Gespräche mit dem Henker. Ein Buch nach Tatsachen über den SS-General Jürgen Stroop, den Henker des Warschauer Ghettos. Kazimierz Moczarski
Polen 1 Jahr, 9 Monate, 27 Tage. Davor saß ich bei den Alliierten in Westdeutschland.«
Er zählt noch die Tage, malt wahrscheinlich Striche an die Zellenwand und hofft, später einmal seinen Enkeln vom polnischen Gefängnis erzählen zu können – denke ich.
Der andere, der mich etwas beunruhigt, ist hochgewachsen und wirkt auf den ersten Blick breitschultrig. Er steht mit dem Rücken zum Licht und verdeckt einen Teil des Fensters. Es ist schwierig, ihn zu beobachten. Ich kenne diese Methoden. Typischer Untersuchungsgefangenen-Komplex, aber er verhält sich richtig, stelle ich fest.
»Stroop«, stellt er sich endlich vor. »Mein Name ist Stroop, mit zwei ›oo‹. Vorname: Jürgen. Ich bin Generalleutnant oder divisiongénéral ... Enchanté, monsieur.« Er ist erregt, seine Ohren sind gerötet. Ich bin es wohl auch. Das Erscheinen eines unbekannten Häftlings und eine fremde Zelle können schon aufregend sein.
Kaum hatte ich meinen Namen genannt, als ein Kessel mit dem Mittagessen hineingeschoben wird. Essengeruch breitet sich aus. Die Kalfaktoren2, ebenfalls Deutsche, geben meinen Zellengenossen durch Zeichen zu verstehen, dass ich kein Spitzel bin. Sie kennen mich längst aus verschiedenen Begegnungen hier in Mokotów.
Stroop bekommt immer eine doppelte Portion zugeteilt. Er isst systematisch, mit Appetit. Das Essen verläuft schweigend. Ich bemühe mich, ganz entspannt zu kauen, um meine neuen Zellennachbarn nicht merken zu lassen, wie aufgewühlt ich bin.
Das also ist Stroop, der Vertraute Himmlers, SS- und Polizeiführer, Vorgänger des von uns hingerichteten Kutschera3, der Mann, der das Warschauer Ghetto liquidieren ließ? Er sitzt neben mir und verzehrt sein Mittagessen. Stroop ist etwa Mitte fünfzig. Auffallend sorgfältig gekleidet. Dunkelrote Windjacke, weißes Halstuch, kunstvoll unterm Kinn geknotet. Helle Hose. Dunkelbraune, leicht abgetragene, aber auf Hochglanz polierte Schuhe.
Schielke schaufelt das Essen in sich hinein. Er ist rasch fertig, summt vor sich hin: »In Hannover an der Leine haben Mädchen dicke Beine« und fragt wie nebenbei: »Sitzen Sie schon lange?« Ich antworte. Daraufhin schlägt er vor, mein Essgeschirr zu spülen. Ich muss sein Anerbieten ablehnen, denn diesen Gefallen nimmt man nur der Not gehorchend oder aus Freundschaft an. Stroop aß immer noch. Schließlich reichte er Schielke zwei Schüsseln zum Abwaschen. Dann lockerte er seine Hose und schloss sie mit einem Reserveknopf, den er sich »für alle Fälle«, je nach Bauchumfang, angenäht hatte.
Schielke säubert das Geschirr. Stroop sitzt, auf die Ellenbogen gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben, am Fenstertisch. Zwischen den Fingern ragt seine fleischige Nase hervor. Die Haltung eines schmerzgebeugten Weisen.
Seine Denkerpose begann mich zu interessieren. Sie passte zu den Fotos und dem »Altar«, den sich Stroop auf dem Tischchen aufgebaut hat. Neben der Bibel lagen ein Päckchen Briefe aus der Bundesrepublik, einige Bücher, ein Heft, Bleistifte. Was mich am meisten verblüffte, war ein dreiteiliger Fotorahmen mit Aufnahmen von Stroops Familienangehörigen. Unter jedem Bild stand sorgfältig in gotischer Schrift: »unsere Mutter«, »unsere Tochter«, »unser Sohn« und »meine Frau«. In den Ecken des »Altars« kleine Andenken: die zarte Feder einer Blauracke und ein kleines, vertrocknetes Birkenblatt.
Stroops Nachdenklichkeit wirkt melancholisch, und ich frage ihn, worüber er sinniert. Ich nahm an, er würde antworten: »Das ist meine Privatangelegenheit«, was bedeutet hätte, dass er an seine Familie denkt und nicht gestört werden will. Aber Stroop entgegnete: »Ich habe vergessen, wie ein kleiner Vogel auf Polnisch heißt, mit dessen Namen man bei euch junge Frauen bezeichnet. Irgendwas mit schi ... schi ... schibka oder so ähnlich.«
»Wo haben Sie dieses Wort gehört?«
»Während eines Rundgangs, als Häftlinge aus den allgemeinen Untersuchungszellen eine weibliche Gefangene mit einem tollen Busen ansprachen, die in der Wäscherei arbeitet. Ich kann mir dieses Wort nicht merken, obwohl ich es jeden Tag wiederhole. Es klingt wie ›schibka, schtschirka‹ ...«
»Vielleicht riefen sie ›ścierka‹? Das ist aber kein Vogel.«
»Es war ganz sicher ein Vogel. Und bestimmt nicht ›schtscherka‹.«
»Da Sie auf einem Vogel bestehen, war es vielleicht ›sikorka‹?«
»Ja«, strahlte er auf, »schykorka, schykorka, die Meise. Dieses junge Ding aus der Wäscherei verdrehte den Hals wie eine Meise.«
»Wenn der General sich gestärkt hat«, röhrte Gustav Schielke, »wird er ganz geil nach so jungen Dingern. Die Zeiten sind vorbei, Herr General! Und außerdem, solange ich lebe, habe ich noch keine Meise mit Brüsten gesehen.«
Der General maß Schielke mit einem strengen Blick. Zum ersten Mal sah ich Stahl in den Augen Stroops aufblitzen.
In der Zelle befand sich ein einziges Bett, das tagsüber hochgeklappt und an der Wand festgemacht wurde (im Gefängnisjargon »Liegematte« genannt). Bisher hatte Stroop darauf geschlafen, während Schielke seinen Strohsack auf dem Boden ausbreitete. Gegen Abend mussten wir eine neue Schlafordnung aufstellen. Stroop wandte sich an mich: »Ich lege mich auf den Boden. Das Bett steht Ihnen zu, da Sie Angehöriger des hier herrschenden, also siegreichen Herrenvolkes sind.« Ich erstarrte. Stroop spielte keine Komödie, das war weder Höflichkeit noch Pose. Er hatte einfach seine Ansicht über die Art zwischenmenschlicher Beziehungen kundgetan. Die ihm seit Kindesbeinen eingetrichterten Eigenschaften, Anbetung der Macht und Unterwürfigkeit – das unvermeidliche Produkt blinden Gehorsams waren zum Vorschein gekommen.
Schielke pflichtete Stroop bei. Ich begründete meine Ablehnung mit der banalen Feststellung, dass während ihres Häftlingsdaseins alle Gefangenen gleich seien. Und bis zum letzten Tag meines Zellendaseins mit Stroop und Schielke schliefen wir alle drei auf dem Boden.
Kurz nach dem Meisen-Zusammenstoß mit Schielke bot mir Stroop an, seine Bücher durchzublättern. Er hatte mindestens 180 in der Zelle, die meisten aus der Gefängnisbibliothek. Alle in deutscher Sprache. Es waren wissenschaftliche Abhandlungen darunter, historische, geografische, ökonomische Werke, Schulbücher, Romane, Broschüren und sogar Propagandaschriften der NSDAP. Gierig griff ich nach allen Büchern – ein normaler Vorgang in einem Gefängnis. Anfangs blätterte ich die Texte, Abbildungen und Landkarten nur durch. Später las ich mich fest. Wir begannen zu diskutieren. Ich fraß Informationen über Deutschland in mich hinein und Kommentare der beiden Nazis zu verschiedenen, für einen Polen unverständlichen Vorgängen. Dabei vertiefte ich meine deutschen Sprachkenntnisse, lauschte den Berichten, Analysen und Meinungen und – was unvermeidlich war – mitunter auch persönlichsten Bekenntnissen.
Ich verfolgte aufmerksam die Erzählungen über deutsche Städte und Dörfer, über Berge, Täler und Wälder und erfuhr mehr über das Leben in den Städten und in einzelnen Familien. Ich nahm den Geruch der Küchen und Korridore wahr, der Esszimmer und Salons, der Kneipen und Gärten, der Feldschlachten und des Heimwehs. Ich, der ehemalige Soldat der polnischen Landesarmee4,5, begleitete Schritt für Schritt das Leben des Nationalsozialisten Stroop, folgte ihm und war gleichzeitig sein Gegner und sein Feind.
Jürgen Stroop. Freiwilliger im Ersten Weltkrieg. Ehemaliger Angehöriger des Preußisch-Detmold’schen Infanterie-Regiments. Mitbegründer der NSDAP im früheren Fürstentum Lippe. Im Gebrüll der Hitler umjubelnden Massen marschierte er durch die Straßen Nürnbergs. Mit tatkräftiger Unterstützung der SS klettert er, trotz einer mittelmäßigen Ausbildung, die Ämterleiter hinauf. Er ist in Münster und Hamburg tätig, regiert mit harter Faust, brutal und oft mörderisch – in der Tschechoslowakei, in Polen, in der Ukraine und im Kaukasus, in Griechenland, im westlichen Deutschland, in Frankreich und in Luxemburg. Er liebt seine Gattin und auch andere Frauen, aber nur seine eigenen Kinder, spricht mit Politikern des Dritten Reiches, mit Himmler und den Spitzen der SS. Seine Autos heißen »Horch« und »Maybach«. Er reitet über die Felder des Teutoburger Waldes und der Ukraine, trägt ein Monokel und sonnt sich in der Würde eines Nazi-Generals. Und nie wird er von Hitler oder Himmler anders sprechen als von »Adolf Hitler« und »Heinrich Himmler«; immer nennt er ihre Vornamen, womit er seine Treue und Ergebenheit gegenüber diesen »großen deutschen Gestalten des zwanzigsten Jahrhunderts« zum Ausdruck