Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
Hand und schmolz auf seinen Fingerknöcheln, als er mit einem Ruck das durch die Kälte steife Leder des Sattelgurtes festzurrte.
Es war ein versteckter Segen gewesen, dass die Himmelslichter die zwei Krieger von Königin Lamia in das namenlose Dorf geführt hatten. Sein Pferd Grani war zwar stark, hätte aber dennoch nicht zwei erwachsene Albenmänner und ein Kind tragen können; dafür war selbst der große Pferderücken nicht lang genug. So jedoch standen ihnen zwei weitere zur Verfügung.
Ein kurzer Seitenblick verriet ihm, dass wenigstens einem seiner Befehle nachgekommen worden war: Man hatte Lyraine in neue Kleidung gesteckt. Er wusste nicht, was aus ihrem gerüschten Nachthemd geworden war, aber es war trotz des Schmutzes darauf bei Weitem zu auffällig gewesen. Die an einigen Stellen geflickten Beinkleider und das zerschlissene Jungenhemd würden hingegen nicht zu viele neugierige Blicke auf sich ziehen.
Lyraine zupfte an den zu langen Ärmeln.
»Es kratzt«, bemerkte sie und zog die Nase hoch. Varcas hielt in seinen Bewegungen inne. Für einen Augenblick war das Mädchen tatsächlich nur ein kleines Kind, unzufrieden über den rauen Stoff und auf dem besten Wege, sich zu erkälten. Bisher hatte sie alles ohne größere Klagen über sich ergehen lassen; auch, dass die sommersprossige Magd ihr Haar unter einer hässlichen gestrickten Mütze verborgen und diese mit Nadeln festgesteckt hatte, damit das Gewicht der schwarzen Strähnen sie nicht nach unten fallen ließ.
Varcas sicherte die Schnalle des Sattelgurtes und beugte sich vor, um behutsam eine entwichene Locke unter die Mütze zu schieben.
»Du hast keine Angst vor Pferden, oder?«, fragte er.
Sie richtete sich entrüstet auf. »Natürlich nicht.«
»Dann schau doch einmal in den Satteltaschen nach, ob du etwas Interessantes finden kannst.«
Sie ließ sich dies nicht zweimal sagen, hatte den juckenden Stoff und die laufende Nase offensichtlich schnell vergessen. Zuerst jedoch untersuchte sie hingebungsvoll einen Kratzer an dem Bein des Hengstes, den er sich bei dem überhasteten Ritt in den Süden zugezogen haben musste. Während sie beruhigend auf das Pferd einredete, festigte sich Varcas’ Entschluss, den er in Windeseile hatte treffen müssen – wohin sie als Nächstes gehen sollten. Es war Zeit, die letzten Verbündeten aus den alten Tagen aufzusuchen und zu hoffen, dass die Erinnerung an die Freundschaft, die sie einst geteilt hatten, noch etwas zählen würde.
Dabei war es tatsächlich Lyraine selbst gewesen, die ihn auf diesen bestimmten Weg gebracht hatte …
Varcas wandte sich zum Gehen.
»Ich hole deinen Meister Gorwyn.«
Jener saß beinahe aufrecht auf dem Bett und bemühte sich, in ein Hemd zu schlüpfen, ohne seine Wunde im Bauchraum zu stark zu belasten. Lenka stand neben ihm, erzeugte aber sofort einige Schritte Abstand zwischen sich und Varcas, als er eintrat.
Der Erdalb richtete sich auf und bemühte sich um eine Verneigung, wie sie Varcas aufgrund seines hohen Rúnir-Ranges zustand.
»Ich schätze Euren Respekt, Meister Gorwyn, aber wir haben für den Austausch solcher Höflichkeiten keine Zeit.« Varcas’ Augen fanden die Heilerin. »Lenka hat ihren Neffen losgeschickt, kaum dass Ihr hier angekommen seid, um die sicher noch irgendwo im Gebiet von Amber Hall stationierten Krieger aufzusuchen und mitzuteilen, wer hier Unterschlupf gefunden hat.«
Der Truchsess nickte.
Varcas wusste nicht, wie viele Stunden ihnen bestenfalls blieben. Der Junge war zu Fuß unterwegs, zumindest hatte er das aus den Gedankenfetzen der Heilerin sehen können. Aber die Männer der Königinnen hatten Pferde und bald schon würden die großen Straßen alle patrouilliert werden.
»Ich weiß, Ihr seid verwundet, aber ich muss um Eurer kleinen Herrin willen auf Eile bestehen.« Varcas wies auf die Tür hinter sich.
Der Truchsess legte seine Hand auf seinen verwundeten Oberschenkel.
»Eure Eile ist nachvollziehbar, Mylord, aber ich muss … Euch um ein Gespräch ersuchen. Unter vier Augen, noch bevor ich Euch guten Gewissens folgen kann.«
Es war der Stich der albeneigenen Ungeduld, der sich in Varcas entzündete. Viele sagten, je mächtiger eine Rún war, desto leichter war der frostige Zorn der Alben zu entfesseln. Er selbst hielt sich für einen vernünftigen Mann – dennoch konnte Varcas nicht leugnen, dass der Gedanke seinen Verstand durchzuckte, dass er auch einfach seine graue Rún entfesseln und den fliedertragenden Wächter vor ihm zwingen konnte, ihm zu gehorchen.
Stattdessen verlangte er sich selbst Geduld ab. Varcas nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem er Wache gehalten hatte, und signalisierte so Gorwyn und auch der Heilerin, dass er zu dem Gespräch bereit war. Lenka huschte mit geducktem Kopf an ihm vorbei.
»Also«, sagte Varcas und legte die Fingerspitzen zum Dreieck geformt an seine Lippen, »ich höre?«
Der Wächter schien für einen Moment Schwierigkeiten zu haben, ihn anzusehen. Trotzdem zögerte er nicht länger.
»Mylord, Ihr habt mich vor den Grimwölfen gerettet. Ich stehe in Eurer Schuld. Aber ich kann nicht das Leben von Lady Lyraine in die Hände eines Mannes legen, dessen Namen ich nicht kenne«, begann er. Obwohl er abrupt abbrach, spürte Varcas, dass er noch nicht fertig war.
Varcas nickte, um ihn zum Weitersprechen aufzufordern.
»Ich habe mit angehört, was die Heilerin zuvor zu Euch sagte. Dass sie … genau wisse, wer Ihr seid. Und seht Ihr, Mylord, darin liegt das Problem. Ich weiß es nämlich nicht.«
Varcas senkte die Hände und begutachtete sie schweigend. Er hatte früher nie die Hände eines Sehers gehabt; zu oft hatten diese Finger das Schwert gehalten.
Als er wieder aufsah, konnte er erkennen, dass der Truchsess sich vor der Antwort auf seine Frage fürchtete.
»Mein Name«, sagte Varcas sanft, »ist Varcas Debray.«
Meister Gorwyn rang nach Atem.
Angst quoll aus seinen Poren und verdichtete sich im Raum, bis Varcas glaubte, die Furcht von den Wänden tropfen sehen zu können.
»Ich – ich habe es geahnt, als ich Euch sah«, sagte der Wächter. »Aber ich wollte es nicht glauben. Ihr seid der Graue Vollstrecker.«
Varcas lächelte. Wann hatte er diesen Namen zuletzt gehört? Es war unwichtig; eine Erinnerung unter so vielen, die sich ihm entzogen hatte. Wann hatte er den Namen das erste Mal vernommen? Selbst das wusste er nicht mehr genau. Dafür würde er nie vergessen, wer es gewesen war, der ihn so bezeichnet hatte. Nichts schmerzte tiefer als ein solches Wort aus dem Mund eines Freundes.
Als er sich erhob, eingehüllt in seine graue Aura, war die Anspannung des ehemaligen Truchsesses förmlich zu greifen.
»Ihr irrt Euch nicht, Meister Gorwyn. Ich bin der, für den Ihr mich haltet. Ich hatte viele Namen in meinem Leben. Doch während ich manche abgelegt habe – wie den Titel des Großmeisters der Seher oder den des Druiden von Shayla –, sind andere nicht wie ein Kleidungsstück, das ich abstreifen könnte. Der Name, der soeben Eure Lippen verlassen hat, ist eine Narbe, die nie verheilen wird.« Er glaubte nicht, dass der Erdalb es fühlen würde, aber sein eigener Herzschlag hatte sich beschleunigt, während er sprach.
Und bis zum heutigen Tage spuckt sie Blut, meine uralte Narbe.
Varcas ließ dem Wächter Zeit und beobachtete ihn, wie dieser seine eigene Rún betrachtete; Goborns Flamme in Flieder. Als Wächter waren seine Fähigkeiten ganz andere als die, die ein Krieger oder ein Seher sein Eigen nennen konnte. Nicht minder wichtig, das würde jeder verstehen, der den Mythos der Himmelslichter kannte, aber von vielen unterschätzt, weil es das Defensivste der männlichen Zeichen war. Varcas hatte viele Männer gekannt, die die Flamme getragen hatten. Viele von ihnen waren gute Männer gewesen.
Dass Gorwyn zu ihnen gehörte – zu den guten Männern – war offensichtlich.
»Ich bin kein mächtiger Mann, Lord Debray.« Gorwyns Stimme war leise, aber in ihr lag eine Stärke, die