Kupidos Chronik. Andre Brink
unter den vielen Toten. Sie sollte ihm etwas Zeit lassen. Er fände bestimmt bald wieder zu seiner alten Selbstsicherheit zurück.
In Ordnung, verspricht sie und wendet sich wieder, etwas mitleidsvoller nun, dem Teig zu. Sie sei bereit, alles hinzunehmen. Und sie wolle ihm aus tiefstem Herzen danken.
Es sei ihm ein reines Vergnügen gewesen, versichert Servaas Ziervogel.
10. Unterwegs
Ein, zwei Monate lang ging es mit diesen nächtlichen Besuchen so weiter. Möglicherweise auch drei oder vier, man weiß es nicht so genau. Zu jener Zeit war das nicht wichtig. Erst als klar wurde, dass die Nooi immer stärker zunahm – ein Wunder, wenn es denn je eines gegeben hat, war doch ihr Mann schon so lange tot und in der Steppe begraben –, wurde es für Servaas Ziervogel Zeit, seine Wagen wieder zu beladen und sich nach Gott weiß wohin auf den Weg zu machen.
Von dem Augenblick an, als Kupido Wind davon bekam, dass der Geschichten-Mann sich zur Weiterfahrt anschickte, lag er mit sich selber im Krieg. Er brannte darauf, auch wegzugehen, doch gleichzeitig wollte er bleiben. Angenommen, er ginge weg, und seine Mutter käme so leise, wie sie gegangen war, zurück? Was sollte dann aus ihr werden? Andererseits hatte sie ihm vom Tag seiner Geburt an erzählt, dass er eines Tages die Welt durchstreifen werde – warum sollte er seine eigentliche Natur verleugnen?
Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe herauszubekommen, was Heitsi-Eibib mit ihm vorhatte. Das wäre wirklich hilfreich gewesen. Doch seit jenem verwünschten Tag, als er den Namen des Jägers unnütz in den Mund genommen hatte, lebte er in Ungewissheit. Außerdem machte es ihm Sorgen, wie der große, hagere Neuankömmling auf der Farm ihm mit seinen Geschichten allmählich den Kopf verdrehte. Er war sich nicht mehr ganz sicher, was es mit Heitsi-Eibib auf sich hatte. Auch nicht, was Tsui-Goab und Gaunab anging. Allmählich sah es ganz so aus, als gäbe es weit mehr auf dieser Welt, als er bislang gedacht hatte. Schon allein bei dem Gedanken wurde es ihm eng ums Herz. Zugleich verspürte er aber eine Art Hunger in sich, die Art von Hunger, die einen Mann plagt, wenn er eine Frau braucht, einen Hunger nach zartem Himmelsfleisch, von dem er noch nie zuvor gekostet hat. Doch was würde aus seiner Mutter, was würde aus seiner Mutter?
Eines Morgens dann – gerade hat er gesehen, wie der Geschichten-Mann mit reichlich staksigen Schritten aus der schmalen Tür des Hauses getreten ist, so, als versuche er, irgendeinem unsichtbaren Hindernis auszuweichen – wendet Kupido sich ab, damit der Mann nicht merkt, was er da anstarrt. Hier stehen sie, die beiden himmelhoch beladenen Wagen, und im vorderen Teil des Wagens, der ihm am nächsten steht, die kleine Ansammlung von schwarz verhüllten Dingern, all die Wiederholungen des Mannes mit den Vielgesichtern, und zwischen ihnen, auf dem Sitz, genau in der Mitte, hockt, hoch auf den Hinterbeinen sich aufrichtend, die Vorderbeine in frommer Andacht gekreuzt und von so leuchtendem Grün, dass es einen schier blendet, eine Gottesanbeterin.
Das ist das Zeichen, das er sich erhofft hat.
Er wendet sich wieder dem Haus zu, kehrt dem Wagen den Rücken, und wartet, bis der Skelettmensch näher kommt.
»Ich komme mit Ihnen, Baas«, verkündet er. Ohne eine Spur von Aufdringlichkeit. Nichts als eine einfache Feststellung.
»Was redest du denn da, Kupido?«
»Wenn der Baas geht, gehe ich mit.«
»Was macht dich denn glauben, dass ich abreise?«
»Ich habe Sie beobachtet.«
»Selbst wenn es so wäre, und ich sage nicht, dass es so ist, ich habe schon Gehilfen, meine Ochsenführer. Warum sollte ich ein zusätzliches hungriges Maul stopfen?«
»Ich habe zwei geschickte Hände, Baas.«
»Und?«
»Es ist wichtig für mich, dass Sie mich mitnehmen. Ich glaube aber, dass auch ich für den Baas wichtig bin.«
»Bei was?«
»Ich kenne dieses Land wie meine Fußsohle, Baas. Überall lauern Gefahren, und wenn Sie nicht wissen, wohin Sie Ihren Fuß setzen sollen, ohne auf einen Schatten zu treten, kann es Sie das Leben kosten.«
Mijnheer Ziervogel ist geneigt, ihm zu glauben. Und er hat keineswegs den Wunsch, noch viel länger zu säumen. Im Verlauf der letzten paar Wochen hat der Leibesumfang der Farmersfrau beängstigend zugenommen.
Noch ehe der Tag sich neigt, teilt er ihr mit, ihm sei von Oben die Aufforderung zuteilgeworden, erneut ins Hinterland weiterzuziehen. Auch andere Leute bedürfen seiner Dienste: gerettete Seelen, die eine Bestätigung brauchen, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen haben, und die nicht geretteten, die nach Erlösung dürsten. Außerdem habe ihr verstorbener Ehemann, so erklärt er ihr, Verbindung mit ihm aufgenommen und ihn gedrängt, anderswo seine Tätigkeit im Dienst des Herrn fortzuführen.
Ob das heißen solle, fragt sie leise, dass er nie wieder ...? Er kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Furcht oder Erleichterung in ihrer Stimme mitschwingt.
Nicht ihr Ehemann, nein, bestätigt er. Aber wer weiß, vielleicht ein anderer ...? Wenn ihr Kind fällig ist, solle sie eine Reise mit ihrem eigenen Wagen in Betracht ziehen, schlägt er vor, vielleicht hinunter zum Kap. Er habe das Gefühl, Gott warte nur darauf, für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Eine Frau, die so hübsch sei wie sie, werde nie auf sich allein gestellt bleiben.
In dem Fall, verkündet sie, solle Gottes Wille geschehen. Sie habe nun ja genügend Zeit, über ihre Lage nachzudenken. Vielleicht sei es letztlich gar nicht so schlecht, ihr Bett wieder für sich allein zu haben.
Fast bringt ihn das dazu, seine Meinung zu ändern. Doch es gibt, sozusagen, eine Zeit fürs Kommen und eine Zeit fürs Gehen.
Noch vor Ende der Woche (in der Entlegenheit des Koup ist sich ohnehin niemand je sicher, welcher Wochentag gerade ist) will er aufbrechen und Kupido mitnehmen. Seine anderen Bediensteten sind nicht allzu erfreut über diese Aussicht, aber sie wagen es nicht, aufzubegehren.
Doch zuerst müssen die Wagen für die Reise hergerichtet werden. Wo nötig, neue Felgen, eine neue Nabe; etliche Speichen müssen ersetzt, beide Zugstangen repariert werden; neue Joche und Halfter, ein neuer Deckel für eine der Kisten. Kupido wird in die Vorberge geschickt, um im Dickicht Holz zu schlagen. Anschließend macht er sich mit Säge, Hammer und Meißel (selbst das neue Jagdmesser erweist sich als nützlich) an die Arbeit, bis jedes Scharnier vollkommen sitzt, jeder Dorn in seine Nut passt. Es ist eine wahre Freude, das anzusehen. So gut wie neu. Schließlich ist alles bereit.
Nachdem Servaas Ziervogel eine Auswahl an Geschenken getroffen hat, die er der Witwe übergeben möchte (ein Fässchen Arrak, Chintz und Leinen, eine Perlenschnur aus dem Neuen Jerusalem, Spielzeug und Naschwerk für die Kinder, Zucker und Kaffee sowie einen der nach wie vor liebevoll in Schwarz gehüllten Handspiegel), weist er Kupido an, alle restlichen Spiegel noch einmal gründlich zu polieren. Der starrt erneut voll heiliger Scheu den Vielgesichter-Mann an, erleichtert, aber auch beunruhigt, als ihm klar wird, dass diese auf dem Treck dabei sein werden. Und eines Tages versammelt sich, lange vor Tagesanbruch, die ganze Farm, um sich von ihnen zu verabschieden: die rundliche Nooi und ihre gaffenden Kinder, die Arbeiter mitsamt ihren Sprösslingen, sogar die Ziegen und Schafe, die fünf Kühe und ihr Stier, die Hühner und die Moschusenten, die drei Truthähne, die Schweine und ein kleiner Springbock, den sie selber aufgezogen haben.
Und so fahren sie los, ein Auftakt – wiewohl dies Kupido lange Zeit nicht klarwerden sollte – zu weiteren Wendepunkten in seinem Leben. Es wird nicht seine einzige Fahrt in das weite Landesinnere bleiben.
Die Reise bringt ihn in der Tat sehr weit weg von der Farm, auf der er das Licht der Welt erblickt hat: den ganzen Weg vom Koup bis in die Gegend jenseits Graaff-Reinet.
Mit etwas Raten und Wunschdenken könnte man eigentlich auch heute noch versuchen, auf einer Landkarte ihre Route von einem Ausspannen der Ochsen bis zum nächsten Halt nachzuzeichnen, doch ab einem gewissen Punkt könnte die Reise ohne weiteres alle vertrauten Marksteine hinter sich lassen und in eine Wildnis jenseits aller Namen fuhren. Einen geraden Verlauf nimmt sie jedenfalls nicht, diese Reise. Als Kupido eines Abends zu fragen wagt, wohin sie am nächsten