Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben. Rolf Rojek
aber da drüben, da an der Straßenbahnhaltestelle stehen meine Kumpels. Und die wollen jetzt zum Pokalspiel nach Köln fahren …«
Tatsächlich standen an der Haltestelle „Hugobahn“ in Gelsenkirchen-Beckhausen über 20 Schalker in Trikots und königsblauen T-Shirts. Alle trugen selbstgestrickte Schals um den Hals, einige hatten blau-weiße Fahnen, damals noch ohne Vereinslogo, bei sich und warteten singend auf die Straßenbahn. Alle Versuche von meinem Freund Horst und vom Taxifahrer, mich vom Aussteigen abzuhalten, blieben erfolglos. Ich quälte mich mit meinen Krücken und dem Gipsbein aus dem Taxi und humpelte rüber zu meinen Kumpels, die mich freudig begrüßten. Das freudig begrüßen hieß damals bei uns, von jedem Kumpel einen großen Schluck aus der Flasche zu nehmen. Und das war eine verdammt harte Prüfung: Zu der Zeit war es bei uns üblich, dass wir uns vor jeder Auswärtsfahrt den billigsten Korn gekauft und fast eins zu eins mit Cola gemixt haben. Kein Wunder, dass meine Schmerzen im Knie schnell verschwanden und ich die Krücken nur noch unter dem Arm hielt.
Gehverbot hin, Gipsbein her. Natürlich bin ich mit meinen Kumpels zum Pokalspiel nach Köln gefahren und habe singend, hüpfend und trinkend im Schalke-Block gestanden. All das ging auch richtig gut mit Cola-Korn. Als sich die Schmerzen im Knie irgendwann aber trotzdem wieder bemerkbar machten, fielen mir die zwei Schmerztabletten aus dem Krankenhaus ein, die ich in der Tasche hatte. Die sollte ich doch nur bei starken Schmerzen nehmen, also jetzt. Ich warf mir direkt beide Tabletten auf einmal ein und spülte diese mit einem ordentlichen Schluck Cola-Korn runter. Und weg waren die Schmerzen …
In der 15. Minute kannte meine Glückseligkeit keine Grenzen mehr, da Klaus Fischer das 1:0 für unsere Schalker erzielte. Na gut, am Ende des Spiels mussten wir eine böse 1:4 Klatsche hinnehmen. Mit meinen Krücken unter dem Arm ging es wieder zurück nach Gelsenkirchen. Wir hatten alle noch ein wenig Hoffnung auf das Rückspiel in zehn Tagen. Es war noch nicht das Aus für Schalke, für mein Knie schon.
Drei Tage nach dem Pokal-Fight, also an einem Freitag, musste ich wieder ins Krankenhaus Bergmannsheil. Mein Knie schmerzte höllisch. Die Schwester, die mir den Gips entfernte, schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Pfleger, die mir den Gipsverband angelegt hatten. »Wie konnten die beiden das nur so einen stümperhaften anlegen«, meckerte sie. »Der ist ja überall gebrochen! Was haben die beiden da für einen Scheiß gemacht?« Ich ließ sie einfach weiter schimpfen, denn sie wusste ja nichts von meinem Ausflug nach Köln …
Als der Gips ab war, kam auch schon der Doc ins Behandlungszimmer. Er schaute verwundert auf mein Knie, dass wieder dick angeschwollen war. Er tastete es ab und fragte mich, ob ich es stark belastet hätte. Ich schluckte. »Naja, ich bin nicht mehr als unsere Spieler in Köln gelaufen«, sagte ich. Daraufhin lachten der Doc und die Schwester laut, ich aber auch.
Mein linkes Knie ist seitdem kaputt. Noch heute habe ich große Probleme damit und bei den letzten Untersuchungen stellte sich heraus, dass an dem Knie eigentlich nichts mehr so richtig funktioniert. Aber ehrlich, wen hat das früher schon gestört, was später einmal ist. Schon damals zählte für viele wie mich, dass nichts wichtiger sein darf als Schalke. Schalke, wir leben dich …
Das Rückspiel im DFB-Pokal gegen Köln war am Samstag, 10. Juni 1972. Ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Die Glückauf Kampfbahn platzte aus allen Nähten, mehr als 35.000 Zuschauern kamen zu diesem Spiel, obwohl der Vorstand von Schalke einen Topspielzuschlag verlangte. Die teuerste Karte kostete damals satte 25 Mark. Natürlich machten wir uns alle gegenseitig Mut. »Wir packen das. Hopp, hopp, hopp – heut schlachten wir den Ziegenbock!« Aber uns war auch klar, dass der Tabellenvierte aus Köln guten Fußball spielen kann und die Geißböcke würden den 4:1 Vorsprung aus dem Hinspiel mit allen Mitteln verteidigen.
Da damals die auswärts geschossenen Tore nicht doppelt zählten, war die Rechnung für dieses Spiel einfach: Wir müssten mindestens ein Ergebnis mit drei Toren Unterschied erzielen, um wenigstens in die Verlängerung zu gehen. Vier Tore Unterschied wäre der Einzug ins DFB-Pokalfinale. Es wurde das verrückteste und spannendste Spiel, das ich je auf Schalke gesehen habe. Schalke legte direkt zu Beginn los, wie die Feuerwehr und führte nach Toren von Fischer (14.), Rüssmann (32.) und Scheer (41.) schon mit 3:0. Wir hatten damit das Ergebnis aus dem Hinspiel ausgeglichen. Die Kampfbahn bebte und die Zuschauer in der Nordkurve schrien sich die blau-weiße Seele aus dem Leib. Doch nur eine Minute später wurden wir aus den Träumen gerissen und Löhr traf zum 3:1. Die Kölner waren jetzt wieder im Finale, aber es kam noch schlimmer. In der 52. Minute versenkte Löhr einen Elfmeter zum 3:2 und viele Schalker dachten, das sei das Ende. Als dann auch noch Klaus Beverungen zehn Minuten vor Abpfiff den Elfer für uns nicht verwandelte, gingen die ersten Zuschauer bereits aus dem Stadion. Auch ich hätte heulen können …
Doch in der 85. Minute zeigte der Schiedsrichter erneut auf den Punkt, es gab wieder einen Elfer für uns. Diesmal schnappte sich Helmut Kremers den Ball und versenkte ihn zum 4:2. »Jaaaaa!« Plötzlich tobte die Glückauf Kampfbahn und die Fans hatten wieder Hoffnung, wie die Mannschaft wohl auch. Die Knappen kämpften und grätschten, was das Zeug hielt, sie schlugen jeden Ball unermüdlich in den Kölner Strafraum, aber die Kugel wollte einfach nicht reingehen. Hinzu verzögerten die Kölner das Spiel so, wie wir es eigentlich nur von den italienischen Mannschaften kannten. Der Schiri konnte nicht anders und entschied für eine Nachspielzeit von 5 Minuten. 5 Minuten, noch gab es eine Chance.
Mit einer sagenhaften Unterstützung der Fans rollte Angriff auf Angriff auf das Kölner Tor. Aber die Sekunden verflogen und es kam der letzte Angriff der Schalker. Als der Schiedsrichter gerade abpfeifen wollte, wurde Rolli Rüssmann im Strafraum umgerissen. Elfmeter für Schalke! Die Kampfbahn bebte und bebte …
Helmut Kremers läuft an, schießt und trifft zum 5:2. Verlängerung!
Meine Kumpels und ich hielten es in der Kurve nicht mehr aus. Wir öffneten die kleine Tür im Zaun in der Nordkurve und stürmten in den Innenraum, gefolgt von hunderten Schalkern. Ich war auf dem Platz, mit meiner großen Schalke-Fahne und zum Glück ohne Gips – der wurde zwei Tage vor dem Spiel abgenommen. Die Verlängerung wurde angepfiffen.
Als nur noch zehn Minuten zu spielen waren, gab der Schiedsrichter den fünften Elfmeter in diesem Spiel, diesmal wieder für die Kölner. Wir waren entsetzt, das war es dann wohl für Schalke. Biskup läuft an und Norbert Nigbur pariert. »Schaaaaaaalke, Schaaaaaaaaaaaaaaaalke!« Wir lagen uns in den Armen. Schalke war im Elfmeterschießen! Und weiter ging es.
Wir Fans standen gequetscht hinter dem Tor sowie rechts und links davon am Strafraum. Auch ich stand dort mit meiner großen blau-weißen Fahne. Ich sah die durchschwitzen Trikots der Spieler, ich sah die Schweißperlen und die Anspannung in ihren Gesichtern. Auch ich war angespannt und musste pinkeln. Aber jetzt? Unmöglich! Los ging das Elfmeterschießen.
Bei den Kölnern verschossen Overath und Glowacz, bei Schalke Libuda und zum zweiten Mal in diesem Spiel Beverungen. So ging es die ganze Zeit hin und her. Mal sind in diesem spannenden Spiel die Kölner so gut wie weiter, mal Schalke. Bis zum Elfmeter Nummer 21! Der 21. Elfmeter wird vom Kölner Cullmann an den Pfosten geballert und Schalke zieht ins Pokalfinale 1972 in Hannover gegen die roten Teufel aus Kaiserslautern ein. Die Stimmung in der Glückauf Kampfbahn kochte über. »Finaaaale!« Ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Ich war dabei!
»Manche Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich kann Ihnen versichern, es ist sehr viel wichtiger.«
(Bill Shankly)
1972 – Schalke wird Herbstmeister und ich erlebe mein zweites Finale.
Am Samstag, den 11. Dezember 1971, waren die Bayern zu Gast in Gelsenkirchen und die Glückauf Kampfbahn war, wie immer zu diesem „Top-Spiel“, restlos ausverkauft. Kein Wunder, wir waren am letzten Spieltag mit 26:6 Punkten, also mit einem Punkt Vorsprung vor den Bayern, Tabellenführer. Wir brauchten daher nur ein Unentschieden, um Herbstmeister zu werden.
Bis zur Halbzeit sah es ganz gut für uns aus, wir kämpften und versteckten uns nicht vor den Bayern. Somit ging es verdient mit einem 0:0 in die Halbzeit. Die Stimmung war gut und die Fans standen wie eine Eins hinter der Mannschaft. Dann kam die 77. Minute und Heinz van Haaren schoss das goldene Tor zum 1:0 für Schalke. Die Glückauf Kampfbahn