bedurften. Denn eines war unumstößlich klar: Tami war tot. Seine Schwester. Seine Familie. Sein Zuhause. Unumkehrbar, unwiderruflich und unerträglich fühlbar. Er hatte sie verloren. Für immer.

      In diesem Moment, als ihm das qualvoll Endgültige bewusst wurde, spürte er eine Träne über seine Wange rollen. Er hatte es in seinem Leben nie einfach gehabt, doch konnte er sich nicht erinnern, jemals geweint zu haben. Aber nun, da ein Verdrängen oder gar Leugnen der Geschehnisse unsinnig war und er die grausame Wahrheit akzeptierend an sich heranließ, durchfuhr ihn ein Schmerz, wie er ihn bisher nicht gekannt hatte. Eine Pein, brennend wie Drachenfeuer, stechend, als würden hundert Schwerter ihn durchbohren, und reißend, als würde man ihn vierteilen. Und diese Qual konzentrierte sich nur auf einen Punkt: seiner Seele.

      Nicht selten hatte ihn Schwester Arundel als seelenlos beschimpft. Und es gab Zeiten, in denen er ihr Glauben schenken wollte. Doch hier und heute wurde ihm bitterlich bewusst, wie unrecht sie gehabt hatte. Tief in seinem Innersten war sie verankert. Gefüllt mit Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl. Doch der Verlust von Tami hatte ihm ein Stück seiner Seele genommen und dort eine niemals heilende Wunde hinterlassen. Sie würde bluten und schmerzen, bis ihm selbst der Tod begegnen würde, und auch wenn noch so viel Zeit verstrich, sie würde niemals vollständig heilen. Seine bis zum heutigen Tage ungetrübte Lebensfreude war verschwunden, ausgelöscht wie eine Kerzenflamme im Wind. Er verspürte eine große Leere, die in beängstigende Einsamkeit mündete.

      Er war schon einige Zeit unterwegs, als der Wald lichter wurde und einzelne Felder, bestellt oder frisch gepflügt, die Landschaft durchzogen. Nach zwei überquerten Hügelketten lag eine kleine Stadt in einer lang auslaufenden Senke vor ihm. Als Dantra durch das Stadttor trat, registrierte er weder die Schilder mit der Aufschrift Für Bettler und Landstreicher gibt es hier nur den Pranger! noch die missbilligenden Blicke einiger ihm entgegenkommender Leute. Immer der breitesten Straße folgend, fand er sich bald auf einem großen Platz wieder. Es war Markttag. Was wohl auch ausschlaggebend dafür war, dass ihn noch niemand trotz verschmutzter und alles andere als ordentlich aussehender Kleidung angesprochen oder gar angepöbelt hatte. An solchen Tagen schien man wohl über optische Unpässlichkeiten bei Fremden hinwegzusehen.

      Der Platz war voll von reisenden Händlern, die ihre Ware in den Auslagen präsentierten. Es war ein buntes Treiben, was nun auch Dantra aus seiner Trance holte. Er ging langsam und mit neugierigen Blicken an den zum Kauf angebotenen Sachen vorbei. Es gab Stände mit Kleidung, Schuhen und verschieden großen Decken, aber auch Waffen, Schilde und Rüstungen. Dann wieder meterlange Tische mit Früchten in den verschiedensten Farben und Gemüse von blühender Frische. Auch Fisch, Fleisch, Käse, Eier und Marmelade konnte man käuflich erwerben.

      Hier und da blieb Dantra stehen. Er erinnerte sich daran, wie schlecht das Essen oftmals im Klosterheim gewesen war. Doch selbst mit diesen Köstlichkeiten vor seinen Augen wäre er momentan schon froh gewesen, etwas aus Schwester Cesenas Küche zwischen die Zähne zu bekommen. Nur waren seine Taschen so leer wie sein Magen. Und zu allem Überfluss kam er auch noch an einen Stand mit Bonbons, Zuckerstangen und Honigdrops. Er hatte den Eindruck, als hätte jemand einen Regenbogen vom Himmel geholt, ihn vor ihm ausgebreitet und er dürfe ihn nicht betreten. Für einen kurzen Augenblick befürchtete Dantra, er müsse erneut weinen, hatten ihm doch schon andere Kinder, die nicht im Klosterheim wohnten, so oft von diesem herrlich süßen Geschmack berichtet. Wie er sich paradiesisch, unverwechselbar auf der Zunge ausbreitete. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, kam es hin und wieder vor, dass ein Händler dieser Art seine Ware zum Verkauf


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