Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers. Pernille Juhl
Sønderborg und andere dänische Städte bombardiert und ausgelöscht werden, so wie es in Polen geschehen war?
Ihm war klar, dass sich die anderen ähnliche Gedanken machten.
Ein Kamerad, den sie Stehaufmännchen nannten, sagte plötzlich: „Was, wenn Deutschland sich Nordschleswig einverleibt? Was, wenn wir auf einmal für die Deutschen kämpfen sollen?“
Als sie nach dem Abendessen zurück auf der Stube waren, hatte sich an der Situation nichts geändert. Die Frustration und die vielen unbeantworteten Fragen waberten durch den Raum wie Gespenster auf einem Spukschloss.
„Was zum Henker geht da vor? Ich hatte damit gerechnet, dass wir beim Abendessen wenigstens mal über die Lage informiert werden“, sagte Aksel im Berg'schen Tonfall und breitete hilflos die Arme aus. Er stand zwischen den Kojen mitten im Raum und sah vorsichtig formuliert unzufrieden aus.
„Anscheinend ist momentan niemand in der Lage, Entscheidungen zu treffen“, stellte Poulsen fest. „Vielleicht sollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen. Sie müssen doch ein paar Leute an die Grenze schicken! Was denken die sich eigentlich?“
Einige lachten.
„Ja klar, Poulsen. Am besten marschierst du gleich mal beim Hauptmann auf und sagst ihm so richtig Bescheid“, höhnte Stehaufmännchen.
Poulsen sah ihn scharf an. „Das würde mir nicht das Geringste ausmachen. Sie bekommen es ja selbst nicht hin.“
Aksel plusterte sich auf. „Sag den Schlappschwänzen, dass wir den Deutschen die Seele aus dem Leib prügeln werden, bis sie auf dem Absatz kehrtmachen und wieder nach Hause gehen!“
„Wie wär's denn, wenn wir Kedde schicken? Er ist so gut wie Oberfeldwebel und sowieso der einzige von uns, den sie ernst nehmen“, meinte Stehaufmännchen, und alle sahen Christian an.
„Natürlich, ich klopfe mal eben bei den hohen Herren an die Tür und führe ein ernstes Gespräch mit ihnen, weil sie offenbar nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen“, antwortete Christian und schnitt eine Grimasse.
Er hatte kaum ausgesprochen und seine Kameraden lachten lauthals, als plötzlich ein Offizier in der Tür stand.
„Zehn Uhr, Bettruhe in Uniform.“
Nachdem der Offizier ihre Stube verlassen hatte, murmelte Stehaufmännchen: „Was zur Hölle denken die sich bloß dabei?“ Einige lachten leise ein nervöses Lachen. Wieder schienen Geister durch den Raum zu schweben. Es beschlich sie ein Gefühl, als hätten die Deutschen die Kaserne bereits umstellt. Nachdem sie alle noch einmal die scharf geladenen Gewehre überprüft und neben den Kojen abgestellt hatten, legten sie sich in voller Uniform auf die Matratzen, um zu schlafen.
„Vielleicht ist es ja doch nur eine Übung“, flüsterte irgendjemand, nachdem das Licht ausgegangen war.
Christian bekam nicht viel Schlaf. Um halb fünf wurden er und seine Kameraden von demselben Offizier geweckt, der auch schon die Meldung über den Grenzübertritt der deutschen Truppen gemacht hatte. Die dänischen Streitkräfte hatten den Kampf aufgenommen, und ihre Kompanie sollte den Einheiten bei Søgård zu Hilfe eilen.
Da sie in Uniform geschlafen hatten, dauerte es nur wenige Minuten, bis alle angetreten waren.
„Als Erstes werden Sie nach unten in den Speisesaal gehen und das Frühstück einnehmen“, fuhr der Vorgesetzte fort.
Christian und die anderen sahen sich verdutzt an. Frühstück?
„Ich dachte, wir hätten es eilig“, stieß Petersen auf dem Weg in den Speisesaal zwischen den Zähnen hervor.
Im Speisesaal erhielten sie den Befehl, ein Verpflegungspaket für die bevorstehende Fahrt in Empfang zu nehmen. Christian wunderte sich einmal mehr, und überall an den Tischen wurde geflüstert und getuschelt. Die Soldaten warfen sich vielsagende Blicke zu.
Während sie aßen, hörten sie Busse draußen auf dem Kasernenhof vorfahren, und Aksel sagte in bester Berg-Manier: „Ohne Mampf kein Kampf … Die in Søgård müssen eben noch ein bisschen durchhalten.“
Dann standen endlich alle vierhundert Mann in voller Ausrüstung draußen auf dem Kasernenhof und brannten darauf, nach Søgård zu kommen und endlich etwas auszurichten, einen Unterschied zu machen; ihren Kameraden zu Hilfe zu kommen und den Feind zurückzudrängen. Christian atmete tief durch. Für das hier war er ausgebildet, er war bereit.
Es war immer noch dunkel. Wie eine endlose Kette aus Schatten standen sie auf dem Hof, der von wenigen Lampen schwach beleuchtet wurde. Der Schotter knirschte unter ihren Stiefeln. Sechs Busse standen bereit, und sie warteten auf den Befehl zum Einsteigen. Die Anspannung war förmlich mit Händen zu greifen. Christian fühlte sich als Teil von etwas Größerem. Er versuchte sich einzureden, die Unruhe, die ihn ergriffen hatte, werde sich schon wieder verflüchtigen, sobald alle im Bus saßen.
Dann brüllte jemand „Luftangriff, Deckung suchen!“ Einen Augenblick lang glaubte er, sich verhört zu haben, aber dann wurde der Befehl noch einmal gerufen, und der Motorenlärm eines Flugzeugs war zu hören.
Christian schlug das Herz bis zum Hals, seine Hände wurden feucht. Sie hatten den Befehl während der Übungen unzählige Male erhalten, aber was tat man, wenn vierhundert Mann in ein und demselben Augenblick Deckung suchen sollten? Wenn sie mitten auf einem offenen Platz standen? Panik packte ihn. Sie konnten unmöglich alle entlang der Kasernenmauer in Deckung gehen, sie waren viel zu viele, und nur Wenige würden die Türen zu den Schutzräumen erreichen. Was sollte er tun?
Er war gefangen zwischen all den anderen, die wild durcheinander rannten auf der Suche nach der Deckung, die nicht zu finden war. Hörte das Flugzeug näher kommen. Sah die große Maschine, die wie ein gewaltiger, Unheil verkündender Drache am dunklen Himmel auftauchte und dicht über ihren Köpfen dahinglitt. Gleich würden die Bomben fallen, riesige glühende Kugeln, die mit großer Geschwindigkeit zur Erde fielen, so stellte er es sich jedenfalls vor. Sie würden die ganze Kaserne auslöschen.
Dann verschwand das Flugzeug, wurde zu einem dunklen Brummen über dem nachtschlafenden Sønderborg. Christian lauschte, wartete darauf, dass es zurückkam.
„Ein Aufklärer“, stellte sein Nebenmann fest und atmete erleichtert auf. Christian war zu dem selbem Schluss gekommen.
Die Lage hatte sich geändert. Der Marschbefehl wurde aufgehoben und sie erhielten die Order, zu bleiben und Als zu verteidigen. Dänische Truppen befanden sich auf der Hauptstraße auf dem Rückzug Richtung Norden und würden bald bei Åbenrå stehen.
Die einzelnen Züge bekamen weitere Befehle. Einer sollte zum Frydendal Kro vorrücken und dort Stellung beziehen, ein anderer die Brücke über den Alssund verteidigen. Christians Zug wurde auf den Sportplatz zwischen der Kaserne und dem Krankenhaus beordert. Auf dem Weg dorthin passierten sie einige schlaftrunkene Leute, die vom Lärm der Maschine geweckt worden waren und jetzt auf den Bürgersteigen standen, den Blick zum Himmel gewandt, und mit den Nachbarn sprachen. Auch in den Fenstern der Häuser waren Menschen zu sehen. Christian tauschte einen Blick mit Petersen aus und meinte, die gleiche Gereiztheit zu erkennen, die auch von ihm Besitz ergriffen hatte. Einen Sportplatz zu verteidigen stimmte ganz und gar nicht mit ihrer Vorstellung davon überein, für ihr Land zu kämpfen.
Der Sportplatz war eine große, ebene Wiese mit einem Fußballtor auf beiden Seiten, eine offene Fläche. Was sollen wir hier? fragte Christian sich. Er folgte seiner Gruppe, die an dem umlaufenden Zaun Stellung bezog. Die Gewehre im Anschlag, lagen sie auf dem Boden und rührten sich nicht. Allmählich ging die Sonne auf, und aus dem Grau der Dämmerung wurde heller Tag. Alles veränderte sich. Das Gras wurde grün, und Flugzeuge würden sehr viel früher zu sehen sein.
Christian konzentrierte sich, aber erst einmal geschah nichts. Dann hörten sie plötzlich wieder das Brummen von Rotoren, einen Moment später tauchte die Maschine auf und flog dicht über die Kaserne hinweg. Ihr Zugführer schrie: „Feuer!“
Sie mussten getroffen haben, es waren so viele Schüsse gefallen. Christian und seine Kameraden rissen die Augen auf, mussten aber