Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
ist, was mich die letzten siebenhundert beschissenen Jahre aufrecht gehalten hat?«, fuhr er sie mit zusammengepressten Zähnen an. Sie konnten noch nicht lange in Gefangenschaft sein. Es fehlte ihnen … Tyran wusste eigentlich gar nicht, was es war. Ein merkwürdiger Ausdruck in den Augen, den nur hatte, wer in den Abgrund Shaylas geblickt hatte.
Asbjorn kratzte sich die rasierte Schläfe und schob sein Haupthaar auf die andere Seite des Scheitels.
»Wir können uns vorstellen, dass die vergangenen Jahrhunderte für dich ein …«
»Einen Scheißdreck könnt ihr euch vorstellen«, knurrte Tyran, stopfte den Verschluss wieder in den Trinkbeutel und warf ihn zurück zu seinem Cousin. Er wollte nicht ungerecht sein, wirklich nicht. Aber zu wissen, dass wenigstens ein paar Mitglieder seiner Familie ein normales Leben führen konnten … sich vorzustellen, ihnen eines Tages nach dem Ende dieses Alptraums wieder zu begegnen … etwas Besseres gab es nicht.
»Hör uns erst mal zu, Tyr«, unterbrach ihn Ragnal und pflückte eine lose hellgraue Feder aus seinem rechten Flügel. Er drehte sie spielerisch zwischen den Fingern. »Wir sind nicht gefangen genommen worden.«
»Na ja«, ging Asbjorn dazwischen, »eigentlich schon.«
»Ja, also, dieser shaylische pockennarbige Drecksack hat uns inhaftiert, als eins unserer Verstecke aufgeflogen ist. Aber – und das ist der Punkt – genau so war es von uns geplant.«
Tyran wischte die Spur des Regenwassers von seinem Gesicht und stützte anschließend das Kinn in seine Hände, die Ellenbogen auf den Knien aufsetzend.
»Ihr habt euch freiwillig ergreifen lassen?«, wiederholte er.
Asbjorn nickte.
»Keine Ahnung, wie viel du in der Hauptstadt mitbekommen hast. Aber es gibt in dem von Wind’s Peak aus kontrollierten Teil von Askyan noch immer einen starken Widerstand.« Asbjorns Augen begannen mit einer derartigen Selbstverständlichkeit zu leuchten, dass Tyran für einen Moment das Regenwetter vergaß.
Widerstand.
Man hörte immer wieder von Marionetten, die nicht ganz nach den Wünschen von Königin Lamia tanzten, oder von einzelnen Rebellengruppen, die in ganz Norfaega für kleinere Scharmützel sorgten. Diese Unruhen wurden normalerweise von Lamias Herolden schnell genug niedergeschlagen – er selbst war im Kampf gegen aufständische Askyaner schon eingesetzt worden, und Rodric hatte seinerseits erzwungenermaßen nicht wenige Anführer solcher Gruppen mit dem Jäger zur Strecke gebracht, in den Kristallpalast überführt und öffentlichkeitswirksam exekutiert.
Aber bis auf die Probleme mit einem der elf Höfe kürzlich … mit Amber Hall im Südwesten Shaylas … hatte es seit einer Weile keine Berichte von größeren Konflikten gegeben. Zumindest war Tyran nichts bekannt gewesen. Und selbst die Königin von Amber Hall hatte ihre Banner nicht in offener Rebellion gehisst, sondern lediglich versucht, den Einfluss von Lamia zu beschränken.
Der Preis war der Gleiche geblieben.
»Sprachlos, hm?«, spöttelte Ragnal grinsend. »Wir sind deutlich mehr, als Königin Lamia vermutet. Noch sind wir nicht genug, um sie offen herauszufordern. Aber unser Vater rekrutiert und versucht, die Organisation des Widerstands zu verbessern.« Die Begeisterung in seiner gedämpften Stimme war nicht zu überhören. Ragnal beugte sich verschwörerisch nach vorn. »Wir haben uns von diesem Scheißkerl in Gewahrsam nehmen lassen, um einen gefangenen Kameraden zu befreien – und um die Herrin von Oakwrath zu beseitigen.«
Tyran schwieg, um nachzudenken. Der Plan klang wahnwitzig und riskant – wussten sie denn nicht, dass kaum jemand entkam, der einmal versklavt worden war? Aber andererseits fühlten sich Elnesta und ihre Herolde ausgesprochen sicher, das war völlig offensichtlich. Sie unterschätzten die Tatsache, dass sie nicht ein paar Jünglinge aus einem askyanischen Dorf gefangen hielten, sondern zwei kobaltblautragende Sturmalbenkrieger.
Und ihn.
»Und wie wollt ihr das anstellen?«
Die Zwillinge tauschten Blicke aus. Asbjorn schnappte sich einen dünnen Zweig und begann, Linien in dem schlammigen Boden zu hinterlassen. Er war derjenige, der weitersprach:
»In wenigen Tagen wird hier ein fahrender Händler ankommen, der Sklaven mit sich führt. Wir haben in Erfahrung gebracht, dass Elnesta häufig Arbeiter, die sie verschlissen hat, an solche Händler verkauft. Sie werden für Spottpreise abgegeben, da sie für die Arngarthminen bestimmt sind.«
»Sie hat die Minen erwähnt«, erinnerte Tyran sich. »Wann wurden die Schächte dort wieder in Betrieb genommen? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es so war, als wir Kinder waren.«
»Es ist auch noch nicht sehr lange her. Ein paar Jahrhunderte. Es war eine der ersten Veränderungen, die Königin Reginleif eingeführt hat, nachdem sie Stormhaven erobert hatte«, antwortete Ragnal.
Tyran selbst war nie dort gewesen – nicht in den Minen. Er wusste, dass es ein Gewirr von unterirdischen Schächten und Tunneln gab, die, anders als Elnesta angedeutet hatte, nicht alle eng und niedrig waren. Tatsächlich lagen tief im Herzen des Gebirges uralte Hallen und Höhlen, in denen früher die Drachen gehaust hatten. Stormhaven selbst lag so am Rand eines Berges, dass der hintere Teil der Festung mit uralten Katakomben verbunden war, in denen er und seine Cousins früher gespielt hatten. Diese Gänge waren jedoch nicht mit dem Gewirr der Gänge zu vergleichen, die in den berüchtigten Minen zu finden waren.
»Was bringt uns dieser Händler also?«, griff Tyran den Gesprächsfaden wieder auf.
Seine Vettern grinsten beide ihr strahlendes Lächeln.
»Er bringt uns den Vorteil, der nur in Zahlen zu finden ist – er gehört natürlich zu uns. Genauso wie die Sklaven, die er in die Festung hereinkarren wird. Und sobald sie hier drinnen sind …« Asbjorn zerbrach den Ast, den er noch in den Händen gehalten hatte und warf beide Stücke in die Flammen. Der Zweig war verschwunden, bevor Tyrans Augen ihm hätten folgen können.
Es war ein simpler Plan. Nicht elaboriert wie manche Verschwörung in Shayla. Die Stärke in Nummern war tatsächlich das, was manche Sklavenaufstände in der Vergangenheit hatte erfolgreich werden lassen. Aber andererseits waren die Königinnen auch schlauer geworden. Nicht wenige von ihnen nutzten das Gefühl, das sie für die Männer hatten, dafür, herauszuspüren, wann genügend Rebellionswillen zusammengekommen war.
Tyran rieb sich über das linke Augenlid.
Die Scherbe tat sicher ihr Übriges. Er war nie so ganz sicher, wie viel die Person, die die Kontrollstücke in der Hand hielt, von den Trägern der Scherbe spürte. Die Wärter versuchten daher oft, Verbindungen zwischen den Gefangenen zu erkennen und so Zusammenschlüsse im Keim zu ersticken. Dass es sich bei den Kobaltblautragenden und ihm um dynamische und nicht zu unterschätzende Krieger handelte, würden Waylan und seine Kumpanen sicher begriffen haben.
Andererseits ließen sie sich möglicherweise von seinem Temperament auch ablenken, sodass sie andere Bewegungen übersehen würden, da sie von ihm sowieso keine andere Haltung erwarteten.
Mit einem Ruck straffte Tyran seine Flügel und Wassertropfen stoben aus dem dichten Gefieder. Scheiße, es ist so verdammt lang her. So verdammt lang, dass er sie ausgebreitet und benutzt hatte.
»Was sagst du, Tyr?«, fragte Ragnal.
Wenn sie wirklich Unterstützung von außen bekamen, dann konnte er diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Sollte die Freiheit tatsächlich in greifbare Nähe kommen … und zwar in Gestalt seiner Familie … Sobald er frei war, würde es auch nichts mehr geben, das Rodric hielt. Er hatte ihn schon öfter gegen die Scherbe ankämpfen sehen und der schwarze Krieger war dabei widerstandsfähiger als jeder andere gewesen. Ohne atmendes Druckmittel würde er den Kristallpalast erzittern lassen – und dann würden sie vielleicht beide frei sein.
Tyran spürte die Blicke der Zwillinge auf sich lasten.
Er nahm Ragnal den Trinkbeutel aus der Hand.
»Ich sage: Lasst uns Oakwrath niederbrennen.«
Varcas