THE BOYS OF SUMMER. Richard Cox H.
jetzt in der achten Klasse und es näherte sich das Ende ihrer Schulzeit. Jonathan hoffte, ihnen noch ein wenig Interesse für Geschichte vermitteln zu können, aber bis jetzt hatte er nur wenig Erfolg damit gehabt. Schließlich waren sie erst vierzehn Jahre alt. George W. Bush war der einzige Präsident, den sie kannten, und selbst die Anschläge auf das World Trade Center waren für sie bereits Altertumsgeschichte. Jedes Jahr, das mit einer »1« begann, lag für sie schon sehr lange zurück.
Ihnen Geschichte durch persönliche Erlebnisse vermitteln zu wollen, war auch keine große Hilfe. Als Jonathan seinen Schülern erzählt hatte, dass sein eigener Vater während des Tornados umgekommen war, dass er praktisch aus seinem Haus in die Luft gerissen und drei Meilen weiter auf einer Straße aufgeschlagen war, schienen sie irgendwie erstaunt gewesen, zu sein, dass er überhaupt einen Vater gehabt hatte. Anscheinend hatten sie geglaubt, dass Jonathan schon als Erwachsener auf die Welt gekommen war, als ein Mann ohne jede Vorgeschichte, und mit der einzigen Mission, sie ihrer Freizeit zu berauben.
Den ganzen Tag über dachte er an den Traum. Alles war irgendwie mit einem Gefühl verbunden, dass etwas nicht stimmte. Ein Gefühl, das er einfach nicht abschütteln konnte. In der sechsten Stunde, der letzten des Tages, war Jonathan geistig vollkommen erschöpft. Er sehnte sich nach einem Abendessen und einigen Drinks. Normalerweise verbrachte er den Rest des Abends damit, an seinem neuesten Roman zu arbeiten (dieser trug den Titel Das Ende der Welt), aber er bezweifelte, dass er heute noch genügend Energie dafür aufbringen würde.
»Im Buch werdet ihr ein Zitat über die Geschichte finden, das man allgemein dem Philosophen George Santayana zuschreibt. Kann mir jemand sagen, um welches Zitat es sich dabei handelt?«
Die Schüler der sechsten Klasse waren die lebendigsten aber auch die am wenigsten engagierten Schüler des Tages. Sie wussten, dass der Unterricht bald vorbei sein würde, und handelten dementsprechend. Von den siebenundzwanzig Augenpaaren, die er vor sich sah, schauten nur etwa die Hälfte überhaupt in seine Richtung. Die anderen starrten auf das Buch oder auf jemand anderes in der Klasse oder blickten einfach aus dem Fenster. Und zu diesem Zeitpunkt, weniger als zehn Minuten bevor es läuten würde, konnte Jonathan ihnen noch nicht einmal einen Vorwurf daraus machen.
»Kann ich darauf hoffen, dass irgendjemand das Kapitel gelesen hat, das ich euch gestern zu lesen aufgegeben habe? Irgendjemand?«
Zahlreiche Hände hoben sich.
»Dann kann sich sicher auch einer an das Zitat erinnern. Oder es vielleicht eben schnell mal nachlesen?«
»Ich weiß es«, sagte jetzt Brooklyn Keely. Sie war beim Weitem die engagierteste Schülerin in der sechsten Klasse. Sie beantwortete etwa die Hälfte aller Fragen, die Jonathan der Klasse stellte.
»Brooklyn. Natürlich. Lass mal hören.«
»Wenn man sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist man dazu verurteilt, sie zu wiederholen«, sagte sie mit einer kindlichen Autorität.
»Sehr gut. Kannst du uns auch sagen, was Santayana damit meinte?«
»Er meinte«, sagte eine Stimme ganz hinten, eine Stimme, die zu Blake Cannon gehörte, »wenn du in Geschichte durchfällst, dann darfst du nicht mehr Football spielen!«
Blake war ein kräftiger Tailback, auf den bereits die Trainer der Highschool-Mannschaft ein Auge geworfen hatten. Er war in der Klasse sehr beliebt und brachte alle häufig zum Lachen, auch Jonathan.
»George Santayana war kein besonders guter Sportler«, erklärte Jonathan. »Aber vielen Dank für deinen Beitrag, Blake.«
»Gern geschehen.«
Während das Lachen weiterging, hob sich eine weitere Hand. Sie gehörte zu Jonathans neuestem Schüler, Thomas Phillips. Thomas war einige Wochen zuvor auf die McNiel gekommen, und das war ein wenig seltsam, denn vom Schuljahr war schließlich nur noch wenig übrig. Er kam ihm außerdem irgendwie bekannt vor, und deshalb hatte er einige Versuche unternommen, Thomas in ein Gespräch zu verwickeln, um zu erfahren, was ihn so plötzlich zur McNiel verschlagen hatte, aber der Junge war offenbar ebenso intelligent, wie er verschlossen war.
»Ja, Thomas?«
»Das Zitat bedeutet, dass, wenn man nicht versteht, warum bestimmte Dinge in der Vergangenheit passiert sind, man dazu verurteilt ist, ähnliche Fehler in der Zukunft zu machen.«
»Ausgezeichnet«, meinte Jonathan. »Es ist schön, zu wissen, dass wenigstens einer von euch das Kapitel gelesen und auch verstanden hat.«
»Vielen Dank. Aber ich glaube nicht, dass ich mit diesem Zitat einverstanden bin.«
»Nicht? Was meinst du damit?«
»Nun, jeder muss doch das Fach Geschichte belegen, um aufs College zu kommen, nicht wahr? Warum werden also dieselben Fehler immer und immer wieder gemacht? Wir sind jetzt im Irakkrieg. Nachdem wir die Erfahrung in Vietnam gemacht haben, machen wir denselben blöden Fehler doch jetzt gerade noch einmal! Anscheinend spielt es überhaupt keine Rolle, wie viel wir über Geschichte wissen. Wir machen trotzdem immer wieder denselben Mist, auch wenn wir genau wissen, wie dumm das ist.«
»Das ist sehr gut, was du da sagst«, antwortete Jonathan beeindruckt. »Haben dir deine Eltern etwas über Vietnam erzählt? Dieses Thema wird hier an der McNiel leider nicht behandelt.«
»Das spielt überhaupt keine Rolle«, erklärte Thomas. »Der Wahnsinn geschieht auch bei uns in Wichita Falls. Kennen Sie das Restaurant, das letzte Nacht hier abgefackelt wurde? Es ist anscheinend dasselbe Gebäude, das schon vor fünfundzwanzig Jahren abgebrannt ist, und in beiden Fällen war es Brandstiftung. Es ist fast so, als ob die Welt in einer Art Schleife stecken würde. Verstehen Sie, was ich meine?«
Jonathan verstand überhaupt nicht, was Thomas damit meinte. Er konnte überhaupt nichts mehr sehen, weil die Unruhe, die er den ganzen Tag über gefühlt hatte, und der Schrecken, der irgendwo außerhalb seiner Sicht lauerte, jetzt plötzlich sein gesamtes Blickfeld einnahmen.
»Welches Restaurant?«, fragte er, obwohl er das Gefühl hatte, dass er es bereits wusste.
»Lone Star Barbecue«, antwortete Thomas. »Es kam heute Morgen in den Nachrichten. Irgendein Typ namens Bobby Steele hat es getan. Er war wohl so eine Art Football-Star, und jetzt ist er tot.«
Jonathan fragte sich, ob jemand die Heizung aufgedreht hatte. Das Klassenzimmer schien auf einmal dreißig Grad wärmer zu sein als noch vor wenigen Minuten. Als er zur Uhr schaute, sah er, dass nur noch drei Minuten bis zum Ende der Stunde übrig waren. Aber er wusste nicht, ob er die nächsten drei Sekunden überstehen würde, geschweige denn die nächsten drei Minuten. Wie hatte Bobby auf diese Art und Weise enden können? Und warum hatte er das Restaurant niedergebrannt – schon wieder?
»Mr. Crane«, sagte Thomas. »In den Nachrichten hieß es, dass der Mann neununddreißig Jahre alt war. Sind Sie nicht etwa in demselben Alter?«
»Ziemlich nah dran, ja.«
Jetzt waren es nur noch zwei Minuten bis zum Ende er Stunde.
»Sie kannten ihn also? Sind Sie zusammen aufgewachsen?«
Jonathan sah keinen Grund, warum er diesen Schüler (und damit auch die gesamte Klasse) belügen sollte. Aber er log trotzdem, und er war sich sicher, dass jeder Schüler das sofort erkennen würde.
»Ich kannte ihn irgendwie. Jeder kannte ihn. Wie du schon gerade sagtest, er war Quarterback, der Star der Mannschaft als wir in der Highschool waren.«
Jonathan sah vor seinem inneren Auge, wie das Feuer aufstieg, ein tosender Wirbel. Er konnte den Rauch riechen. Die fünf Freunde bildeten einen Kreis, während Todd ihnen über das Ende der Welt erzählte.
»Waren Sie nicht befreundet?«, fragte Thomas jetzt. »Meine Mutter hat mir einmal von diesem Jungen erzählt, der aus einem langen Koma erwacht ist …«
»Das ist schon lange her. Ich bin mir nicht ganz sicher.«
Noch eine Minute bis zum Ende der Stunde. Siebenundzwanzig Augenpaare starrten ihn jetzt an. In der Klasse war