Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben. Rolf Rojek
keiner etwas davon erfahren.
Der Abend in unserem Vereinslokal wurde lang, sehr lang. Ich wollte einfach nicht mehr weg von Gudrun. Aber irgendwann gegen 2:00 Uhr war Feierabend. Wie meistens konnte ich den Deckel nicht bezahlen, aber bei meiner Wirtin hatte ich unbegrenzten Kredit. Somit kam der Deckel zu den anderen. Ich glaube, alle Deckel im Vereinslokal zusammengerechnet würden ausreichen, um mindestens zwei Monatspachten zu bezahlen. In dieser Nacht konnte ich gut schlafen, das lag mit Sicherheit auch am großen Alkoholkonsum. Aber trotzdem wurde ich um 7:00 Uhr durch das Klingeln meines Weckers aus dem Schlaf gerissen. So gut es ging, bereitete ich mich auf mein Gespräch mit Gudrun vor.
Was sage ich ihr? Wie sage ich es ihr? Wie wird sie reagieren? Fragen über Fragen, aber nun gab es kein Zurück mehr. Männer müssen das tun, was sie tun müssen. Um 9:00 Uhr wartete ich in meinem FIAT 500 am Marktplatz in Beckhausen auf Gudrun. Zäh wie flüssiger Honig zogen die Minuten dahin. Ich überlegte ernsthaft zu flüchten, aber das habe ich bisher noch nie getan. Aber ich grübelte. Mein Gott wie dumm bin ich. Gudrun war zweieinhalb Jahre älter als ich, sie hatte einen Sohn und einen Mann, mit dem sie schon sieben Jahre verheiratet war. Sie war selbständig und führte wahrscheinlich ein zufriedenes Leben. Was soll ich ihr sagen? Ehrlich, ich hatte Köttel in der Hose. Ich überlegte, noch einmal zu verschwinden, aber es war zu spät. Gudrun kam mit wippenden Schritten über den Marktplatz auf meinen Wagen zu, öffnete die Tür und setzte sich. Nun gab es kein Zurück mehr.
Und jetzt? Was sage ich? Oh mein Gott, bin ich doof. Es gab kaum Zeit zum Nachdenken. »Na, wie kann ich dir helfen?« fragte sie. Indem du mich in den Arm nimmst und küsst, dachte ich und umklammerte mit meinen schwitzenden Händen krampfhaft das kleine Lenkrad. Und so machte ich das, was ich eigentlich immer mache. Ich sagte, was ich dachte und fühlte. »Gudrun, ich kann nicht mehr richtig arbeiten.« Sie fragte »Warum?«, und ich antwortete, »Weil ich immer nur an dich denken muss. Egal was ich mache, egal was passiert, ich denke immer nur an dich.«
Jetzt war es raus und ich stellte mich auf das Schlimmste ein. Jetzt wird sie mich anschreien und beschimpfen. Sie wird schreiend aus dem Auto stürzen, zu ihrem Wolfgang rennen und ihm alles erzählen. Oder sie wird mir eine scheuern. Aber nichts davon geschah. Es war mucksmäuschenstill im Auto. Schweigend saßen wir nebeneinander, die Blicke stur geradeaus. Nur unsere Atemzüge waren zu hören. Ich sagte nichts mehr. Gudrun sagte nichts mehr. In Liebesfilmen passiert so etwas nie und ich wollte am liebsten sagen, dass alles nur ein Scherz war. Aber nichts geschah. Wir blieben beide stumm und bewegungslos im Auto sitzen. Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi und ich dachte daran, dass heute das Spiel gegen Berlin ist … Keine Ahnung, ob das der Grund war, weshalb ich die Stille mit den Worten »Darf ich dir ein Kuss geben?« unterbrach, aber genau das tat ich. Und ja, ich durfte sie küssen.
Zwei Stunden später saß ich in meinem Schalke-Outfit vor der Theke meiner Wirtin Gudrun, die große Fahne lehnte an der Wand und ich trank mein Alt mit Schuss. Schalke hatte an diesem Tag nicht für mich gespielt, denn es reichte nur für ein 2:2 vor knapp 20.000 Zuschauern im Parkstadion. Gede machte das 1:0 in der 44. und Klaus Fischer das 2:0 in der 52.Minute. Aber das war mir an diesem Tag sowas von egal. Ich hatte gewonnen, ich hatte Gudruns Herz gewonnen!
Das Vereinslokal war nach dem Spiel wie immer rappelvoll und Gudrun und ihre beiden Helfer hatten alle Hände voll zu tun, um die durstigen Kehlen der Gäste zu löschen. Doch immer wieder suchte ich heimlich den Körperkontakt zu ihr. Bei jedem Glas Alt mit Schuss, dass sie mir reichte, streiften sich unsere Hände. Immer wieder gab es heimliche Berührungen, wenn sich unsere Wege kreuzten. Irgendwann zu fortgeschrittener Stunde habe ich meinen ersten und einzigen Liebesbrief geschrieben. Auf einem Bierdeckel auf der Toilette schrieb ich die berühmten drei Worte Ich liebe dich! Romantisch, oder nicht? Es wurde noch romantischer: Bei der großen Hektik im Lokal konnte ich Gudrun den „Liebesdeckel“ unauffällig zustecken. Sie las die Zeilen, lächelte mir zu und versteckte den Deckel in dem großen Stapel unbezahlter Deckel. Dort wollte sie ihn später heimlich wieder herausholen und verschwinden lassen. Wollte sie, dabei ist es auch geblieben …
In den folgenden Tagen telefonierten wir viel und lange miteinander. Mich beschäftigte die ganze Zeit nur eine Frage: Wie geht es weiter? Und nach 14 wundervollen Tagen, wie sie nur Verliebte erleben können, stellte ich meiner Gudrun nun diese Frage. »Wie geht es weiter?«
Ich war dafür, offen und ehrlich zu sein und loszustürmen. »Sag es Wolfgang. Egal was passiert, ich bin bei dir.« Gudrun stimmte zu. Sie wollte es Wolfgang im richtigen Augenblick erklären. Aber wie es nun einmal mit dem richtigen Augenblick ist, er ist nie da! Es verging eine Woche, es verging die nächste Woche, und der richtige Augenblick war immer noch nicht gekommen. Mir war schon bewusst, wie schwierig die Situation für Gudrun war. Sie lebte in ihrer eigenen Wohnung, führte allein eine gutgehende Gaststätte und hatte ein Kind mit ihrem Mann Wolfgang. Und jetzt soll sie auf einmal alles aufgeben? Für was? Für den ersten Kuss im Auto oder für ein paar geheime Liebesstunden? Alles aufgeben für einen jungen, verrückten Schalker? ging es mir durch den Kopf.
Ja, es war schwer zu verstehen, wie es in Gudrun aussah. Aber auch für mich war es eine schwere Entscheidung. Bin ich schuld, dass eine Ehe zerbrochen ist? Wie muss sich der Sohn, der kleine Thomas fühlen? Kann ich überhaupt in einer Beziehung leben? Bisher hatte ich noch keine richtige Beziehung. Aber versucht einmal zwei Liebenden mit vernünftigen Argumenten zu kommen. Verliebte können und wissen alles. Dumm, aber verliebt, wollte ich so schnell wie möglich klare Verhältnisse schaffen.
Drei Wochen später, am 2. April 1976, spielte Schalke zu Hause gegen Karlsruhe. Bevor ich mich mit meinen Freunden auf den Weg zum Parkstadion machte, nahm ich Gudrun noch einmal das Versprechen ab, dass sie heute endlich mit Wolfgang sprechen wolle. Das Spiel endete 6:2 für Schalke und Klaus Fischer schaffte in der ersten Halbzeit einen lupenreinen Hattrick. Voller Glückshormone kam ich also nach dem Spiel in unserem Vereinslokal an. »Hast du was gesagt?« war meine erste Frage an Gudrun. Sie schüttelte nur den Kopf. Die Kneipe füllte sich und Gudrun kam langsam ins Schwitzen. Nach zwei Alt mit Schuss ging ich hinter die Theke, fragte Gudrun, ob Wolfgang hinten in der Wohnung ist. Sie nickte. Ich ging durch die Küche in die Pächterwohnung und sah Wolfgang auf der Couch sitzen, der sich die Sportschau anschaute. Er schaute nur einmal kurz hoch und sagte mit leiser Stimme zu mir, fast so als ob er schon etwas ahnte »Hallo Rolf, gibt’s was?« Und dann verlief das Gespräch in etwa so:
»Liebst du Gudrun noch?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Wolfgang.
»Sie liebt dich aber nicht mehr«, sagte ich darauf.
Er fragte »Warum?«
»Na weil sie mich liebt!«
Es folgte eine Pause.
»Dann musst du aber oben ausziehen«, waren seine Worte.
Und ein kurzes »Mach ich. Tschüss!« gab es als Antwort von mir.
Ich drehte mich um, ging durch die Küche, nahm meine Gudrun an die Hand und zog sie vom Zapfhahn weg. Wir gingen aus der Gaststätte und ließen die verdutzten Gäste zurück. Natürlich habe ich meinen Deckel bei Wolfgang nicht mehr bezahlt, das hat später Gudrun übernommen. Er hat später irgendwann übrigens auch meinen „Liebesdeckel“ an Gudrun gefunden.
Noch heute erzähle ich unsere „Liebesgeschichte“ so: Eines Tages kam Gudrun zu mir und sagte »Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du bezahlst deinen Deckel oder du heiratest mich.« Nachdem ich die Summe auf meinem Deckel gesehen habe, war meine Antwort klar: »Ok, wann hast du Zeit?« Manchmal glaube ich, meinen Deckel von damals hat sie bestimmt noch immer irgendwo versteckt, für alle Fälle …
Bei uns ist danach alles ziemlich schnell gegangen. Am 13. März 1976 gab es die Liebeserklärung, am 2. April 1976 holte ich Gudrun aus der Wohnung und 146 Tage später, am 26. August 1976, haben wir uns in Münster das Ja-Wort gegeben. Und heute sind wir 43 Jahre glücklich verheiratet.
»Es muss vom Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.«
(Johann Wolfgang von Goethe)
1976 – Unsere erste gemeinsame Wohnung.