Take Me Home. Carrie Elks
weiß.« Gray nickte. »Sie ruiniert ihm den Fleischgeschmack.« Seltsam, dass er sich so genau an die Aussage seines Vaters erinnern konnte. Er erhob sich und ließ seine eigene Mahlzeit halb aufgegessen zurück. Er wusste, Tante Gina würde sie für ihn aufwärmen, wenn er zurückkam. So wie sie es immer tat.
»Gray?«, fragte seine Tante.
»Ja?«
»Geh sanft mit ihm um, sein Zustand ist immer noch nicht der beste.« Sie presste die Lippen zusammen, während sie seinen Blick festhielt.
»Nichts anderes hatte ich vor.«
»Ich weiß.« Tante Ginas Lächeln wirkte angespannt. »Es ist nur, dass ihr beide ... Na ja, ihr wusstet schon immer, wie ihr den anderen zur Weißglut treibt.«
»Das heißt, du sollst vermeiden, ihm auf den Sack zu gehen«, erläuterte Tanner gedehnt. »Was meiner Erfahrung nach beinahe unmöglich ist.«
»Ignorier ihn.« Becca zog beide Augenbrauen mit einem Nicken in Tanners Richtung nach oben. »Er ist nur genervt, weil bei Chairs niemand über ihn redet.«
»Das liegt daran, dass ich öfter als einmal alle zehn Jahre nach Hause komme«, bemerkte Tanner.
Es war wie in alten Zeiten. Gray konnte sich an das konstante Geplänkel beim Abendessen erinnern, bei dem er und seine Brüder sich immer gnadenlos aufgezogen hatten. Als der Älteste hatte er immer versucht, den Frieden zu wahren. Es gab Tage, an denen er damit gerechnet hatte, Cam und Logan würden sich bis zum Tod bekriegen. Bis ihr Vater einschritt, natürlich. Ein Hieb auf den Tisch war normalerweise genug, um sie zum Schweigen zu bringen. Und wenn sie aus irgendeinem Grund nicht reagierten, reichte es immer, wenn er seine Stimme um ein paar Oktaven anhob. Im Teenageralter hatten sie gelernt, ihn nicht zu weit an den Rand der Geduld zu treiben. Keiner von ihnen wollte von ihm aufgefordert werden, ihn nach dem Essen in sein Arbeitszimmer zu begleiten.
»Wenn ihr alle still wärt, könnte ich vielleicht meine eigenen Gedanken hören«, tadelte Tante Gina, einen bösen Blick auf sie alle gerichtet. »Und zeig etwas Respekt, Tanner. Du bist im Haus deines Vaters. Darauf hat er ein Anrecht.«
»Respekt verdient man sich«, meinte Tanner trotz des Gewichts seiner Worte mit unbeschwertem Tonfall.
»Ich lasse es zwischen uns entspannt angehen«, versicherte Gray seiner Tante.
Sie nickte und bedachte ihn mit einem erneuten Lächeln.
»Viel Glück«, flüsterte Becca und drückte seine freie Hand, als Gray an ihr vorbeiging.
Grays Meinung nach brauchte er das nicht. Er war kein Kind mehr. Er hatte sein eigenes Zuhause, sein eigenes Auto und verdiente in einem Monat mehr Geld als sein Vater in seinem gesamten Leben. Der alte Mann im Schlafzimmer am Ende des Flurs jagte ihm keine Angst mehr ein. »Zum Teufel damit«, murmelte er vor sich her, bevor er mit den Knöcheln gegen die Tür klopfte. Als er seine Hand sinken ließ, ließ er sie weiterhin zu einer Faust geballt, als rechnete sein Körper mit einem Kampf. Die andere hielt immer noch an dem Teller fest, den er vorbereitet hatte.
»Herein.«
Gray blinzelte ob der Vertrautheit dieser Stimme. Er biss die Zähne zusammen, legte die Finger um die Klinke und wappnete sich, während er einen freundlichen Ausdruck aufsetzte.
Die Leute hielten es für seltsam, wenn er ihnen erzählte, dass er seit mehr als zehn Jahren nicht mit seinem Vater gesprochen hatte. Sie wollten all die Details über den Streit erfahren, der zu so einem Bruch geführt haben musste. Doch es hatte keinen Streit gegeben. Zumindest keine einzelne explosive Episode eines solchen. Stattdessen war die Beziehung zu seinem Vater vielmehr das Opfer von eintausend kleinen Schnitten.
Als Kind hatte er davon geträumt, diesem Ort zu entkommen. Er wollte ein Baumhaus in den Wäldern bauen, die im Norden an den Grund seines Vaters grenzten, es mit Comicbüchern und Limo füllen und seine Freunde einladen. In seiner Vorstellung hätte ihn sein Vater dort nie aufgespürt.
Mit den Jahren wurden seine Pläne komplexer. Zuerst waren sie akademischer Natur. Er lernte viel, spielte Football, machte alles, was ihm dabei helfen würde, in einem College aufgenommen zu werden. Doch obwohl seine Noten gut genug waren, um akzeptiert zu werden, reichte seine sportliche Leistung für ein Stipendium nicht aus. Und das Einkommen seines Vaters war zu hoch, um abgesehen von einem Kredit zusätzliche finanzielle Unterstützung zu erhalten.
Eines wusste Gray – er konnte nicht länger unter der Fuchtel seines Vaters stehen. Als sich sein einziges Entspannungsmittel, seine Musik, als sein Ticket aus der Stadt herausstellte, hatte er die Gelegenheit sofort beim Schopf gepackt. Hatte alles – und jeden – hinter sich gelassen. Ein notwendiges Opfer, um seine Freiheit zu erlangen.
Natürlich traf er sich weiterhin mit seiner Familie. Seine Brüder kamen nach New York oder L.A., um ihn zu sehen, wann immer sie es einrichten konnten. Tante Gina und Becca reisten nach Virginia und D.C. zu seinen Konzerten. Innerhalb eines Jahres hatte er ihnen allen Flugtickets nach London besorgt, damit sie zu einem Festival kommen konnten, bei dem er aufgetreten war. Das war eine tolle Woche gewesen.
Sein Vater aber kam nie. Er weigerte sich, solange Gray ihn nicht anrufen und persönlich einladen würde. Gray wusste jedoch, dass es eine Falle war. Sein Vater wollte bloß in den Genuss kommen, sein Angebot persönlich abzulehnen.
»Ich sagte, herein!«, rief sein Vater. »Was machst du da? An der Klinke rumspielen?«
Gray schüttelte den Kopf und öffnete mit durchgedrücktem Rücken die Tür, bevor er eintrat. Das Erste, das ihm auffiel, war der Geruch. Obwohl das Zimmer nicht länger als Arbeitszimmer diente, standen entlang der Wände immer noch Regale befüllt mit alten Büchern, deren muffige Seiten die Luft abgestanden riechen ließen. Dann war da noch der Piniengeruch der Seife seines Vaters – dieselbe Seife, die er schon immer verwendet hatte.
»Ich bringe dir Abendessen.«
Der alte Mann blickte von seinem Platz auf dem Bett hoch. Die Jahre, die Gray fort gewesen war, hatten seinen Vater nicht mit Güte behandelt. Das Haar von Grayson Hartson Senior war spärlich und bedeckte kaum seinen glänzend roten Schädel. Seine Haut war faltig und erschien beinahe gummiartig. Aber es war sein Körper, der Gray am meisten schockierte. Sogar durch das Laken hindurch konnte er sehen, wie dünn sein Vater war. Seine Arme wirkten wie die Zweige, die Tante Gina früher vor Weihnachten ins Haus gebracht hatte, um Deko passend zur Jahreszeit zu basteln.
»Das Essen wird schon kalt sein, nach der ganzen Zeit, die du beim Reinkommen verplempert hast«, grummelte sein Dad.
Gray schluckte. »Du willst es nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt. Stell’s hier hin.« Sein Vater nickte zum Tisch, der vor ihm platziert war. Er stand auf Rädern. Es war die Art von Tisch, die man in Krankenhauszimmern sah. Gray trug den Teller rüber und stellte ihn in die Mitte.
»Du hast also beschlossen, auf Besuch zu kommen?«, erkundigte sich sein Vater, während er sich vorbeugte, um den Teller zu begutachten. »Schon wieder verdammtes Rindfleisch. Deine Tante weiß, dass ich das nicht essen kann. Bleibt mir in der Kehle stecken.«
»Soll ich dir Soße holen, damit du es leichter runterkriegst?«
Sein Dad schnaubte. »Ich esse einfach nur die Kartoffeln. Gib mir eine Gabel.«
Gray reichte das Besteck an ihn weiter und sah dabei zu, wie sein Vater einen Krümel Kartoffelpüree zwischen seine Lippen nahm. Die Zeit schien stillzustehen, während er seinen Kiefer hin- und herbewegte und sich sein verwelkter Hals wellenförmig hob und senkte, als er versuchte, den kleinen Bissen zu schlucken.
»Willst du ein Glas Wasser?«, bot Gray an.
»Nein«, stieß sein Vater heiser hervor. »Geh zurück zu deinem Essen. Ich komme hier klar.«
Gray war nicht sicher, wie er sich fühlen sollte, als er dabei zusah, wie sein Dad eine weitere zittrige Gabel an seinen Mund hob. Mitgefühl kämpfte gegen Verbitterung an, während sein Kopf versuchte, diese neue Realität in sich aufzunehmen. Sein Vater war