Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers. Pernille Juhl

Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers - Pernille Juhl


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er vielleicht plötzlich in Dänemark ein? Müssen wir dann nicht hier sein und Südjütland verteidigen? Ist das nicht unsere Pflicht?“

      „Was gerade in Finnland passiert, erfordert entschlossenes Handeln, und zwar jetzt. Dass die Deutschen die Grenze überschreiten, ist hypothetisch“, entgegnete Petersen. „Wir sollten ihnen helfen und den Russen zeigen, was eine Harke ist – ich konnte die Kommunisten noch nie ausstehen.“

      Christian rümpfte die Nase. „Und ich konnte die Nazis noch nie ausstehen.“

      „Einer meiner Vetter ist auch beim Militär. Er hat sich entschieden, nach Finnland zu gehen, zusammen mit zwei Kameraden“, sagte Petersen und stellte seine Tasse auf den Tisch.

      Aksel runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich muss meine Meinung ändern. Christian hat recht. So, wie die Sache steht, müssen wir hierbleiben und unsere Heimat verteidigen, bis zum letzten Blutstropfen, wenn es sein muss. Die Deutschen können jederzeit hier auftauchen.“

      Sønderborg, 8. April 1940

      An einem der ersten richtigen Frühlingstage lag Christian in voller Montur in seiner Koje und war ausnahmsweise einmal froh darüber, dass Aksel nichts sagte. Sein Freund lag leise schnarchend in der Koje über ihm, und Christians Körper summte angenehm von der Anstrengung, die hinter ihm lag. Er vermochte kaum, den Arm zu heben, und bei dem Gedanken daran, gleich die Füße über die Kante schwingen und aufstehen zu müssen, bildeten sich tiefe Falten auf seiner Stirn. Zwei schmerzhafte Blasen hatten sich unter den Sohlen gebildet. Na ja, es war nicht das erste Mal und würde sicher auch nicht das letzte Mal sein.

      Er schloss die Augen. Warum konnte er nicht schlafen, obwohl sich der seltene Luxus einer langen Mittagspause bot? Obendrein hatte er sich im Speisesaal zweimal Nachschlag geholt! Nach den Strapazen des Vormittags hatte er das unbedingt verdient, wie er fand, sie hatten sich vom Übungsplatz im Sønderskoven förmlich zur Kaserne geschleppt.

      Der Kalender zeigte den achten April; nur noch wenige Tage bis zu seiner Ernennung zum Oberfeldwebel. Er musste sich ausruhen, versuchen, ein wenig zu schlafen, bevor der Befehl zum Antreten über den Flur gebrüllt wurde, aber in seinem Kopf kreisten die Gedanken wie kurze Filmaufnahmen, die ineinander übergingen. Abschied von den Kameraden. Ankunft in der Hauptstadt. Er spürte Unbehagen bei dem Gedanken daran, sich auf diesen Weg zu begeben. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Wollte alles von sich wegschieben. Nicht zuletzt, weil ihm seit Kurzem immer wieder Zweifel kamen und seine Zuversicht zersetzten. Hatte er wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

      Lieber stellte er sich ein Familientreffen bei Oma vor. Alle würden da sein und über seine hervorragenden Prüfungsergebnisse und seinen neuen Dienstgrad staunen. Oberfeldwebel. Er würde ihnen erzählen, dass er vorhatte, die Offizierslaufbahn einzuschlagen, und Oma würde ihn mit ihren runden Augen ansehen und sagen ‚Jesus! Kedde, mein Lieber, wirst du denn nie fertig? Willst du es etwa zu etwas noch Vornehmeren bringen?‘ Alle würden so stolz auf ihn sein. Oma würde zu Nachbar Bjerre laufen und es ihm erzählen. ‚Haben Sie schon gehört, unser Kedde geht nach Kopenhagen, um etwas zu werden, das man Offizier nennt. Er macht eine Ausbildung auf Frederiksberg Slot und Kronborg, direkt bei der königlichen Familie.‘ Und Bjerre würde garantiert sagen: ‚Dewsen i 'et'‘, was man nur in Südjütland verstand und was soviel bedeutete wie ‚Hat man Töne‘. Bjerre sagte es immer, wenn ihn etwas überraschte oder beeindruckte.

      Auf irgendeine Weise würde sicher auch Gerda davon hören. Natürlich konnte er auch einfach bei ihr vorbeischauen und es ihr selbst erzählen, ihr Mann hatte ihr ja wohl nicht verboten, sich mit alten Freunden zu unterhalten?

      Lächelnd und mit geschlossenen Augen lag er da. Dachte daran, dass es sehr schade war, sich von Aksel und Petersen verabschieden zu müssen.

      Dann drangen andere Geräusche in sein Bewusstsein. Es war nicht Aksels Schnarchen, nicht Poulsens Murmeln und erst recht nicht Oves Furzen. Auf dem Flur vor ihrer Tür gab es Unruhe, und es klang, als würde jeden Moment etwas passieren. Christian stützte sich auf den Ellbogen und lauschte, und einige der Kameraden taten es ihm nach, während sie sich müde mit der anderen Hand übers Gesicht fuhren. Allen war klar, dass es gleich mit ihrer Siesta vorbei sein würde.

      William gähnte gerade ausgiebig, als auf der anderen Seite der Tür „Alarmbereitschaft!“ gebrüllt wurde. Alle hatten in voller Ausrüstung auf dem Flur anzutreten.

      „Was zum Teufel soll das denn?“, fragte Gustav, der in der unteren Koje neben Christian lag. „Versuchen sie jetzt auch noch, witzig zu sein?“

      Christian war bereits aufgestanden. „Beim Militär gibt’s keinen Humor.“ Unsanft rüttelte er Aksel aus dem Schlaf.

      „Was soll das?“ Mürrisch starrte Aksel ihn an.

      „Alarmbereitschaft“, sagte Christian nur und war im nächsten Augenblick bei seinem Spind.

      „Das darf doch nicht wahr sein“, knurrte Aksel und kletterte aus seiner Koje.

      Alle stolperten wild durcheinander in der Stube herum, aber nur wenige Minuten später standen sie in Stiefeln, Uniform, Mütze und mit vollem Gerödel in Reih' und Glied auf dem Flur. Vor ihnen stand der Kasernenkommandant und sah sie mit ernster Miene an. Es musste irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, wenn der Herr Hauptmann die Meldungen über das vollzählige Antreten der Züge selbst entgegennahm. In militärischer Kürze informierte er sie darüber, die Alarmbereitschaft sei befohlen worden, weil man sechzig Kilometer südlich der Grenze eine starke deutsche Militäreinheit beobachtet habe, die in Richtung Dänemark vorrücke.

      Er schloss mit dem Befehl, sich in Gruppen zu formieren und zusätzliche Ausrüstung in Empfang zu nehmen. Christian hob überrascht die Augenbrauen, als man ihnen scharfe Munition, Erste-Hilfe-Päckchen des Roten Kreuz' und Notverpflegung in Form von Konservendosen aushändigte. Äußerst ungewöhnlich. Den nachhaltigsten Eindruck aber hinterließ eine kleine Plakette aus Metall, in die sein Name und das Wort Dänemark eingraviert waren. Sie wurde um den Hals getragen und konnte in der Mitte entzwei gebrochen werden. Der Name stand auf beiden Hälften. Der Hauptmann rief ihnen die Instruktionen in Erinnerung, die sie schon früher einmal bekommen hatten: Fand man einen toten Kameraden, brach man die untere Hälfte der Plakette ab, nahm sie mit und übergab sie seinem Vorgesetzten.

      Christian schauderte.

      Danach wurde Wegtreten befohlen, sie hatten sich auf die Stuben zu begeben und weitere Befehle abzuwarten. Es war kaum zu fassen. Noch vor ein paar Minuten hatten sie in ihren Kojen gelegen und waren nur darauf aus gewesen, sich auszuruhen. Jetzt liefen einige zwischen den Kojen auf und ab, andere saßen auf den Matratzen, während alle möglichen Theorien quer durch den Raum gerufen wurden.

      Aksel klang enthusiastisch, als er sagte: „Vielleicht können wir jetzt endlich losschlagen. Es wäre mir ein ausgesuchtes Vergnügen, den Deutschen ordentlich den Arsch zu versohlen!“

      „Es geht doch nur um die angespannte Situation in Norwegen. Mit uns hat das Ganze überhaupt nichts zu tun“, stellte Petersen fest.

      „Und warum marschieren die dann von Süden auf unsere Grenze zu?“, fragte ein anderer.

      „Weil sie nach Norwegen wollen“, meinte ein Dritter.

      „Aber warum tun wir nichts?“, fragte ein Vierter und stemmte die Hände in die Hüften. „Warum werden wir nicht an die Grenze geschickt, um den verfluchten Deutschen einen gebührenden Empfang zu bereiten?“

      „Ich begreife es nicht.“ Poulsen schüttelte heftig den Kopf.

      „Wer sagt eigentlich, dass das keine Übung ist?“, rief einer.

      Wie seine Kameraden auch, überprüfte Christian sein Gewehr noch einmal besonders sorgfältig. Seine Gedanken wanderten an die Grenze, nach Kollund, zu seiner Familie, für die er nun nicht da sein konnte. Eine Übung? Nein, er glaubte nicht daran.

      Der Nachmittag zog sich in die Länge. Rastlosigkeit herrschte auf der Stube, und ihre Diskussionen drehten sich weiter im Kreis und führten zu nichts als Vermutungen und Spekulationen. Einige malten sich das Schlimmste aus, andere


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