Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers. Pernille Juhl
Sie hatten ihre Mäntel übergezogen und die Terrasse in Beschlag genommen, die Frau Jakobsen ihnen angeboten hatte. Wenn sie hier saßen, konnte sie im Wohnzimmer Platz nehmen und bekam alles mit, was draußen vor sich ging. Christian mochte es dennoch, hier zu sitzen. Er ließ den Blick über die vielen Blumen im Garten schweifen, Winterlinge und Schneeglöckchen hatten bereits Gesellschaft von Gelben Narzissen und Tulpen bekommen, und bald würde alles in grünen Farben explodieren.
„Und? Wart ihr schon auf der Bank und habt alles abgehoben?“, fragte Aksel.
„Bei mir gibt es nichts abzuheben“, sagte Christian.
„Was man so hört, standen die Leute gestern vor der Sparkasse Schlange, um sich ihr Geld auszahlen zu lassen.“
„Wen wundert's?“, meinte Petersen.
Eine Weile saßen sie schweigend und rauchend im Halbdunkel und lauschten dem Rascheln eines Igels in der Hecke. Dann räusperte Petersen sich und sagte:
„Habt ihr die Geschichte von Dybøl Banke gehört, dem Hotel?“
Das hatten sie nicht.
„Ich bin mit Hans in eine Klasse gegangen, seinen Eltern gehört das Hotel. Er hat mir erzählt, ein deutscher Hauptmann sei mitsamt seiner Einheit im Hotel aufgetaucht und habe sofortige Unterbringung verlangt. Aber Hans' Vater hat ihn in seinem besten Deutsch darauf aufmerksam gemacht, sie seien unerwünscht. Ha ha! Was sagt ihr dazu? Unerwünscht!“
Sie lachten, und Christian bemerkte einen Schatten hinter der Gardine. Frau Jakobsen.
„Der Hauptmann wurde so wütend, dass er seine Pistole zog, aber dann besann er sich und begnügte sich damit, Hans' Vater jede Menge üble Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. Aber der Alte blieb stur und bestand sogar auf einer Entschuldigung. Und hat sie ein paar Tage später tatsächlich bekommen!“
„Das nenne ich mal Mut“, sagte Christian.
„Wenn die Regierung und der König einfach nur kuschen, müssen aufrechte Dänen die Sache eben selbst in die Hand nehmen“, meinte Aksel.
„Tja, wir tun ja nichts“, sagte Christian und seufzte.
Petersen senkte die Stimme: „Können wir als Nation damit leben, dass eine fremde Macht unser Land besetzt und wir uns nicht zur Wehr setzen?“ Diese Frage hatten sie schon des Öfteren diskutiert, aber jetzt stand sie erneut im Raum. Nicht zuletzt, weil sie einfach nicht begreifen konnten, wie es dazu hatte kommen können.
„Geht es nur mir so, dass ich fast einen Herzinfarkt bekomme, wenn ich sehe, wie überall in Sønderborg deutsche Soldaten herumlaufen, als würde ihnen die Stadt gehören? Ich könnte kotzen, wenn sie im Stechschritt durch die Straßen marschieren, die Leute anpöbeln oder ihre beschissenen Lieder singen.“ Christian spuckte aus, um seine Worte zu unterstreichen.
„Grashüpfer“, zischte Aksel. Den Spitznamen hatten die Deutschen ihren grünen Uniformen zu verdanken.
„Ich werde ganz krank, wenn ich ihre Kolonnen aus Lastwagen mit Geschützen hinten dran sehe.“ Christians Herz hämmerte. Er war selbst überrascht, wie aufgebracht er war. Wäre die ganze Angelegenheit nicht so ernst gewesen, hätte man darüber lachen können, wie sie mit ihren verkniffenen Mienen in die zunehmende Dunkelheit starrten.
„Bei kleinsten Vorfällen in den Straßen greifen sie sofort ein. Als wären sie die Polizei. Fressen den Leuten alles weg und führen sich auf wie Herrenmenschen. Sagen den Politikern und den Leuten, was sie dürfen und was sie nicht dürfen.“ Aksel hatte sich in Rage geredet, und seine Stimme war lauter und lauter geworden. „Habt ihr nicht auch manchmal Lust, euch den erstbesten Deutschen zu greifen, am Kragen zu packen, bis seine Füße in der Luft zappeln und ihm in seine hässliche Fratze zu schreien ,Mach, dass du nach Hause kommst, wir können dich und deinesgleichen hier nicht gebrauchen!??“
Christian musste lächeln. „Du sprichst mir aus der Seele.“
„Vielleicht müssen wir diese unausstehlichen, großmäuligen Deutschen im Moment einfach ertragen, wenn sie auf ihren Motorrädern und mit ihren Pistolen und Gewehren durch die Stadt patrouillieren, aber es wird die Zeit kommen ...“ Aksel ballte die Fäuste.
„Sie sind überall in Westeuropa auf dem Vormarsch, was sie nur noch unerträglicher macht“, sagte Petersen und zündete sich eine neue Zigarette an. „Aber wir können uns doch nicht einfach damit abfinden! Wir müssen kämpfen bis zu dem Tag, an dem die Deutschen raus sind aus unserem Land. Bis wir wieder frei sind!“ Die letzten Worte rief er aus, als stehe er an einem Rednerpult und spreche zu einer größeren Versammlung. Hinter ihrer Gardine hörte Frau Jakobsen alles, was sie sagten, aber das war ihnen in diesem Augenblick gleichgültig.
Aksel nickte sogar in Richtung des Fensters hinter ihnen, als wolle er sagen: ,Oder was meinen Sie dazu, Frau Jakobsen??, bevor er das Wort ergriff. „Wie Kedde ja neulich schon gesagt hat, könnten wir den Deutschen das Leben schwer machen … aus dem Untergrund heraus.“
„Das könnten wir, wenn wir uns nicht morgen voneinander verabschieden würden“, sagte Christian und bemühte sich, die Wehmut zu verbergen, die ihn bei dem Gedanken daran überkam. Schon bald würde er alleine in Kopenhagen sein und wieder von vorne anfangen müssen. Ob er Aksel und Petersen überhaupt wiedersehen würde? Er versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. Momentan würde er lieber in Südjütland bleiben und den Kampf aufnehmen.
„Hast du deine Entscheidung überdacht, Kedde? Du verlässt dein geliebtes Südjütland, und das in diesen Zeiten? Du verlässt uns?“ Petersen sah ihn mit aufgesetzt anklagendem Gesichtsausdruck an.
„Das kannst du mir ja wohl nicht verdenken. Ich brauche eine Luftveränderung. Ich muss hier weg, weg von diesen unerträglichen Heimatdeutschen. Die ist man in Kopenhagen immerhin los.“ Demonstrativ hob er das Kinn.
„Du könntest bleiben und versuchen, die Dinge zu verändern – anstatt einfach wegzulaufen“, hielt Petersen dagegen.
„Morgen ist es Zeit, Abschied zu nehmen“, sagte Christian und hob abwehrend die Hände. „Du weißt genau, dass es zu spät ist, daran etwas zu ändern – belassen wir es für heute dabei.“
Den letzten Abend verbrachten sie in dem alten, gemütlichen Wirtshaus Christian IV, das im Volksmund nur ’Kedde der Vierte’ genannt wurde. Die Gaststube war bereits gut besucht, und viele der Gäste kannten sie. Sie bestellten eine Runde Bier und setzten sich an einen freien Tisch.
„Zum Teufel, Kedde, man könnte dich glatt vermissen“, sagte Aksel mit beinahe feierlicher Stimme, bevor er das Glas hob und sie anstießen.
„Prost, Kedde, und viel Glück!“, schaltete Petersen sich ein. „Hätten wir dich nicht gefragt, ob du dich an unserem kleinen Studierzimmer beteiligen willst, hättest du es niemals geschafft.“
Sie lachten.
Als sie das erste Glas geleert hatten, gab Christian die zweite Runde aus.
„Pass bloß auf, bevor du dich umsiehst, bist du einer von diesen hochnäsigen Kopenhagenern geworden“, meinte Aksel und prostete ihnen zu.
„Ich verspreche, dass ich immer Südjüte bleiben werde, auch wenn sie mich einen Bauerntrampel nennen“, sagte Christian, und wieder lachten sie.
„In Kopenhagen wimmelt es nur so von Deutschen“, stellte Petersen mit einem so markanten Seufzen fest, dass sie ein Lachen nicht zurückhalten konnten.
„Wollt ihr eine Geschichte über unsere dreckige Besatzungsmacht hören?“, fragte Aksel. „Ich verspreche euch, dass ihr sie noch nicht kennt, sie ist nämlich ganz frisch.“
„Lass hören, ausnahmsweise glauben wir dir mal“, sagte Christian und blinzelte Petersen zu.
„Tut mir leid, aber es ist keine besonders gute Geschichte, man kann sich eigentlich nur darüber aufregen.“ Aksel hob entschuldigend die Hände.
„Das fängt ja gut an“, sagte Christian, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. „Wenn es wenigstens die