Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben. Rolf Rojek

Eine Blau-Weisse Autobiografie


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gab es in der Kurve neben den normalen Fahnen auch viele besonders große Fahnen, so wie meine. Dennoch konnte man noch nicht von einem „blau-weißen Fahnenmeer“ sprechen. Egal. Ich war immer mittendrin, statt nur dabei.

      Ich erinnere mich noch so genau an dieses Spiel, da vor mir in der Nordkurve zwei hübsche Mädels standen, die mir vorher noch nie aufgefallen sind. Mein Freund Ralle und ich haben den Torjubel sowie den Abpfiff zum Herbstmeister genutzt, um die Mädels zu umarmen, und zwar länger als sonst üblich. Sollte ich an diesem Tag etwa nicht nur Herbstmeister werden, sondern auch meine erste feste Freundin finden? Mir gefielen beide Mädels, Ulla mit den langen blonden Haaren und die kühle Susanne. Bei Ralle und Susanne hatte der Torjubel wohl Wirkung gezeigt, bei Ulla und mir leider nicht. Somit habe ich Ulla schnell vergessen, die Herbstmeisterschaft aber nicht …

      Ich liebte die Nordkurve, die früher überhaupt nicht mit heute zu vergleichen war. Es gab weder Fangruppierungen, keinen Capo und nur wenige Fan-Clubs. Nichts war geplant oder organisiert, die Stimmung sprang mit dem Funken der Mannschaft auf die Fans über. Jeder hat gesungen, was und wie er wollte. Es kam daher öfters vor, dass verschiedene Lieder aus unterschiedlichen Richtungen gesungen wurden. Das Lied der lauteren Gruppe wurde dann von allen anderen übernommen.

      Die Auswärtsfahrten mit Schalke waren immer wie ein Überraschungsei: Ein bisschen Spiel, ein bisschen Spaß und ganz viel Spannung. Denn meist hast man erst im Bus erfahren, wer aus der Nordkurve auf der Fahrt mit dabei war. Die Busfahrkarten haben wir uns immer im Reisebüro Laska gekauft. Es gab keine Anmeldelisten, wer zuerst kam, war dabei.

      Natürlich gab es auch früher schon Sonderfahrten mit dem Zug, die waren für uns Fans mit den großen Fahnen jedoch ganz schön gefährlich. Denn selbst wenn wir unsere Fahnenstangen in der Mitte teilen konnten, waren diese immer noch 2,5 bis 3 Meter lang. Die Bahnangestellten machten daher jedes Mal drei Kreuze, wenn wir mit dem Zug verschwunden waren. Die Sorge der Angestellten war groß, dass wir mit unseren langen Fahnenstangen an die Oberleitung kommen.

      Aber auch beim Einstieg gab es oft Probleme, da die langen Fahnenstangen durch die Fenster in den Zug gereicht werden mussten. Wenn Hunderte von Fans auf dem Bahngleis drängeln, während andere mit ihren langen Fahnenstangen rumhampeln, wird es schnell stressig und so manche Zugscheibe ging zu Bruch.

      Vor der Abfahrt in Gelsenkirchen sind wir oft in das WEKA (Westfälisches Kaufhaus) gegangen und haben uns mit einem Stauder Bier für 0,40 Pfennig eine Erfrischung gegönnt. Das war jedes Mal ein großes Schauspiel, wenn 150 bis 200 Schalke-Fans singend mit ihren Fahnen die Rolltreppe in die vierte Etage gefahren sind. Während die ersten Fans ihr Bier schon ausgetrunken hatten, standen die letzten Schalker noch immer unten an der Rolltreppe.

      Ich glaube schon, dass meine Kumpels und ich so etwas ähnliches wie „Anführer“ der Nordkurve waren, auch wenn es keine organisierten Strukturen gab. Wenn ich mit Ralle, Harry, Wowo und meinen anderen Freunden irgendwo hingegangen bin, folgten uns fast alle. Ohne jemals mit meinen Jungs darüber gesprochen zu haben, denke ich, dass Ralle unser „Anführer“ war.

      Ralle hatte eine große Klappe, liebte Auseinandersetzungen und legte sich daher auch gerne mit den Ordnungskräften an. Natürlich gab es viele „gefährliche“ Situationen, in die wir reingeraten sind. Manchmal, weil wir „die anderen“ suchten, häufig aber auch, weil „die anderen“ sich auf die Suche nach uns machten. Es wurden hin und wieder auch Backpfeifen verteilt und nicht immer sahen wir bei diesen Begegnungen gut aus. Aber wir haben zusammengehalten, und zwar immer. Nicht nur wenn es brenzlig wurde, sondern auch, wenn einer von uns Hilfe benötigte.

      Am 28. Juni ging es, drei Tage nach meinem 18. Geburtstag, mit dem Sonderzug nach München. Die Bayern hatten nur einen Punkt Vorsprung, sodass wir das Spiel gewinnen mussten. Haben wir aber nicht. Wir haben fürchterlich einen auf den Arsch bekommen und 5:1 verloren. Somit hat die Herbstmeisterschaft leider nicht gereicht, um am Ende der Saison Meister zu werden. Die Bayern schnappten sich den Titel mit drei Punkten Vorsprung. In großer Trauer sind wir als Vizemeister jedoch nicht verfallen. Denn kaum aus München zurück, mussten wir am Samstag (1. Juli) gleich weiter zum Pokalfinale nach Hannover, der 1. FC Kaiserslautern war unser Gegner.

      An diesem Samstag fuhr ich morgens mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, meine große Fahne war selbstverständlich dabei. Dort empfingen mich meine Freunde wie immer mit lauten Gesängen. Der Frust von München war spätestens jetzt bei allen vergessen. Wir wollten auf den Bahnsteig gehen, als ich merkte, dass mein Portemonnaie weg ist. Ausweis, Zugfahrkarte und Eintrittskarte sowie mein gesamtes Bargeld, alles war weg. Aber in diesem Moment zeigte sich wieder einmal, wie schön es ist, wenn man gute Freunde hat. Es wurde nicht lange diskutiert und meine Freunde griffen in die Tasche, legten das Geld zusammen und kauften mir eine Fahrkarte und später in Hannover sogar noch die Eintrittskarte. Bratwurst und Bier brauchte ich an diesem Tag auch nicht bezahlen. Ja, meine Freunde und ich haben immer zusammengehalten und alles gemeinsam durchgestanden. Es war eine schöne und wilde Zeit, die ich nicht missen möchte.

      Das Finale haben die Schalker souverän mit 5:0 gewonnen, die Tore schossen Helmut Kremers (15., 82.), Klaus Scheer (20.), Herbert Lütkebohmert (57.) und Klaus Fischer (66.). Nach dem verpatzten Pokalfinale 1969, bei dem ich aufgrund von Windpocken das Spiel am Radio im Bett verfolgen musste, war dies nun mein erstes Pokalfinale „live im Stadion“. Und es sollte nicht das letzte bleiben.

      Drei Tage nach dem Pokalsieg habe ich mich bei der Bundeswehr als Zeitsoldat beworben. Am 1. Oktober 1972 begann meine Dienstzeit und der Kontakt zu meinen Freunden wurde leider immer weniger. Natürlich haben wir uns in den folgenden Monaten noch regelmäßig in der Kurve getroffen. Aber wie es im Leben meistens ist, die gemeinsamen Zeiten werden im Alter weniger und irgendwann trennen sich die Wege oftmals sogar für immer.

      Die kühle Susanne aus der Nordkurve ist die einzige, mit der ich heute noch ein wenig Kontakt über Facebook habe. Und das freut mich sehr. Immer wenn ich etwas von ihr höre, denke ich an die alten Zeiten zurück, als Rolli noch ein richtig verrückter Schalker war, der mit seinen Jungs loszog …

      »Ich bin in einem Alter, in dem man Jugendsünden gestehen sollte, bevor man sie vergisst.«

      (Ephraim Kishon)

      Welcher Mann träumt nicht davon, ein Zimmer in seinem Vereinslokal zu haben? Ja, genau dort war meine erste eigene Bude. Ich wohnte über dem Vereinslokal von Beckhausen 05, „Der Sportplatz “, ganze 400 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, mir eine eigene Wohnung zu nehmen. Aber da ich sowieso immer einer der letzten Gäste in unserem Vereinslokal war, glaubte eh jeder, dass ich in der Kneipe wohnte.

      Meine Wirtin Gudrun war 24 Jahre jung und seit sechs Jahren mit Wolfgang verheiratet, die beiden hatten einen dreijährigen Sohn namens Thomas. Ich hatte von Anfang an sehr guten und engen Kontakt zu Gudrun. Nicht mehr, nicht weniger. Sie war meine Wirtin. Unabhängig davon stand ich eher auf Mädels mit langen blonden Haaren, ohne Brille und ohne Sommersprossen. Gudrun hatte zwar keine Brille, aber sie hatte kleine Sommersprossen und sie war nun einmal nicht blond. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Sommersprossen niedlich aussahen, spielte das keine Rolle, denn Gudrun war meine Wirtin. Aber wir fanden uns sympathisch, verstanden uns ausgezeichnet und vertrauten uns immer und überall.

      Neben der Gaststätte befand sich die Pächterwohnung im Erdgeschoss. Zu dieser Wohnung gehörte noch ein weiterer Raum, der jedoch nie benutzt wurde. Er befand sich nämlich in der dritten Etage unter dem Dach. Das Zimmer war vielleicht 15 qm groß und hatte nur ein Waschbecken, sonst nichts. Daneben war der Dachboden, in dem die sieben Mietparteien ihre Wäsche trockneten.

      Als ich eines Morgens, nach einer durchzechten Nacht im Vereinslokal, gefragt wurde, wann ich nach Hause gegangen wäre, antwortete meine Wirtin Gudrun: »Wie immer. Rolli war der Letzte. Er kann hier wirklich bald einziehen.« Alle lachten und ich sagte: »Genau, und morgens komme ich dann immer zum Frühstücken zu euch nach unten« und wir alle hatten unseren Spaß. Es konnte ja auch niemand damit rechnen, dass aus dem Spaß schon am anderen Tag Ernst wird.

      Und so kam der andere Tag. Wie immer haben wir uns vor den Heimspielen im Vereinslokal


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